Mit extremistischen Ideen können die meisten Briten nichts anfangen
Das Land ist mit einer kraftvollen Mittelmäßigkeit des Intellekts gesegnet", sagte der in Oxford lebende österreichische Schriftsteller George Steiner dem englischen Journalisten Jeremy Paxman einmal. "Das hat euch vor dem Faschismus gerettet und das hat euch vor dem Kommunismus gerettet. Letztlich interessiert ihr euch einfach nicht genug für Ideologien, um dafür zu sterben."
Das mag ein wenig bösartig formuliert sein, beschreibt aber richtig, dass extreme Ideologien etwas sind, mit der die Masse der Briten nichts anfangen kann. Schon der Philosoph John Stuart Mill urteilte, der Glaube an allgemeingültige Überzeugungen und zentralisierte Regierungen sei dem britischen Naturell fremd. Man pflege ein pragmatisch-skeptisches Verhältnis zum Staat und dem, was er erreichen kann. Getragen von stabilen, jahrhundertealten Institutionen wie der Monarchie und einem liberalen Rechtssystem, hat Großbritannien tatsächlich keine Despoten hervorgebracht - und auch keine zahlenmäßig nennenswerte rechtsextreme Bewegung. Keiner rechtsextremen Partei ist es jemals gelungen, einen Platz im Unterhaus zu ergattern. In den 80er- und Anfang der 90er-Jahre fristeten die rechtsextremen Parteien wie die Nationale Front (NF) und die British National Partei (BNP) ein Schattendasein.
Erst in den vergangenen Jahren verzeichneten rechte Parteien in Großbritannien wieder wachsende Sympathien, besonders nach den Rassenunruhen in Nordengland 2001. Während den etablierten politischen Gruppierungen Mitglieder und Wähler davonliefen, erlebten die beiden größten Parteien am rechten Rand, die BNP und die UK Independence Party UKIP, bei den letzten Europa- und Unterhauswahlen erheblichen Zulauf. Die UKIP verwehrt sich offiziell zwar dagegen, mit der Rechten in einem Atemzug genannt zu werden, konnte aber bislang nicht den Ruf loswerden, lediglich eine "BNP im Anzug" zu verkörpern. Eines ihrer führenden Parteimitglieder, Nigel Farage, gilt als eng verbandelt mit dem derzeitigen BNP-Chef Nick Griffin. Die Partei trat zur Europawahl 2004 mit einem einzigen Programmpunkt an - dem Rückzug aus der Europäischen Union. Die 1993 gegründete Partei, die zuvor landesweit wenig bekannt war, kam aus dem Stand auf zwölf Sitze im Europaparlament in Straßburg. Bei der Unterhauswahl allerdings versanken sowohl UKIP als auch Veritas wieder in der Bedeutungslosigkeit. Selbst der UKIP-Chef Roger Knapman kam auf nicht mehr als knapp 4.000 Stimmen. Derzeit spielt die Partei, zerfressen durch fortwährenden Machtkampf, keine größere Rolle.
Die BNP mag die kleinere rechte Partei sein, Angaben über Mitgliedschaft schwanken je nach Quelle zwischen 3.500 und 5.500 Personen, aber sie ist die deutlich gefährlichere. Ihr Chef, Nick Griffin, war 1998 erstmals wegen Anstiftung zum Rassenhass zu neun Monaten Haft verurteilt worden, im vergangenen Sommer musste er sich erneut wegen rassistischer Äußerungen vor Gericht verantworten. Mehrere führende Mitglieder der Partei wurden wegen Übergriffen auf Farbige verurteilt. Nachdem Griffin (Jahrgang 1959) den Vorsitz vom Gründer John Tyndall, einem berüchtigten Veteran der internationalen Naziszene, 1999 an sich gerissen hatte, hat er die Partei einem grundlegenden Modernisierung unterzogen. Der Cambridge-Absolvent, der in den 80er-Jahren den Holocaust leugnende Zeitschriften herausgab, orientiert sich an den erfolgreichen rechten Parteichefs auf dem Kontinent wie Le Pen in Frankreich oder Haider in Österreich. Ziel ist es, vom Neonazi-Image wegzukommen und eine effiziente rechte Partei zu formieren, um eine breitere Masse desillusionierter Wähler anzusprechen. Kernpunkte des Parteiprogrammes sind die Ausweisung aller nicht-weißen Einwanderer aus Großbritannien und der Rückzug aus der EU. Diese Haltung hatte Griffin einst aber nicht daran gehindert, mit radikalen Islamisten gemeinsame Sache zu machen, es ist bekannt, dass Griffin in den 80er-Jahren General Gaddafi in Libyen und Ayatollah Khomeini im Iran unterstützte.
Weil das britische Wahlsystem strukturell die beiden großen Parteien, Labour und die Konservativen, bevorzugt, konzentrieren sich die kleineren Parteien traditionell auf die Kommunalwahlen. Bei den Unterhauswahlen konzentriert man sich auf einzelne, von den großen Parteien vernachlässigten Wahlkreise, in denen man größtmögliche Aufmerksamkeit erzielen kann. Derzeit hält die BNP 17 Sitze in Stadtparlamenten, vorrangig im Norden Englands. Bei der letzten Unterhauswahl im Mai 2005 bewarben sich BNP-Kandidaten um 119 Sitze. Zwar gewann die BNP keinen einzigen Sitz, konnte aber die Stimmen landesweit von 47.000 auf 193.000 fast vervierfachen. Das entspricht einem Anteil von 0,55 Prozent der Stimmen. Im Londoner Stadtteil Barking bereitete die BNP der führenden Labour-Partei jedoch eine peinliche Lektion. Die BNP hatte sich mit einem 50 bis 60 Mann starken Wahlteam auf den heruntergekommenen Bezirk Barking im East End konzentriert, in dem es an Arbeitsplätzen und Sozialwohnungen mangelt und unter deren Bewohnern, einem Mix aus Alteingesessenen sowie osteuropäischen und afrikanischen Einwanderern, die Frustration über die Labour-Regierung Tony Blairs groß war. Von Blairs britischem Wirtschaftswunder war in Barking wenig zu spüren. Die BNP versuchte, aus diesem explosiven Gemisch von Frust und Zukunftsangst Kapital zu schlagen, indem Hass gestreut wurde. Die Partei verteilte Flugblätter, in denen fälschlichweise behauptet wurde, dass Afrikanern 50.000 Pfund, umgerechnet 75.000 Euro, gezahlt worden wären, um sich in Barking anzusiedeln. Die BNP kam auf 16,9 Prozent, soviel wie nirgendwo sonst im Land und verfehlte knapp den Platz als zweitstärkste Kraft.
Nach den Bombenanschlägen von London schreck-te die BNP nicht vor geschmackloser Propaganda zurück und versuchte die Nachricht auszubeuten, dass die vier Rucksackbomber in Großbritannien aufgewachsene Einwandererkinder waren. Kurz nach den Anschlägen vom 7. Juli, bei denen 56 Menschen starben, verteilte BNP-Personal Flugblätter mit Fotos vom explodierten Bus Nummer 30 mit der Überschrift: "Es ist Zeit, der BNP zuzuhören." Doch die Aktion feuerte spektakulär zurück: Die Bevölkerung wendete sich angeekelt ab und obwohl die Zahl der verbalen Übergriffe auf Muslime kurzzeitig zugenommen hatte, normalisierte sich die Lage schnell wieder. Mit ihrer Flugblattaktion zog die BNP dafür das Interesse der Geheimdienste auf sich. Als im Zuge der Antiterrordebatte diskutiert wurde, welche radikalen islamistischen Organisationen, die zu Hass und Terror anstiften, verboten werden sollten, forderten mehrere Unterhausabgeordnete auch das Verbot der BNP. Ein solches Verbot ist im liberalen Britannien aber unwahrscheinlich, da man überzeugt ist, dass sich die Gruppierung besser überwachen lässt, wenn sie legal operiert als wenn man Griffin und Co. in den Untergrund verbannen würde, wo sie sich als Märtyrer stilisieren könnten.
Die Autorin arbeitet als Korrespondentin der "Berliner Zeitung" in
London.