Interview mit Generalleutnant Holger Kammerhoff
Das Parlament: Ein Teil der Arbeit eines Soldaten im Auslandseinsatz dient dem so genannten Nation-Building eines zu befriedenden Landes. Das Einsatzvorbereitungsprogramm für die Soldaten berücksichtigt diesen Punkt gar nicht. Sind Soldaten Naturtalente in Nation-Building?
Kammerhoff: Solche Schlagworte übernehmen wir nicht, weil sie nicht spezifisch militärisch sind. Wenn wir von Nation-Building reden, dann sprechen wir von einem sehr komplexen Ansatz, den ich gerne erweitern möchte auf Nation- und Peace-Building. Sie müssen einander bedingen, denn wären Sicherheit und Stabilität vorhanden, bräuchten wir kein Militär. Staatliche und nichtstaatliche beziehungsweise zivile Organisationen wären in diesem Fall geeigneter. Anders herum gesagt: Wo keine Sicherheit vorhanden ist, können Sie weder politische, wirtschaftliche, noch soziale Bedürfnisse befriedigen. Dies sehen wir auf dem Balkan genaus wie in Afghanistan.
Das Parlament: Ist für den Prozess des Nation- und Peace-Building der einleitende Militärschlag zwingend erforderlich?
Kammerhoff: Wir müssen unterscheiden zwischen Frieden erzwingenden oder Frieden sichernden Maßnahmen. Frieden sichernde Maßnahmen setzen immer das Einverständnis der beteiligten Parteien voraus. Denn sie dienen in der Regel der Absicherung eines Friedensabkommens oder anderer Vereinbarungen, legitimiert durch ein UN-Mandat. Für die Friedenserzwingung ist das Einverständnis der beteiligten Parteien nicht zwingend erforderlich. In diesem Fall müssen militärische Kräfte auf der Grundlage eines Mandats einen raschen Erfolg gegen einen militärischen Gegner oder andere organisiert militärische Kräfte herbeiführen, damit in einem weiteren Ansatz Peace- und Nation-Building erfolgen kann.
Das Parlament: Welche Kriterien sind für Sie maßgeblich für den Prozess des Nation-Building?
Kammerhoff: Ein Mandat der Vereinten Nationen muss vorliegen und ein abgestimmter zivil-militärischer Ansatz. Die Länder müssen bereit sein, dieses Konzept mitzutragen - mit Ressourcen, Personal und Material. Die erzielten Fortschritte des Mandats müssen regelmäßig überprüft werden, ob sie sich wohlmöglich verselbständigen und ob sie das jeweilige Ziel verfolgen. Irgendwann sollen zivile Einrichtungen den Wiederaufbau übernehmen und dabei lokale Arbeitskräfte einbinden. Das Ziel muss sein, nur so viel Militär wie nötig und so viel zivile Unterstützungsleistung wie möglich einzusetzen. Im Sicherheitssektor etwa soll die im Aufbau befindliche Polizei oder Armee Aufgaben übernehmen, die anfangs das internationale Militär ausgeführt hat. Diese Entwicklung verläuft parallel, im Laufe der Zeit kann dann die Zahl der Soldaten reduziert werden.
Das Parlament: Worin bestehen die Anfangsschwierigkeiten beim Nation-Building?
Kammerhoff: Nation-Building ist immer dann ein Problem, wenn Militär zwischen den Parteien steht. Nehmen Sie den Balkan, wo wir verschiedene Ethnien haben, die zusammengeführt werden müssen und wo es darum geht, Flüchtlinge zurückzuführen. Hier zeigt sich doch immer wieder, dass man Frieden nicht gegen den Willen der Bevölkerung erzwingen kann. Man kann auch nicht per Befehl oder militärischer Gewalt erzwingen, dass der Hass auf eine andere Ethnie beendet wird und somit Maßnahmen der Rücksiedelung störungsfrei erfolgen können.
Das Parlament: Ist Nation-Building ein Akt der politischen Entmündigung der Einheimischen?
Kammerhoff: Ganz und gar nicht. Sie ist ein Versuch, die Lösung in einer Krisenregion dergestalt in den Griff zu kriegen, dass man sowohl mit der Knappheit an finanziellen und personellen Ressourcen fertig wird als auch mit den Wiederaufbaubedürfnissen in einer Region in einem integriert zivil-militärischen Vorgehen. Dieses ist keine politische Entmündigung. Ganz im Gegenteil. Die verantwortlichen örtlichen Politiker werden in einem Demokratisierungsprozess in die Lage versetzt, ihre Ziele zu verwirklichen. Bestes Beispiel hierfür ist Afghanistan, wo letzten Oktober erstmalig Wahlen stattgefunden haben und sich 10,5 Millionen Wähler registrieren lassen konnten. Heute stehen wir erneut vor Wahlen [Parlamentswahlen am 18. September] und haben die Zuversicht, dass auch diese ein Erfolg werden. Dafür wird die internationale Militärpräsenz und das afghanische Militär zusammen mit der Polizei ein sicheres Umfeld schaffen.
Das Parlament: Inwiefern wird der Soldat im Alltag am Prozess des Nation- und Peace-Building beteiligt?
Kammerhoff: Jeder Militäreinsatz ist das Ergebnis einer Vereinbarung, die zum Wiederaufbau demokratischer, sozialer, wirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Strukturen beitragen soll. Dabei ist der Soldat auch Ansprechpartner für die Bevölkerung die lokalen Hauptquartiere und die Gouverneure beziehungsweise Bürgermeister.
Das Parlament: Oder er zeigt Präsenz zum Beispiel bei Patrouillefahrten...
Kammerhoff: Ja. Jeder Soldat ist sozusagen immer auch Botschafter seines Landes. Er vertritt beispielsweise den Rechtsstaat Deutschland, er vertritt Demokratie, er setzt sich dafür ein, dass Minderheitenrechte beachtet werden. Darüber hinaus sind es vorwiegend Vorgesetzte, die in der Öffentlichkeit in Verhandlungen oder Gesprächen auftreten an Konferenzen teilnehmen, die Koordinierung und Abstimmung von lokalen Vorhaben wahrnehmen sowie die Durchsetzung überwachen. In der Abstimmung oder auch in der Durchsetzung entsprechender Vorhaben, sowie in der Erfüllung der Wünsche, die die lokale Seite vorbringt.
Das Parlament: Muss der einzelne Soldat ein großes Rechtsverständnis mitbringen?
Kammerhoff: Das gehört mit zur Vorbereitung auf den Einsatz. Die sieht so aus: Neben einer Basisausbildung in individuellen Grundfertigkeiten gehören eine Sanitätsausbildung und eine Einsatz bezogene Gefechtsausbildung dazu. Es schließt sich eine Aufbauausbildung an, in der die erworbenen Kenntnisse vertieft werden. Anhand der "Rules of Engagement", die auf das jeweilige Einsatzgebiet ausgerichtet werden, gewinnt der Soldat Verhaltenssicherheit. In einer Zusatzausbildung wird er dann auf den speziellen Einsatz vorbereitet.
Das Parlament: Der Soldat ist heute nicht mehr ausschließlich der kämpfende Krieger, sondern hat neue Aufgaben zu erfüllen. Wie würden Sie den Wandel skizzieren?
Kammerhoff: Wir mussten uns von der alten Bundeswehr verabschieden, die nur auf die Landesverteidigung an der innerdeutschen Grenze ausgerichtet war. Wir mussten lernen, dass es nicht nur um Verlegung der Kräfte an den Einsatzort geht, sondern dass Durchhaltefähigkeit erforderlich ist. In erster Linie gehen die Soldaten ja in die Krisengebiete, weil es dort gefährlich ist und weil sie als Kämpfer ausgebildet worden sind und dort gebraucht werden. Also zunächst Aufgaben wahrnehmen, die andere noch nicht leisten können. Im Laufe der Zeit kommt der zweite, neue Aspekt hinzu, der Nation- und Peace-Building. Dies kann auch parallel verlaufen, aber wir können auch immer wieder zum ersten Schritt zurückfallen. Ich erinnere an die Kosovo-Unruhen im vergangenen Jahr.
Das Parlament: Bleiben wir bei den blutigen Unruhen im Kosovo zwischen Kosovo-Albanern und Serben im vergangenen Jahr. Hat der Mob den Nation-Building-Prozess wieder zurückgeworfen?
Kammerhoff: Zu dem Zeitpunkt hatten wir im Kosovo bereits NATO-Kräfte abgebaut. Die Unruhen zwangen uns dann, sie wieder in Felder und Enklaven zu schicken, in denen die Polizei eigentlich schon Sicherheitsaufgaben übernommen hatte. Aus Sicht der Serben ist die Nation-Building wohl gestört worden, aus Sicht der Kosovo-Albaner, die einen Anteil von 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen, nicht. Man hat nur festgestellt, es war ein Rückschlag für die Wünsche der Kosovo-Albaner. Allerdings setze ich da heute ein Fragezeichen. Denn lange Zeit hat sich für sie und ihre Autonomiebestrebungen wenig gerührt. Vielleicht haben sie durch die Unruhen doch das Ganze in Bewegung gesetzt. Heute stehen wir ja kurz vor der Vorstellung eines Berichts, den der Sonderbotschafter der Vereinten Nationen herausgeben wird. Dieser wird dann Antworten geben.
Das Parlament: Es geht um die Klärung der Statusfrage in der ehemaligen jugoslawischen Provinz...
Kammerhoff: Ja. Die politisch Verantwortlichen kamen nach den Unruhen zur Erkenntnis: So etwas schadet uns. Bleibt zu hoffen, egal wie der Bericht des Sonderbotschafters ausfallen wird, dass diese Einsicht Bestand hat.
Das Parlament: Die Bundeswehr muss sich in einem Interessengeflecht aus NATO, UNO und EU bewegen. Die Konsensfindung ist langwierig. Haben Sie gelernt, in anderen zeitlichen Dimensionen zu denken?
Kammerhoff: Unser Auftrag leitet sich aus dem Mandat ab. Unsere Beobachtung ist, für Nation- und Peace-Building brauchen wir einen langen Atem und viel Geduld. Es bedarf sicherlich einer Generation, die einmal unter diesen demokratisch-rechtstaatlichen, prosperierenden wirtschaftlichen Verhältnissen gelebt hat, ehe wir von einem erfolgreichen Wiederaufbau sprechen können.
Das Parlament: Herr General, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Almut Lüder