Der Antisemitismus ist nach wie vor ein aktuelles Problem
Das ist ein schmaler, aber argumentativ gewichtiger Band. Seit geraumer Zeit, besonders intensiv nach den Anschlägen vom 11. September 2001, wird die Frage diskutiert: Gibt es einen neuen globalen Antisemitismus? Heute, nach einem zeitlichen Abstand erkennt man besser: Es ist der motivgeschichtliche alte Antisemitismus, der mal schwächer, gegenwärtig wieder stärker in Erscheinung tritt.
Die Beobachter stimmen darin überein, dass antijüdische Ausschreitungen in Europa und ein zunehmend negatives Israelbild mit Eskalationen im Nahen Osten, mit internationalem Terrorismus und dem IrakKrieg korrelieren. Neue Tätergruppen - junge Männer mit muslimischem Migrationshintergrund - treten in Erscheinung, Antisemitismus wird verstärkt von radikalen Linken geäußert, die sich gegen Israel und - gepaart mit Antiamerikanismus - gegen die kapitalistische Globalisierung wenden.
Klaus Holz spricht ausdrücklich nicht von einem neuartigen Antisemitismus, denn das würde bedeuten, dass sich seine grundlegende politische Semantik geändert hätte. Der Autor arbeitet gedanklich klar und gut begründet die Elemente dieser Semantik heraus und bestimmt die maßgebliche Funktion des Antisemitismus: Antisemitismus schafft Sinn, wo kein Sinn ist. Er hat eine identitätsstiftende Weltdeutung.
Daher liegt es auf der Hand, dass in Zeiten raschen politischen und wirtschaftlichen Wandels die Nachfrage nach Orientierung, nach Sinn und Weltdeutung sprunghaft ansteigt. Stichworte zu diesem krisenhaften Prozess sind die Auflösung der bipolaren Nachkriegsordnung nach 1989, die verschärfte weltwirtschaftliche Konkurrenz im Zeichen der Globalisierung, kosmopolitische Zumutungen durch Migration - kurz: kognitive Dissonanzen aller Art. Um für diese Entwicklungen eine antijüdische Deutung zu präsentieren, musste der Antisemitismus nicht fundamental umgebaut, sondern lediglich variiert und aktualisiert werden.
In den folgenden Kapiteln analysiert der Autor die drei relevanten Spielarten des gegenwärtigen Antisemitismus, wie sie im Untertitel des Buches genannt sind. Er stellt das grundlegende Muster der antisemitischen Semantik in vier Variationen vor, das nach seiner Beobachtung von den verschiedenen weltanschaulichen Großgruppen in zunehmendem Maße geteilt wird. Diese ideologische Übereinstimmung gelte zum Beispiel für den Gegensatz zweier Sozialmodelle (Gemeinschaft versus Gesellschaft), wonach die "jüdische Gesellschaft" die traditional integrierte, authentische Gemeinschaft der Wir-Gruppe zersetzt. Ob diese "Wir-Gruppe" islamistisch, nationalistisch oder rassistisch definiert wird, ist dabei sekundär.
Die Technik, besonders inkriminierte Phänomene als "jüdisch" zu brandmarken, hat eine lange Geschichte. Ein solches Phänomen ist etwa die als bedrohlich empfundene Moderne mit ihrer zunehmenden Differenzierung und Säkularisierung der Welt - eine Bedrohung, welche durch eine die Komplexität reduzierende Schuldzuweisung an die traditionell abgelehnten Juden an jedem Ort der Erde gebannt werden kann.
Auch die Imagination einer jüdischen Konspiration konstruiert immer eine Gegnerschaft der Juden gegen die Ordnung ihrer Umgebung. Das Phantasma der jüdischen Weltverschwörung entstand im christlichen Europa, gelangte im Zuge der europäischen Expansion als geistiges Exportgut in den Orient, wurde dort den Verhältnissen angepasst und kehrt heute um antizionistische und rabiat antiamerikanische Versatzstücke angereichert als Re-Import zurück.
Damit lassen sich alle Zeiterscheinungen, die man für die eigene Gemeinschaft schädlich und feindlich hält, einer einzigen großen Machtzentrale zuordnen. "Der Jude" erscheint im Antizionismus wie im Antisemitismus als die personifizierte dritte Macht, die beide Seiten, das christliche Abendland wie das islamische Morgenland, bedroht und der eigentlich Schuldige an den Konflikten zwischen beiden ist. Und schließlich ist "das Jüdische" schon lange zu einer personifizierenden Metapher für dynamischen gesellschaftlichen Wandel, für Beschleunigung gemacht worden, mit der sich das abstrakt Allgemeine markieren lässt. Das Unfassliche wird fassbar, erhält ein Gesicht und eine Adresse, die der Antisemit an jedem Ort jüdischen Lebens angreifen kann.
Der Antisemitismus wird von Holz als die moderne Weltanschauung kenntlich gemacht, die den Nationalismus durch die Konstruktion eines internationalen Feindes absichert. Deshalb können sich sowohl arabische wie europäische Nationalisten auf die Ablehnung dieses gemeinsamen Dritten einigen. Holz verkennt nicht, dass sich der arabische Antizionismus vom europäischen Antisemitismus darin unterscheidet, dass jenem ein bitterer realer Konflikt zugrunde liegt, der einen Bedarf an religiösen und nationalen Selbst- und Fremdbildern produziert. Soweit dieser Bedarf antisemitisch befriedigt wird, versperrt dies zusätzlich den Weg zu einer Lösung des Nahost-Konflikts.
Judenfeindschaft tritt nicht nur bei religiösen Fundamentalisten oder politischen Extremisten auf. Auch Demokraten können antisemitische Einstellungen vertreten. Gerade Demokratien haben sich mit Antisemitismus auseinander zu setzen, denn die demokratische Wertordnung ist mit Diskriminierung nicht vereinbar. Deshalb erscheint der Begriff "demokratische Judenfeindschaft" falsch gewählt.
Die Heftigkeit und die Emotionalität, welche die öffentlichen und zeitgeschichtlichen Kontroversen um den Nahost-Konflikt und insbesondere um die NS-Vergangenheit prägen, sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass es dabei um einen elementaren Aspekt für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft geht. Der Empörung, mit der diese Themen aufgegriffen werden, liegt häufig ein "sekundärer Antisemitismus" zugrunde, der sich aus der Ablehnung eines angeblich stark selbstanklagenden Umgangs mit der Vergangenheit Deutschlands ergibt. Rufe nach einem Schlussstrich, die Aversion gegen die öffentliche Gedenkkultur und das Verlangen, angebliche Tabus im Umgang mit Juden zu brechen, offenbaren immer wieder - auch aggressive - Tendenzen im Sinne einer verantwortungs- und lernverweigernden Abwehr.
Dieser Antisemitismus nach Auschwitz unterscheidet sich von den älteren Formen der Judenfeindschaft und vom Vernichtungsantisemitismus vor allem dadurch, dass er auf die Verbrechen reagieren muss, sei es durch Relativierung, Leugnung oder durch eine Schuldprojektion auf die Juden. Man will oder kann die Last der Geschichte nicht länger ertragen. Viele suchen dafür aber nicht nach Ursachen, sondern fahnden nach Verursachern, die man für das eigene Unbehagen verantwortlich machen kann.
Sekundärer Antisemitismus ist durch die Relativierung, Verharmlosung, Aufrechnung und in besonders aggressiver Form durch die Leugnung ("Auschwitzlüge") der NS-Verbrechen an den europäischen Juden charakterisiert. Die Verharmlosung der Verbrechen geht meist mit einer Täter-Opfer-Umkehr einher, die ihrerseits wiederum auf älteren antisemitischen Stereotypen fußt: Mittels ihrer weltweiten Macht (Weltverschwörung) würden die Juden ihren Opferstatus geschickt ausnutzen (Gerissenheit), um finanzielle, politische und moralische Vorteile (Geldgier) zu erlangen. Sie würden sich zum Weltgewissen aufspielen und sich dadurch gegen Kritik immunisieren (Israelkritik).
Die Forschung spricht deshalb von einem sekundären Antisemitismus als einem spezifischen neuen Antisemitismus, der sich nicht trotz, sondern wegen des Holocausts entwickelt hat. Schuld und Schuldabwehr stehen in seinem Zentrum: Sekundärer Antisemitismus drückt die unverarbeitete und unangenehme Frage nach Schuld, Scham und Verantwortung aus, die dem Bedürfnis nach einer historisch ungebrochenen, positiven deutschen Identität und der unbelasteten Identifikation mit der deutschen Geschichte eine prinzipielle Schranke setzt.
Klaus Holz teilt die inhaltliche Analyse, ersetzt aber den gut begründeten und sachlich zu treffenden Begriff durch die Wortbildung "demokratischer Antisemitismus". Damit ist kein Erkenntnisgewinn verbunden, die Operation leuchtet nicht ein. Dennoch: Analytisch klarer und prägnanter formuliert kann man heute nicht informiert werden.
Klaus Holz
Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft.
Hamburger Edition, Hamburg 2005; 113 S., 12,- Euro