Hans-Dietrich Genscher stellte Günter Verheugens neues Europabuch vor
Spätestens seit den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und Holland befindet sich die Europäische Union in der Krise. Die Frage, wie es weitergehen soll, scheidet die Geister. Sollen die Referenden wiederholt werden, soll das Beitrittstempo generell zurückgefahren werden, ist die Türkei nicht ohnehin ein zu dicker Brocken? Fragen über Fragen, die die tägliche Diskussion nicht nur in der Politik selbst bestimmen.
EU-Kommissar Günter Verheugen ist gewissermaßen der Außenminister der Union. Er hat in den vergangenen Jahren die Verhandlungen mit den im Jahr 2004 beigetretenen Ländern geführt und unermüdlich viele Hürden gemeistert. Schon vor den Referenden in Frankreich und Holland habe er, so teilte er jetzt in Berlin bei der Vorstellung seines neuen Buches mit, mit der Niederschrift begonnen; das Verfassungsdebakel verleihe ihm nun zusätzliche Aktualität.
Der frühere Bundesaußenminister (und noch frühere Parteifreund) Hans-Dietrich Genscher verteilte bei der Vorstellung des Buches am 28. Oktober in den Räumen der Europäischen Kommission in Berlin viel Lob für Autor und Buch. Die jetzige Denkpause sei der richtige Zeitpunkt, um über den künftigen Weg Europas nachzudenken. Das Buch sei ein "Aufklärungsbuch" über Europa, "und Aufklärung ist dringend geboten". Was letztlich allgemein bekannt sei, werde hier mit großer Deutlichkeit und auf breitem Erfahrungshintergrund gezeigt: Europa ist keine Welt für sich, sondern steht in globaler Interdependenz mit den anderen politischen und wirtschaftlichen Zentren der Welt. "Im 21. Jahrhundert werden andere globale Mitspieler immer wichtiger."
Es ist nicht das erste Buch Verheugens, und so bekannte er denn auch, jede Etappe seines Lebens, die ihm wichtig gewesen sei, "mündete in einem Buch". Europapolitik heute ist für ihn "Gestaltung des Wandels", denn: "Der Wandel ist das eigentlich Kontinuierliche in unserer Zeit."
Das Buch, dem Genscher einen "echten Mehrwert für jede Bibliothek" attestierte, ist ein Appell an europäische, vor allem auch an deutsche Leser, über die Krise den erreichten Stand und die damit verbundenen Vorteile nicht zu vergessen, etwa, dass die Exportnation Deutschland per se vom Wettbewerb lebe. Europa brauche Vorbilder: "Nur tief überzeugte Europäer können auch überzeugen." Es brauche den "Bekennermut seiner Eliten", ob in Wirtschaft, Politik oder Kultur. Die Chance einer veränderungsbereiten und veränderungsfähigen Türkei solle man sehen und nutzen, niemand brauche nach Ende der langen Beitrittsverhandlungen noch Angst vor dem Land haben.
Das Buch ist teilweise ein spannender Report über die schwierigen Verhandlungen mit den unlängst beigetretenen Ländern. Verheugen war überall dabei; er erzählt anschaulich, mitunter wirklich packend von schwierigsten Verhandlungen mit hochgehenden Emotionen. Wer sich danach noch "Optimist" nennt, dem kann wohl wirklich keine europäische Krise mehr etwas anhaben.
Günter Verheugen
Europa in der Krise. Für eine Neubegründung der europäischen Idee.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005; 232 S.,18,90 Euro