Der Rückstand des Orients gegenüber dem Westen
Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner wirft die allgemein interessierende Frage auf, wieso die islamische Welt der Moderne so ablehnend gegenüber zu stehen scheint. Ausgangspunkt für ihn ist der 2002 von Muslimen der UNO vorgelegte "Arab Human Development Report", der eklatante Rückstände der muslimischen Welt statistisch belegt: das große Ausmaß von materieller und von Bildungsarmut. Letztere zeigt sich nicht nur im weit verbreiteten Analphabetismus, sondern auch in der äußerst geringen Zahl an Publikationen und der noch geringeren Zahl an Übersetzungen. Der Beitrag der islamischen Welt zur modernen Wissenschaft und Forschung ist verschwindend gering.
Da wiederum viele im Westen lebende Muslime erfolgreich in Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen tätig sind, müssen die Ursachen in tieferen gesellschaftlichen Strukturen gesucht werden. Im Unterschied zu vielen Muslimen und auch einem Teil der westlichen Politologen und Soziologen weist Diner die Bedeutung der kolonialistisch-imperialistischen Unterwerfung der muslimischen Welt zwar nicht von der Hand, spannt aber seine Ursachenforschung historisch weiter. Damit bewegt er sich - entgegen der Ankündigung des Verlags - doch ins Gebiet der Religionskritik. Und er riskiert - wie viele vor ihm - zwar durchaus richtige Beobachtungen zu liefern, insgesamt aber ein zu pauschales Urteil über einen historisch und geographisch äußerst vielgestaltigen Raum abzugeben.
Zentral ist für Diner, dass der islamische Raum bis heute fixiert sei an die an Naturvorgänge gebundene sakrale Zeit, den Mondkalender. Die Mehrzahl der Muslime habe den Anschluss an die den Rhythmus der Welt bestimmende westliche Zeit nicht vollzogen, die zwar auf dem Sonnenjahr basiert, seit dem Aufkommen der Manufakturen aber mechanisch gemessen und zum Maßstab wirtschaftlicher Effizienz und Konkurrenz geworden ist. Im Gegensatz zu den Muslimen sind die Juden aufgrund ihrer Diaspora dazu gekommen, mit beiden Zeitvorstellungen gleichzeitig zu leben.
Aus meiner Sicht trifft Diners Argumentation der im Islam "sakral versiegelten Zeit" nicht mehr zu. Wenn auch viele islamische Länder tatsächlich die islamische Woche aufrecht erhalten oder wieder eingeführt haben, so ist doch in keinem Land der Mondkalender Grundlage für Ausbildungsjahre und Arbeitsverträge. Die meisten - auch ärmere - Muslime besitzen heute Armbanduhren und leben, besonders wenn sie einer Ausbildung nachgehen und Arbeit haben, durchaus im Rhythmus der westlichen Zeit, ähnlich wie die Juden. Selbst die Durchführung von Gebeten während der Arbeitszeit verträgt sich heute mit dem westlichen Zeitrhythmus: Sie ist auch muslimischen Arbeitern etwa bei Siemens in Deutschland erlaubt.
Abgesehen von der Schwäche von Diners Hauptargument enthält sein Buch wichtige Rückblicke besonders in die Geschichte der Osmanen. Deren Entwicklungsrhythmus war tatsächlich ein anderer als der westliche, mit dem sie sich aber in stets dramatischer werdender Konkurrenz sahen. Diner erinnert daran, dass die Entdeckung Amerikas überhaupt nur stattfand, weil die spanische Krone die von den Osmanen kontrollierten Handelswege nach Asien umgehen wollte. Die Osmanen wiederum schenkten der Entdeckung des neuen Kontinents kaum Beachtung, weil es ihnen zur gleichen Zeit gelungen war, ihren Herrschaftsbereich noch einmal auszudehnen.
Und doch leitete Kolumbus den Umschwung des Kräfteverhältnisses ein. Der Zustrom von Edelmetallen aus der Neuen Welt, das den europäisch-asiatischen Handel ungeheuer belebte, führte zu einer dramatischen Schwächung der osmanischen Währung, für die man manchmal noch nicht einmal mehr auf dem eigenen Markt einkaufen konnte. Von ebensolcher Bedeutung waren die sich potenzierenden Wirkungen von Manufaktursystem und Merkantilismus. Sie brachten im Westen den modernen Markt hervor, der sich befreite von einem Teil religiös verwurzelter und staatlich garantierter Wohlfahrtsgebote. Die islamische Welt beharrte jedoch noch lange auf der täglichen öffentlichen Bekanntgabe von Maximalpreisen sowie der strengen bürokratischen Kontrolle der Händler und Kaufleute.
Das behinderte auch die Herausbildung von Kapital und Rechtsstaat. In der islamischen Welt war der Besitz, insbesondere an Land, kein Gegenstand langfristiger Verträge und Sicherungen, sondern blieb eng an die Gunst von Herrschern gebunden. Obwohl entgegen den religiösen Geboten ein hervorragend funktionierendes informelles Kreditsystem existierte, hielt sich wegen mangelnder Rechtssicherheit die Kapitalisierung von Vermögen in Grenzen. Wie andere Historiker erklärt Diner die Entstehung und Aufrechterhaltung einer starken Zentralmacht im islamischen Raum auch mit seinen geographischen Voraussetzungen: Sowohl die Bewirtschaftung der knappen Ressource Wasser als auch der notwendige Schutz der langen Handelswege erzeugten schon vor dem Islam stark zentralisierte Gesellschaftssysteme.
Diners im Einzelnen interessanten Ausführungen vermögen das Rätsel der heutigen Rückständigkeit eines großen Teils der islamischen Welt nicht zu lösen. Das Zusammendenken von Landschaften wie Afghanistan und Erdölstaaten wie Abu Dhabi oder Saudi Arabien unter der Vorgabe einer gemeinsamen Kultur macht wenig Sinn. Letztere sind schon lange keine reinen Rentiersstaaten mehr. Ihre Führungsschicht gehört zu den ganz normalen global players, die in die verschiedensten Wirtschaftsunternehmen investieren und große internationale Banken unterhalten. Inwieweit Bevölkerungen zivilisatorisch davon profitieren, hat eher mit der politökonomischen Konstellation zu tun, dass die islamischen Staaten ihren traditionellen Wohlfahrtsbegriff aufgegeben, den westlichen aber nicht angenommen haben: Sie sind radikal neoliberal. Das ist diskutabel, aber eigentlich nicht unmodern.
Dan Diner
Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt.
Propyläen Verlag, Berlin 2005; 300 S., 22.- Euro