Rudolf Bindig zieht Bilanz seiner Arbeit für den Europarat
Tief in der Provinz weist ein Schild den Weg zu einem entlegenen Dorf. Das Team aus Straßburg, das für den Europarat in Russland den Ablauf von Duma-Wahlen inspiziert, entscheidet sich spontan für eine Visite in diesem kleinen Örtchen. Die Chefin des Wahllokals ist perplex und strahlt überglücklich: Schon oft habe sie von der Existenz internationaler Beobachter gehört, und jetzt tauchen die doch leibhaftig bei ihr auf! Im Nu werden kulinarische Köstlichkeiten samt Wodka aufgetischt. Rudolf Bindig: "Die Dame wollte uns gar nicht mehr ziehen lassen."
Der seit 2002 als Leiter der Bundestagsdelegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats amtierende SPD-Politiker sitzt in seinem nüchtern eingerichteten Büro im Straßburger Palais de l'Europe und lässt den Blick zurückschweifen. 17 Jahre Engagement im Abgeordnetenhaus des Staatenbunds, die nun zu Ende gehen: Da werden neben der Verabschiedung von Resolutionen, Gekungel hinter den Kulissen des Wabenbaus und Kampfabstimmungen im Halbrund des Plenarsaals auch ganz persönliche Erlebnisse wieder präsent. Sie waren indes nicht immer so erfreulich. Denn Auftrag des Europarats ist die Durchsetzung demokratischer Rechtsstaatlichkeit auf dem Kontinent - und dazu gehören auch Recherchen vor Ort. Zu seinen "erschütterndsten Erfahrungen" zählt Bindig seine Inspektionen in diversen osteuropäischen Gefängnissen. "Einfach schrecklich" seien die Zustände gewesen: dramatisch überfüllte Zellen, grassierende Krankheiten, katastrophale hygienische Verhältnisse.
Tief im Gedächtnis des 65-Jährigen haften geblieben sind die vielen Reisen ins tschetschenische Kriegsgebiet. Einmal hatten dort russische Soldaten für den Straßburger Abgesandten ein Picknick im Freien hergerichtet: Während des Essens war am Horizont Geschützdonner zu vernehmen. Durch Grosny konnte sich Bindig nur in Panzerfahrzeugen bewegen. Ein Flug mit Moskauer Militärs im Helikopter endete abrupt: Wegen Raketenbeschusses drehte der Hubschrauber schnurstracks ab.
Solche Situationen bleiben Bindig in Zukunft erspart. Die Herbstsession in der ersten Oktoberwoche des Europarats-Parlaments war die letzte Sitzung für den Oberschwaben: Er wird diesem Abgeordnetenhaus nicht mehr angehören, nachdem er bei der Bundestagswahl auf eine erneute Kandidatur verzichtet hat. Der Sozialdemokrat hat seine Funktionen aber formell bis zum Auftakt der Wintertagung im Januar inne, bei der die 18 frisch nominierten Mitglieder des neuen Bundestags ihre Arbeit im Europarart aufnehmen werden. Im November fährt Bindig zu einer Wahlbeobachtung nach Tschetschenien. Aber die Zeit des Abschieds naht: "Das fällt natürlich schwer, da kommen gemischte Gefühle auf."
Im Europarat hat der altgediente Volksvertreter eines schätzen gelernt: "Man ist Teil eines Netzwerks von Abgeordneten überall auf dem Kontinent. In dieser großen europäischen Familie entsteht ein gewisses Gemeinschaftsgefühl". Aber Bindig kapriziert sich nicht nur auf persönliche Reminiszenzen, ihn treibt der Staatenbund bis zuletzt vor allem politisch um. Und da sorgt er sich um dessen künftige Rolle auf der internationalen Bühne: Der Europarat, der "in schwieriges Fahrwasser" geraten werde, dürfe sich von Brüssel nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Denn die EU, auf 25 Mitgliedsländer angewachsen, entpuppt sich zusehends als Konkurrent und mischt sich nun auch in die historische Mission Straßburgs ein - den Kampf für Menschenrechte und demokratische Rechtsstaatlichkeit. Jetzt plant Brüssel sogar die Errichtung einer eigenen "Grundrechts-Agentur" mit 100 Mitarbeitern. Das fuchst Bindig: "Der Europarat muss sich auf die Hinterbeine stellen und sich gegenüber der EU behaupten", so Bindig. Da sei auch der bei der Herbstsitzung des Parlaments gewählte neue Menschenrechtskommissar Thomas Hammarberg (Schweden) gefordert.
Nicht nur Gefahren von außen ist zu begegnen. In gewissem Sinne, analysiert der SPD-Politiker, "droht der Menschenrechtsgerichtshof an seinem Erfolg zu ersticken". Abertausende Klagen von Bürgern zwischen Atlantik und Kaukasus gehen jedes Jahr ein. Doch dieser Masse von Beschwerden ist kaum noch Herr zu werden. Die Straßburger Urteile sorgen nicht selten für Aufsehen. Der scheidende deutsche Delegationsleiter ist indes der Überzeugung, "dass der Staatenbund in der öffentlichen Wahrnehmung auch politisch häufig unterschätzt wird".
Aber ist der Europarat ein echter Machtfaktor? Ob Folter und Misshandlungen in Gefängnissen, Ausweisung von Ausländern oder auch Organhandel: Die Kritik in den fachlich meist sehr fundierten Berichten des Straßburger Parlaments wird in den betreffenden Ländern oft nur zögerlich und halbherzig umgesetzt. Bindigs Resümee seiner 17 Jahre: Ein "Machtfaktor" sei der Europarat wohl weniger, doch könne er als "moralische Instanz und Gestaltungsfaktor" Einfluß nehmen - trotz fehlender exekutiver Rechte gegenüber nationalen Regierungen.
Erfolg und Misserfolg gehen Hand in Hand: Diese Erfahrung hat auch Bindig gemacht. Den Schutz von Minderheitenrechten in den Konventionen des Europarats führt der SPD-Mann mit auf seinen Einsatz zurück. Ebenso war es auch ihm als Berichterstatter für Estland in den 90er-Jahren zu verdanken, dass sieben Häftlinge nicht hingerichtet wurden: Bedingung für die von Bindig mitgestaltete Aufnahme der Balten ins Palais de l'Europe.
Nicht so rosig sieht die Bilanz für Russland und Tschetschenien aus, wo Bindig jahrelang als Europarats-Beauftragter aktiv war. Zunächst konnte der Europarat in Moskau innere Reformen durchsetzen. Doch jetzt wurde mit dem Ausbau der autokratischen Herrschaft von Präsident Wladimir Putin so manches Rad wieder zurückgedreht. So leide etwa die Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit, vor allem beim Fernsehen, kritisiert Bindig. Besonders große Enttäuschung macht sich bei Tschetschenien breit, wo Vertreibungen, Entführungen und Folter noch immer an der Tagesordnung sind.
Vielleicht muss sich der Europarat doch mehr Respekt verschaffen. Da möchte Bindig auch die 315 Mitglieder der Straßburger Deputiertenkammer in die Pflicht nehmen. Sie müssten ihr Doppelmandat stärker wahrnehmen, um auch in ihren heimischen Volksvertretungen dem Staatenbund zu mehr Geltung und Renommée zu verhelfen.