Nationalismus als ewig junges Thema der Geschichtsschreibung
Wer sich mit dem Thema "Nationalismus" beschäftigt, steht rasch vor einem Dickicht höchst komplizierter Fragen: Wie bilden sich Nationen, wie gehen sie mit Minderheiten um, was für eine Staatsform geben sie sich, welches Selbstverständnis entwickeln sie? Und warum sind Kultur und soziale Organisation scheinbar universell und unvergänglich, Staaten und Nationen dagegen nicht, wie der Altmeister der Nationalismusforschung, Ernest Gellner, einst meinte?
Fragen über Fragen. Es wäre zuviel verlangt, wenn ein Autor darauf alle Antworten geben könnte. Dem Karlsruher Historiker Rolf Ulrich Kunze gelingt es in seinem neuen Band allerdings, einige Schneisen in diesen Wald zu schlagen. Mit analytischer Klarheit und dem Mut zu kompakten Systematisierungen gibt der Geschäftsführer der "Forschungsstelle Widerstand gegen den Nationalsozialismus im deutschen Südwesten" an der Universität Karlsruhe eine komprimierte Einführung in die Materie.
Das Buch ist in der neuen Reihe "Kontroversen in der Geschichte" erschienen, mit der die Wissenschaftliche Buchgesellschaft wohl die Dominanz der 76-bändigen "Enzyklopädie Deutscher Geschichte" des Oldenbourg Verlags herausfordern will. Ob dies gelingt, wird sich zeigen. Die Konzeption der Reihe lehnt sich offenkundig an die amerikanischen College-Reader an, die einen profunden, aber didaktisierten Überblick über die jeweilige Materie geben und Studierende auf Vorlesung und Examen vorbereiten.
Kunzes Nationalismus-Einführung braucht keinen Vergleich zu scheuen, ist allerdings in zweierlei Hinsicht sehr "deutsch" geraten: Erstens fehlen im Vergleich zum US-Vorbild, abgesehen von einem längeren Abschnitt zur niederländischen Geschichte, Fallbeispiele, die die theoretische Darstellungen illustrieren. Zweitens gibt es praktisch keine längeren Originaltexte. Dies dürfte vermutlich weniger Kunze als der Reihenkonzeption anzulasten sein.
Inhaltlich stützt sich Kunze auf die mittlerweile klassische konstruktivistische These des amerikanischen Historikers Bendict Anderson, wenn er gleich zu Beginn schreibt: "Nation, Nationalstaat, Nationalismus sind keineswegs Begriffe, die sich von selbst verstehen. Sie sind weder Schöpfungsordnungen noch uralt, sondern vielmehr konstruriert: Konzepte einer bestimmten sozialen Trägerschicht einer spezifischen Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit, teils Ergebnisse, teils Voraussetzungen sozioökonomischen und soziokulturellen Wandels."
Schon der französische Religionswissenschaftler Ernest Renan sprach in seinem wegweisenden Vortrag von 1882 "Was ist eine Nation?" davon, dass Nationen durch Willensentscheidungen entstünden; er nannte sie ein "Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt". Die Nation sei vor allem eine Solidargemeinschaft, die sich durch geleistete und zukünftige Opfer zusammenschliesse, was stets eine selektive Wahrnehmung der Geschichte mit sich bringe. Rasse, Sprache, Geographie waren deshalb für Renan kein einheitsstiftendes Nationalprinzip.
Renans Thesen aufnehmend, arbeitet Kunze heraus, dass es sich beim Nationalismus zunächst um ein Phänomen der atlantisch-europäischen Moderne handelt, das stets kontextorientiert und anfangs stets von kleinen Bildungseliten geformt worden sei. Über "Multiplikationsagenturen" wie Kanzel und Katheder würden die Ideen unters Volk gebracht, entstünden nationalistische Massenbewegungen. Im Zuge der weiteren Entwicklung kann der Nationalismus allerdings seine Funktion verändern: Oft tritt er zunächst als Befreiungsbewegung auf, die politisch den Nationalstaat, ökonomisch den eigenen Markt und kulturell die Durchsetzung der eigenen Sprache fordere.
Kommen jedoch verschiedene, beängstigende Modernisierungsphänomene zusammen, verliere der Nationalismus seine progressive Integrationskraft und werde zu einer Abwehrhaltung und Ausgrenzungsideologie. Dieser Funktionswechsel des Nationalismus hat gerade im Blick auf die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert Bedeutung.
Für die weitere Erforschung der Nationalismus-Problematik erwartet Kunze - besonders mit Blick auf Osteuropa nach 1989 - eine stärkere Verschränkung von sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen. Er warnt davor, mitteleuropäische Definitionen leichthin auf die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes zu übertragen. Die Nationalismusforschung bleibt also ein politisch wie wissenschaftlich spannendes Feld. Sie braucht allerdings Forscher, die sich einen analytischen Blick bewahren und sich nicht als politische Legitimierungsagenten von Nationalismus missbrauchen lassen, denn dies war, wie Kunze zeigt, oft eine Gefahr, in die Nationalismusforscher - nicht selten sogar bereitwillig - gerieten.
Rolf Ulrich Kunze
Nation und Nationalismus.
Kontroversen um die Geschichte.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005; 126 S., 16,90 Euro