Eine Innenansicht der Wiedervereinigung
Ddie Lektüre dieses Buches ruft in Erinnerung, wie wenig die deutsche Wiedervereinigung weder außen- noch innenpolitisch von vornherein gesichert war und wie sehr Entscheidungen unter Zeitdruck und aus Furcht, eine historische Chance zu verpassen, gefällt werden mussten. Der Autor, Claus J. Duisberg, war als Leiter des Arbeitsstabes Deutschlandpolitik im Bundeskanzleramt an den innerdeutschen Verhandlungen und an vielen internen Gesprächen beteiligt. Ab Oktober 1990 war er Leiter der Dienststelle des Auswärtigen Amtes, dann auch Beauftragter der Bundesregierung für den Aufenthalt und Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland.
In seinem Vorwort spricht Duisberg zwar bescheiden von lediglich persönlichen Eindrücken und Erinnerungen, doch ist sein Buch durchaus mehr. In 15 chronologisch geordneten Kapiteln entfaltet sich der Lauf einer unvorhersehbaren Entwicklung, deren Dynamik stetig zunahm: Vom Vorabend der Krise im Sommer 1989, den Prager Botschaftsflüchtlingen, über die immer stärker um sich greifende Ausreisewelle bis zu den Demonstrationszügen im Herbst und den in der Folge aufkommenden Forderungen nach einer Wiedervereinigung beider deutscher Staaten. Die Innenansicht des Autors zeigt, dass die handelnden Akteure dabei in zunehmendem Maße vom ungeheuren Sog der immer rascher aufeinander folgenden Ereignisse überrascht und mitunter auch überrollt wurden.
Breiten Raum nimmt die Schilderung der innenpolitischen Ereignisse in der Interimszeit ein, die mit dem Zerfall der Machtstrukturen der SED beginnt und bis zum Beitritt des DDR-Gebietes zur Bundesrepublik anhält. Schon zuvor liefen hinter den Kulissen die Vorbereitungen für eine Neuordnung der deutschen Verhältnisse ab. Ausführlich dargestellt werden die komplexen - unter ernormem Zeitdruck zu bewältigenden - Verhandlungen zum Einigungsvertrag, die Probleme bei der Währungsunion und beim Finanztransfer sowie der bis 1994 erfolgte vollständige Abzug der sowjetischen Truppen vom ehemaligem Territorium der DDR.
In seinem Bericht lässt Duisberg persönliche Erinnerungen, Eindrücke und Erfahrungen auf angenehm unaufgeregte und stets diskrete Weise einfließen. Entsprechend seinen Tätigkeitsbereichen in dieser Zeit widmet sich "Das deutsche Jahr" vorwiegend den innenpolitischen Aspekten der Wiedervereinigung, vor allem den langwierigen und komplizierten Beitrittsverhandlungen. Das ist keineswegs langatmig oder in trockenem Aktendeutsch verfasst. Das Buch liest sich vielmehr über weite Passagen recht spannend.
Die wesentlichen Stationen dieser Zeit bestimmen die Kapitelstruktur des Buches. Die Schilderungen persönlicher Begegnungen mit den letzten Repräsentanten der DDR (Krenz, Modrow, de Maizière und "einer grauen Maus namens Angela Merkel, die einstmals als zweite Pressesprecherin de Maizieres emsig Aktenstöße hin und hertrug") sind nicht ohne Reiz zu lesen.
Duisberg versucht unverkennbar, die umwälzenden Ereignisse, die sich zwischen dem legendären paneuropäischen Picknick an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich im Sommer 1989 und den Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung Deutschlands im Herbst 1990 vollzogen, in einem übergeordneten his-torischen Zusammenhang zu fassen. Das wird nicht zuletzt auch in den Schlusssätzen deutlich, wenn es in Anspielung an Goethe heißt: "In jedem Fall aber können wir sagen: Wir sind dabei gewesen."
Die Komposition aus historischer Sicht und subjektiver Berichterstattung, koloriert mit Zitaten und Beschreibungen prominenter Akteure, lässt "Das deutsche Jahr" zu einem empfehlenswerten Geschichtsbuch werden.
Claus J. Duisberg
Das deutsche Jahr. Innenansichten der Wiedervereinigung 1989/1990.
Verlag Wolf Jobst Siedler jr., Berlin 2005; 400 S., 24,90 Euro