Der Holocaust im Film
Der Absturz im kollektiven Selbstwertgefühl eines ganzen Volkes hätte dramatischer nicht sein können - und der Wiederaufstieg zu einer zukunftsoptimistischen Gesellschaft kaum spektakulärer. Eben noch erhöht im maßlosen Wir-Bewusstsein eines "Herrenvolks", sahen die Deutschen 1945 ihre nationalhistorische Kontinuität und staatliche Existenz bedroht. Militärisch besiegt, demoralisiert, besetzt und in Zonen geteilt, hatte sich das "Großdeutsche Reich" in eine Trümmerwüste verwandelt. Auch politisch, geistig und moralisch.
Von der Weltöffentlichkeit wurden speziell ihre Führungsgruppen eines außerordentlichen Verbrechens angeklagt. Heute vor 60 Jahren begann in Nürnberg das Internationale Militärtribunal. Der Prozess ist weitgehend vergessen, die Ermordung der Juden aber ein wesentlicher Bezugspunkt unseres historisch-politischen Bewusstseins geblieben.
Das Ende der Hitler-Diktatur markiert insofern einen Epochenbruch. Er wurde als so stark empfunden, die Auflösung des Deutschen Reiches und die Teilung des deutschen Nationalstaates in zwei gegeneinander feindliche Bruderstaaten als so tiefgreifend erlebt - hoffnungsvoll von den einen, voller Bitterkeit und Zukunftsangst von den anderen -, dass man auch von einer "Stunde Null" sprach. Als könnte ein ganzes Volk noch einmal von vorn anfangen. Im Osten sollte ein "Neues Deutschland" entstehen. Doch die Verheißung blieb unerfüllt. Der Westen verwandelte sich in ein "Wirtschaftswunderland". Dort war in wenigen Jahren die Trümmerwüste beseitigt, schien auch die Last der Vergangenheit bewältigt. Aber der Schein trog.
Man sprach bald - selbstbewusst und selbstironisch - von den "Wunderkindern". Vielleicht auch deshalb, weil Kinder im Allgemeinen als unschuldig angesehen werden, noch keine belastete Biografie haben. Andererseits bestätigte und rehabilitierte sich ein Traditionselement, das dem schnellen Wiederaufstieg zu internationaler Reputation, zu Wohlstand, sozialem Frieden, Leistungsfähigkeit und hohem Konsumniveau Grundlage und Dynamik gab: "Deutsche Tüchtigkeit". Effektivität und Kreativität schienen ihr Gegenbild vergessen zu machen, die massenmörderische und militärische Destruktivität, mit der die Deutschen wenige Jahre zuvor die Welt in Angst und Schrecken versetzt hatten.
Möglich war dies nur in einem mehrfachen Verwandlungsprozess. Zunächst haben sich die Deutschen im Bewusstsein der eigenen Leiden von Tätern in Opfer verwandelt. Die zweite, ökonomisch und bündnispolitisch fundierte Verwandlung machte aus Verlierern alsbald politische Gewinner. Der ungleiche, antifaschistisch-kommunistische Bruderstaat im Osten hatte diese Verwandlung ideologisch, also abstrakt, vollzogen; er verstand sich von Anfang an als Sieger. Hunderttausende profitierten von einem amnestiepolitischen Verwandlungsprozess. Dafür sorgten mehrere Straffreiheitsgesetze und das 131er-Gesetz. Mit diesem wurden durch die Entnazifizierung "verdrängte" Beamte und Berufssoldaten sozial integriert und rehabilitiert. Andere halfen sich selbst. Die "Illegalen" wechselten einfach Namen und Identität. Kurt Hoffmann hat sie in seinem Spielfilm "Wir Wunderkinder" (1958) realsatirisch in Szene gesetzt. Der heute leider vergessene, wunderbare Robert Graf in der Rolle des gerissenen Bruno Tiches, vormals ein hohes "braunes Tier" und bald nach dem Krieg auch schon wieder auf Erfolgskurs.
Dieses Verwandlungsmotiv findet sich bereits ein Jahrzehnt zuvor in "Die Mörder sind unter uns" - Wolfgang Staudtes Filmklassiker aus der Trümmerfilmzeit. Auch Hauptmann Brückner (Arno Paulsen), autoritär-fürsorglicher Familienvater, der als Fabrikant gewinnbringend Stahlhelme in Kochtöpfe umformt, hat seine Vergangenheit hinter sich gelassen. Als Wehrmachtsoffizier hatte er eine Geiselerschießung befohlen. Es kommt zu einer Begegnung zwischen ihm und einem Zeugen des Verbrechens, dem Arzt Dr. Mertens (Ernst Wilhelm Borchert). Er fühlt sich schuldlos schuldig, will den Fabrikanten zunächst erschießen und begreift schließlich - ganz im Sinne der herrschenden besatzungspolitischen Moral: "Wir haben die Pflicht, Anklage zu erheben, Sühne zu fordern im Auftrag von Millionen unschuldig hingemordeter Menschen!" In zweifacher Hinsicht bleibt der Film zeittypisch unbestimmt: Er unterscheidet nicht zwischen Kriegsverbrechen und Judenmord. Und er unterschlägt, dass der Ankläger sich zuvor durch Unterlassung mitschuldig gemacht hat. "Die Mörder sind unter uns?", höhnte Wolfdietrich Schnurre (Gruppe 47) fragend zurück - "Wir alle sind die Mörder!"
Der Film hatte am 15.Oktober 1946 Premiere, einen Tag bevor die Todesurteile an den in Nürnberg verurteilten "Hauptkriegsverbrechern" vollstreckt wurden. Nicht wenige von ihnen auch wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bei Staudte bleiben sie peripher. Nur für einen flüchtigen, fast verschämten Augenblick erscheint auf der Leinwand die Schlagzeile: "Zwei Millionen Menschen vergast". Brückner benutzt die Zeitung als Einwickelpapier für sein Frühstücksbrot. Viel mehr wurde von Auschwitz nicht enthüllt.
Von der Hauptdarstellerin, Hildegard Knef in makelloser Schönheit, erfährt man nur, dass sie im Lager war und es offenbar spurenlos überlebt hat. Eine beruhigende Botschaft. Wie in dem zweiten legendären Film der frühen Nachkriegsjahre, Helmut Käutners versöhnlichen Rückblick auf das "Dritte Reich". Selbst in "In jenen Tagen" schien eines nicht zuschanden gekommen, die Menschlichkeit - zur gleichen Zeit wurden in Nürnberg und anderswo SS-Angehörige wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und verurteilt.
Der Judenmord blieb im deutschen Nachkriegsfilm lange ein Randthema. Wenn er auf die Leinwand kam, wie in dem ersten Defa-Film "Ehe im Schatten" von Kurt Maetzig, ein Melodram über eine Mischehe, dann waren es eher Geschichten, die sich am Rande der Rassen- und Vernichtungspolitik bewegten. Jene Filme der Zeit aber, die sich dem komplexen Geschehen - Diskriminierung, Deportation, KZ-Haft, Gettoisierung, Zwangsarbeit, Ermordung und Rettung - zuwandten, wie "Lang ist der Weg" oder "Morituri", sie fanden kein Publikum. Auch auf der Leinwand war zumindest der westdeutsche Erinnerungsweg nach Auschwitz weit.
Aber selbst die zu Recht hochgelobten Filme eines poetischen Antifaschismus von Frank Beyer und Konrad Wolf aus der DDR beschäftigten sich mehr mit antifaschistischer Solidarität und Widerständigkeit als mit den jüdischen Verfolgten, ihrer Deportation und Ermordung in den östlichen Vernichtungslagern. Und ohne verfälschende Umdeutung ging es im Einzelfall auch bei ihnen nicht. So ist in "Nackt unter Wölfen" die spannungsreich und anrührend erzählte Rettung eines hilflosen Kindes eingebunden in den politisch-moralischen Kampf von Lager-SS und illegal-kommunistischer Häftlingsorganisation.
Schon bald nach der Lagerbefreiung kam es als "Buchenwaldkind" zu legendärer Berühmtheit. Auch in Fritz Cremers Häftlingsskulptur vor dem Glockenturm am Ettersberg wurde es verewigt. Der weltweit gezeigte Film führte zu einer Wiederbegegnung zwischen dem geretteten jüdischen Kind, Stefan Jerzy Zweig, und seinem Retter, dem Stuttgarter IG-Metall-Vorsitzenden Willy Bleicher - und auch zur Aufklärung der wahren Geschichte. Der jüdische Knabe konnte nur überleben, weil für ihn der Zigeunerjunge Willy Blum nach Auschwitz deportiert wurde. Die jeweiligen Kontingente mussten listengemäß vollständig sein - so verlangte es die Deportationsbürokratie.
In den 50er- und 60er-Jahren haben international beachtete Prozesse und Medienereignisse das Interesse am Judenmord neu belebt - von der medialen Mehrfachverwertung des Anne-Frank-Tagebuchs über den Eichmann-Prozess, Rolf Hochhuths "Stellvertreter" bis zum Auschwitz-Prozess und der "Ermittlung" von Peter Weiss. Aber erst die Hollywood-Darstellung dieses abstrakten Großverbrechens als mehrteiliger Fernsehfilm, der eine Täter- und eine Opferfamilie miteinander verknüpft, brachte die Judenvernichtung einem Massenpublikum nahe und gab ihr einen Namen, der seitdem weltweit geläufig ist: Holocaust.
Politik und Fachkritik äußerten wegen der Ästhetisierung, Trivialisierung und Kommerzialisierung des Genozids anfangs erhebliche Vorbehalte. Nicht geringe Bedenken galten auch der Vermischung von Fiktion und historischen Fakten. Die Lebens- und teilweise Überlebensgeschichten der zahlreichen Mitglieder der jüdischen Familie Weiss sind mit wichtigen Stationen der "Endlösung" verknüpft. Die Kritik verstummte bald - nicht nur unter dem Eindruck der in der westdeutschen Mediengeschichte beispiellosen Resonanz.
Der Film kommt ohne Verfälschung aus, bemüht sich um differenzierte Persönlichkeitsbilder und eröffnet eine überraschend optimistische Perspektive. Die Deutschen werden nicht als Täternation vorgeführt, einem Kollektivschuldvorwurf kein Raum gegeben. Selbst die Figur des SS-Offiziers Dorf ist nicht nach der bis dahin gängigen Schablone des bösen Nazi-Deutschen gefertigt. Der negative Held erscheint mehr als Mitläufer mit menschlichen Schwächen, zum Karrieristen angetrieben, zum Massenmörder unter den herrschenden Verhältnissen geworden. Und die Juden werden nicht nur als passive Opfer gezeigt, sondern auch als aktive, widerständige, ums Überleben kämpfende Verfolgte. Als Symbol für die Überwindung der Tragödie des jüdischen Volkes. Am Ende wird die "Erlösung" der überlebenden Juden in der Gründung ihres neuen Staates stärker betont als das niederschmetternde Ergebnis der "Endlösung".
Mehr und mehr hat inzwischen auch die Populärkultur Auschwitz adaptiert. Bilderverbote konnten der Trivialisierung des Stoffes wenig anhaben. Auch beim Kinostart von "Schindlers Liste" und von "Das Leben ist schön" gab es erneut hitzige Debatten darüber, ob der Holocaust als Melodram und tragikomisches Märchen dargestellt werden darf. Nichts ist so überzeugend wie der Erfolg. Was Jurek Becker und Frank Beyer schon früh in "Jakob der Lügner" bewiesen haben, hat Roberto Benigni erneut gezeigt: dass man ein Kind, dem zusammen mit seinen Eltern die Ermordung droht, schonen, vielleicht retten kann. Nicht die Realität des Infernos wird verfälscht, sie ist sogar ziemlich gegenwärtig. Wohl aber wird gezeigt, dass und wie Rettung möglich ist: durch Zufall und das verzweifelt-erfindungsreiche Spiel des Vaters, der weiß, dass er sterben muss, aber den Sohn schützt, indem er ihm das Schreckensszenario in ein Gewinnspiel verwandelt und bei größtem Einsatz, sprich Spieldisziplin, einen Panzer als Prämie in Aussicht stellt.
In einer der letzten Szenen, das Kind drängt nach Hause, beteuert Vater Guido seinem Sohn Giosuè, sie hätten das Spiel bald gewonnen. Dann wird er abgeführt. Das Kind beobachtet, aus Versteck, wie der Papa in groteskem Paradeschritt einem Wachsoldaten folgt. Dann hört man das Rattern eines Maschinengewehrs. Am nächsten Morgen traut er sich aus seinem Versteck und geht über die leere Lagerstraße. Da taucht ein Panzer vor ihm auf. Ein GI nimmt den Kleinen auf den Arm. Andere Überlebende beleben die Szene. Giosuè erblickt die Mutter und schreit ihr fröhlich entgegen: "Abbiamo vinto!" "Wir haben gewonnen - ich lach mich kaputt!"
Prof. Dr. Peter Reichel lehrt Historische Grundlagen der Politik am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg.