Woran glaubt die extreme Rechte?
Die Zuschauer trauten ihren Ohren kaum, als sie die Parolen hörten: "Internationale Völkermordzentrale USA" und "Solidarität mit Palästina" skandierte der Demonstrationszug, der im Herbst 2002 durch Potsdam zog. Ein "Frieden schaffen ohne Waffen"-Transparent ganz vorn, dahinter die Aktivisten, einige mit Palästinensertuch um den Hals - eine Demonstration, die "links" daherkam. Doch die Marschierer bekannten sich als "frei, sozial und national", kurz gesagt - als Neonazis.
Der "Nationale Widerstand" aus NPD und "freien Kameradschaften" hatte sich offenbar das Weltbild der Linken geliehen. In Zeiten allgemein antiamerikanischer Stimmung im Lande schien dies ein Propagandakniff, um sich neue Sympathisanten zu erschließen. Doch die radikale Rechte im Umfeld der NPD hat sich ihr ideologisches Rüstzeug nicht geliehen. Sie hat es erobert. Potsdam war keine Ausnahme. In der ganzen Republik tragen die junge Rechten inzwischen bei ihren Aufzügen Che-Guevara-Shirts, schwarze Kapuzenpullover und "Pali-Tücher". Selbst das Symbol dieser "freien Nationalisten", eine schwarze und eine rote Fahne, ist dem der Antifa zum Verwechseln ähnlich.
Das, woran die Aktivisten mehrheitlich glauben, hat wenig bis nichts mit dem zu tun, was nach den politischen Schemata der 70er-Jahre in links, rechts und Mitte einzuordnen wäre. "Kampf dem US-Imperialismus. Kampf den US-Kriegsverbrechen und -verbrechern" stammt aus einem Text auf der NPD-Homepage. "Nie wieder Imperialismus! Nie wieder Kapitalismus! Freiheit und Selbstbestimmung auch für die Kurden, die Iren, die Basken, die Palästinenser und die Deutschen!" heißt es auf der Internetseite des rechtsradikalen "Leverkusener Aufbruch". Die Kameradschaften haben sich einem im Wortsinne nationalsozialistischen Weltbild verschrieben. Die Nazis von heute sind wirklich welche. Und sie nennen sich auch so.
Zwar gibt es einen Schwerpunkt in Ostdeutschland, doch "Freie Nationalisten" finden sich in Niedersachsen und Hamburg ebenso wie im Ruhrgebiet. Sie vertreten mehrheitlich einerseits klassisch rechte Positionen: Relativierung der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust bis hin zu dessen Leugnung, Judenfeindlichkeit, Rassismus, männerbündische Organisation. Dazu kommen radikaler Antikapitalismus, Kirchenfeindlichkeit und Revolutionsrhetorik - Überzeugungen, die Vertretern der westdeutschen Altrechten wie etwa den "Republikanern" einen Schauer über den Rücken jagen.
Zwar tun sich nach wie vor gewaltbereite Nazischläger durch Überfälle auf Ausländer und Andersdenkende hervor, das theoretische Gerüst der entscheidenden Köpfe jedoch ist durchaus filigran. Gegenüber Fremden vertreten sie eine Ideologie, die mit Ausländerfeindlichkeit nur unzureichend beschrieben ist. Sie verstehen sich als "Befreiungsnationalisten": Jedes Volk hat ihrer Ansicht nach einen natürlichen Lebensraum, den es verteidigen muss. "Die Völker der Erde sind die natürlichen Fortpflanzungsgemeinschaften", schreibt der "Leverkusener Aufbruch". Die praktische Konsequenz des so genannten Ethnozentrismus ist die "Rückführung aller in Deutschland lebenden Ausländer in ihre Heimat".
Die Nationaldemokraten gewinnen einen Teil ihres Nachwuchses aus der Naziszene. Keine Partei in Deutschland hat prozentual gesehen so viele junge Mitglieder. Die NPD teilt mehrheitlich die Ideologie der rechtsradikalen Aktivisten. Trotz öffentlichkeitswirksamer Wahlbündnisse: Die NPD gehört nicht in eine Reihe mit DVU oder "Republikanern". Die DVU ist eine Scheinpartei, die politisch und wirtschaftlich komplett vom Münchner Rechts-Verleger Gerhard Frey abhängt. Die "Republikaner" stehen für eher bürgerlich-christlich orientierte Positionen rechts von der CSU. Die NPD aber stellt in ihrem Programm das Ende von Kapitalismus und Globalisierung in Aussicht. Nur sie sieht sich zugleich im Kampf gegen "multikulturelle, imperialistische und gleichmacherische Kräfte". Anfang der 90er-Jahre noch ein bankrotter Altherrenverein ohne Nachwuchs, ist die NPD unter Udo Voigt eine moderne nationalsozialistische Partei geworden, der es gelungen ist, sich in Sachsen ohne nennenswerten Widerstand eine tiefgreifende Struktur aufzubauen. "Wie ein Fisch im Wasser" fühlen sich die Rechten in mancher Kommune, sagt die Vorsitzende der Berliner Amadeo Antonio-Stiftung, Anetta Kahane. Der Journalist und Rechtsextremismus-Experte Toralf Staud konstatiert in seinem Buch "Moderne Nazis" eine "Faschisierung der ostdeutschen Provinz". Die Kameraden fühlen sich in Teilen Sachsens als Meinungsmacher. Offenbar mit Erfolg: "Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer in ihre Heimat zurückschicken" - dieser NPD-Forderung stimmen 36 Prozent der bundesweit Befragten in einer aktuellen Studie voll oder eher zu. Dies schlug sich bei der vergangenen Bundestagswahl, bei der das NPD/DVU-Bündnis unter zwei Prozent blieb, nicht nieder. Zu Alarmismus gibt es keinen Grund. Ernst nehmen muss man den "nationalen Widerstand" jedoch sehr wohl. Die Zahl der öffentlichen Auftritte, aber auch der rechtsmotivierten Straftaten, steigt seit Jahren. Und, so warnt Staud, abseits der Medienöffentlichkeit kann die NPD gerade nach weniger erfolgreichen Wahlen ihre Netzwerke ausbauen, etwa in der Sächsischen Schweiz.
Die NPD kämpft um die Straße, um die Parlamente und um die Köpfe. Sie weiß dabei den harten Kern der deutschen Neonaziszene um sich und fühlt sich sicher. NPD-Chef Udo Voigt hat das harmlose Getue früherer Rechtsaußen-Politiker längst abgelegt. Er hat kein Problem damit, Adolf Hitler offen einen "großen Staatsmann" zu nennen und die Abwicklung der Bundesrepublik zu fordern. Spätestens die Auftritte im Sächsischen Landtag dürften verdeutlicht haben, dass die NPD das Wort Nazipartei nicht als Schimpfwort ansieht.
Der Autor arbeitet als Redakteur der "Jüdischen Allgemeinen"
in Berlin.