Parteitag der SPD wählt eine neue und verjüngte Führung
Der Vertrauensvorschuss, den die SPD-Basis ihrem neuen Vorsitzenden entgegengebracht hat, ist gewaltig. Seit den Tagen von Willy Brandt, der 1966 auf dem Dortmunder Parteitag ein identisches Ergebnis hatte erzielen können, hat kein SPD-Vorsitzender soviel Zustimmung auf sich vereinigt. Ein noch besseres Wahlergebnis in der Nachkriegsgeschichte der Partei hatte lediglich Kurt Schumacher mit jeweils 99,7 Prozent in den Jahren 1947 und 1948 auf den Parteitagen in Nürnberg und Düsseldorf eingefahren.
Die Gründe für das beeindruckende Wahlergebnis des 51-jährigen brandenburgischen Ministerpräsidenten sind unterschiedlicher Natur. Nach dem Rücktritt von Franz Müntefering als Parteivorsitzender knirschte es zwischen rechtem und linken Parteiflügel gewaltig. Müntefering hatte seinen Wunschkandidaten Kajo Wasserhövel nicht durchsetzen können, der Vorstand schickte stattdessen Andrea Nahles ins Rennen - die Sozialdemokraten stolperten in eine handfeste Personal- und Führungskrise. Und dies mitten in den schwierigen Koalitionsverhandlungen mit der Union - eine denkbar schlechte Ausgangslage für den schweren Gang in die ungeliebte Große Koalition.
Die Sozialdemokraten haben es durchaus verstanden, aus ihrer Not eine Tugend zu machen. So ließ der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck, der ebenfalls als aussichtsreicher Kandidat für das "schönste Amt neben dem Papst" (Franz Müntefering) galt, seinem Kollegen aus dem Osten den Vortritt. Platzeck gilt als unideologischer und auf Ausgleich bedachter Pragmatiker. Zudem verfügt er als brandenburgischer Ministerpräsident über reichhaltig Erfahrung in Sachen Großer Koalition. Bei den Landtagswahlen 2004 bewies er obendrein seine Qualitäten als Kämpfer. Obwohl der SPD bundesweit der raue Wind von Hartz-IV entgegenblies, die brandenburgischen Sozialdemokraten in den Umfragen hinter CDU und PDS rangierte, riss Platzeck das Ruder im Wahlkampf noch einmal herum - die SPD zog als stärkste Fraktion in den Potsdamer Landtag ein. Bundesweit hatte sich Platzeck über alle Parteigrenzen bei der Jahrhundertflut an der Oder als "Deichgraf" viele Sympathien erworben. Der Potsdamer konnte den Genossen in Karlsruhe somit als der richtige Mann am richtigen Ort präsentiert werden.
Geschickt und mit viel Gefühl für Aufbruchstimmung packte Matthias Platzeck auf dem Parteitag den Stier bei den Hörnern: "Es nutzt nichts, darum herum zu reden: In unserer Partei sind in den vergangenen Wochen Fehler gemacht worden." Doch jetzt ginge es darum, einen "dicken Strich" unter die Personal-Turbulenzen um den Rückzug von Franz Müntefering zu ziehen. Wie dieser "dicke Strich" auszusehen hat, machte Platzeck schon mit der Benennung seines Wunschkandidaten für das Amt des Generalsekretärs deutlich: Offensiv warb er für den 33-jährigen Hubertus Heil, der entscheidend an der Verhinderung von Wasserhövel als Generalsekretär und der Nominierung von Andrea Nahles beteiligt gewesen war. Über diesen "Fehler", so sagte Platzeck, habe es eine "intensive und laute" Aussprache gegeben. Und trotzdem: "Ich wünsche mir, dass er Generalsekretär wird, weil ich davon überzeugt bin, dass er diesen Job richtig gut machen wird."
Offen unterstützte der designierte Parteichef in seiner Bewerbungsrede auch die baden-württembergische SPD-Landeschefin Ute Vogt in ihrer erneuten Kandidatur für einen Posten der fünf stellvertretenden Parteivorsitzenden. Auch sie hatte sich vehement für Andrea Nahles als Generalsekretärin ausgesprochen.
Für Nahles selbst, die sich in Karlsruhe um einen Platz unter den 37 Beisitzern im erweiterten Parteivorstand beworben hatte, fand Matthias Platzeck warme Worte: "Wir brauchen die jungen Leute. Wir brauchen die Talente. Wir können es uns nicht erlauben, auch nur einen einzigen zurückzulassen. Ich sage hier auch ganz klar: Das, was ich eben gesagt habe, beziehe ich ganz ausdrücklich auch auf Andrea Nahles." Selbst Franz Müntefering hatte der für ihr Temperament bekannten ehemalige Juso-Vorsitzenden Absolution erteilt.
Die Parteibasis zeigte sich in Karlsruhe dann auch einsichtig: Zwar bekam Hubertus Heil in Form von 61,44 Prozent eine mehr als deutliche Quittung und Ute Vogt mit 67,27 Prozent - bei den letzten Stellvertreter-Wahlen hatte sie noch 70,51 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen können - einen Dämpfer verpasst, aber nachdem die Delegierten schon den Koalitionsvertrag ohne großen Widerstand aus Mangel an Alternativen (siehe Seite 20) hatten passieren lassen, verschafften sie an dieser Stelle ihrer Frustration in kanalisierter Form Luft, ohne ihren neuen Parteichef gleich wieder zu beschädigen. Auch Andrea Nahles schaffte den Sprung in den erweiterten Parteivorstand im ersten Anlauf. Die Erleichterung darüber war ihr deutlich anzusehen.
So konnte der neue Vorsitzende zum Abschluss des Parteitages dann ein positives Resümee ziehen. Es sei ein "Parteitag der Verantwortung", freute sich Platzeck: "Wir Sozialdemokraten zeigen sehr deutlich auch in schwierigen Zeiten: Wir stellen uns der Verantwortung, wir laufen nicht weg." Dass die Zusammenkunft der rund 500 Delegierten nicht zur befürchteten Abrechnung wegen der Umstände von Münteferings Angang geriet, lag nicht zuletzt an einer äußerst geschickten Parteitagsstrategie.
Von der ersten Minute an war die Marschrichtung vorgezeichnet: Versöhnung und Einigkeit sollten signalisiert werden. Die aufgerissenen Gräben zwischen Parteiflügeln und ihren Protagonisten sollten nicht nur überbrückt, sondern nach Möglichkeit zugeschüttet werden. Die Zauberwörter für dieses Unterfangen hießen "Sentimentalität" und "Stolz". Der noch amtierende Parteichef Franz Müntefering eröffnete den Reigen mit einem Rückblick auf das Jahr 2005, in der die SPD eine "Berg- und Talfahrt" hingelegt habe. Angefangen vom "bösen Foul an Heide Simonis" in Schleswig-Holstein, über die Niederlage bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen bis zur umstrittenen Entscheidung für Neuwahlen, die die Partei "verängstigt" habe. Doch dann sei nach einem "furiosen Wahlkampf" bei den Bundestagswahlen am 18. September "ein großer Erfolg" errungen worden. Müntefering schrieb seiner Partei ins Stammbuch, wem dafür der Dank zu gelten habe: "Vor allem haben wir das Gerhard Schröder zu verdanken, der sich in diesem Wahlkampf in unbändiger Weise engagiert hat, der die Partei mitgerissen und die Partei nach vorne geführt hat." Und dann sprach er Schröder persönlich an: "Lieber Gerd, Du hast es nicht immer leicht gehabt mit uns - wir auch nicht immer leicht mit Dir -, aber im Wahlkampf war unmissverständlich: SPD und Gerd Schröder, das gehört zusammen, das ist eins." Spätestens seit diesen Worten schwelgte der Parteitag in einer Art von Gruppentherapie, die alle Wunden heilen sollte. Müntefering verabschiedete Schröder, Schröder verabschiedete Müntefering, man umarmte sich, man lobte die ehemaligen Regierungsmitglieder, und die Parteibasis quittierte dies alles mit nicht enden wollenden stehenden Ovationen. Noch einmal durfte sich der scheidende Bundeskanzler dessen gewiss sein, was er so lange vermisst hatte: das Vertrauen aus den eigenen Reihen.