SPD-Parteitag mit eindeutiger Mehrheit für den Koalitionsvertrag
Ein wenig unsicher wirkt die junge SPD-Delegierte schon. Sie weiß wohl, dass die Sache eigentlich schon gelaufen ist. Aber durchaus entschlossen trägt sie ihre Argumente vor, hin und wieder von vereinzeltem aufmunterndem Applaus unterstützt. "Ich bin ja die erste, die das hier so sagt: Ich lehne den Koalitionsvertrag ab." Sie war die erste, und sie sollte die letzte sein, die sich am 14. November auf dem Parteitag der SPD auch verbal zu einem klaren Nein zum vorgelegten Koalitionsvertrag aussprach.
Das Endergebnis war - nach einer dreistündigen "eher müden Debatte", wie es ein Parteitagsdelegierter ausdrückte - eindeutig: Bei nur 15 Gegenstimmen und fünf Enthaltungen segneten die rund 500 Delegierten das 160-seitige Vertragswerk zwischen SPD, CDU und CSU ab. Ebenso eindeutig fiel auch das Mandat für die zukünftigen Regierungsmitglieder der SPD aus. Franz Müntefering, der sich ein gesondertes Votum für seine zukünftige Rolle als Vize-Kanzler in der Großen Koalition ausbedungen hatte, musste lediglich eine Gegenstimme hinnehmen. Neben ihm als Arbeitsminister und Vize-Kanzler werden gemäß des Parteitagsbeschlusses Peer Steinbrück als Finanzminister, Frank-Walter Steinmeier als Außenminister, Ulla Schmidt als Gesundheitsministerin, Brigitte Zypries als Justizministerin, Heidemarie Wieczorek-Zeul als Ministerin für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, als Umweltminister Sigmar Gabriel und Wolfgang Tiefensee als Verkehrsminister und zuständig für den Aufbau Ost Platz nehmen.
Franz Müntefering hatte den Delegierten bereits in seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender klar gemacht, dass es zum Gang in die ungeliebte Große Koalition keine Alternative gebe. Nach der Bundestagswahl am 18. September "war sehr schnell klar: Ampeln wird es nicht geben. Eine Minderheitsregierung wollten wir nicht und wollten wir auch nicht riskieren. Neuwahlen wollten wir genauso wenig. Deshalb haben wir uns entschlossen, zu versuchen, eine solche Große Koalition mit CDU und CSU auf gleicher Augenhöhe hinzubekommen, für vier Jahre, zum Nutzen des Landes." Und auch die letzte Option könne für die Sozialdemokratie eben keine sein: "Koalitionen sind nie leicht. Regieren ist nie leicht. Aber besser, liebe Genossinnen und Genossen, mit der Karft die wir haben mitzuregieren, als ohne Einfluss in der Opposition zu sein. Lasst es uns wagen!"
Müntefering räumte ein, dass man in den Verhandlungen nicht alles habe erreichen können. Aber auf der Habenseite stünde "eine ganze Menge sozialdemokratischen Gedankengutes": Die Einführung eines Elterngeldes, die Sicherung der Tarifautonomie, die Sondersteuer für Spitzenverdiener, im Osten Deutschlands die Anhebung des Arbeitslosengeldes II auf Westniveau, die Verhinderung einer Aufweichng des Kündigungsschutzes und die Beibehaltung des Atomausstieges. "Das sind alles keine Kleinigkeiten."
Auch Gerhard Schröder warb in seiner letzten Rede als Bundeskanzler auf einem SPD-Parteitag eindringlich um die Annahme des Koalitionsvertrages mit dem Argument der Alternativlosigkeit. "Aber die Große Koalition ist uns nicht bloß schicksalhaft durch die Wählerinnen und Wähler aufgezwungen worden." Vielmehr könne sie "Mechanismen und Fehlentwicklungen in unseren Institutionen korrigieren. Sie kann das außer Kraft setzen, was Entscheidungen verzögert und gelegentlich verwässert hat, Entscheidungen die unser unser Land gelegentlich blockiert und als Folge dessen auch gelähmt haben."
Gewohnt selbstbewusst gab der amtierende deutsche Regierungschef dem neuen Bundeskabinett einen klaren Arbeitsauftrag mit auf den Weg und münzte dies geschickt in ein weiteres Argument für eine Zustimmung zur Koalition mit der Union um: "Die Große Koalition - auch darauf sollten wir stolz sein - wird fortzusetzen haben, was wir bereits in den vergangenen sieben Jahren, besonders aber mit unserer Reformpolitik der Agenda 2010 auf den Weg gebracht haben." Und weiter: "Die für die Menschen unverzichtbaren Sicherungssysteme bei Rente, Gesundheit und bei Pflege zu erhalten und behutsam weiterzuentwickeln, ist Kennzeichen dieses Koalitionsvertrages, wie es Kennzeichen der Agenda 2010 war und ist." Die SPD-Basis hörte es und beklatschte es - auf dem Karlsruher Parteitag war wenig davon zu verspüren, dass es gerade auch der Widerstand aus der SPD gegen die Reformpolitik Schröders gewesen war, die den Kanzler bewogen hatte, das Wagnis von Neuwahlen einzugehen.
Es war auffällig: Die Sozialdemokraten übten nur sehr verhalten Kritik am ausgehandelten Koalitionsvertrag. Sei es nun, weil die Delegierten wussten, dass sich außer Neuwahlen oder einer totalen Verweigerungshaltung in der Tat keine Alternative zur Großen Koalition anbietet, oder aus der Erkenntnis, dass ein Übermaß an Kritik zu ungewollten Nebenwirkungen führen kann - der Abgang von Franz Müntfering und die damit verbundenen Probleme steckten der Partei noch schmerzhaft in den Knochen. Eine allzu harsche Kritik am Koalitionsvertrag wäre von vielen wohl als weitere Beschädigung Münteferings interpretiert worden, der schließlich die Verhandlungen mit den Unionsparteien geführt hatte. Es waren vor allem jüngere Delegierte, die den Mut fanden, ihren Unmut zu artikulieren. Die Ausweitung der Probezeit auf zwei Jahre bei Neueinstellungen wurde von ihnen beispielsweise angeprangert. Hier werde Politik auf den Köpfen der jungen Generation gemacht.
Gerade prominentere Sozialdemokraten hielten sich mit Kritik deutlich zurück. Der scheidende Wirtschaftsminister Wolfgang Clement war eine der wenigen Ausnahmen. Wenn der Bundeshaushalt 2006 nicht verfassungsgemäß ausgelegt werden solle, dann dürfe nicht der Eindruck erweckt werden, als "gehe man leichtfertig mit der Verfassung um". Unmut zeigte er an der geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent: "Schaut Euch bitte an, welche Wirkung eine dreiprozentige Mehrwertsteuererhöhung im Handel, im Handwerk und beispielsweise auch im Hotel- und Gaststättenbereich hat, die unsere wichtigsten Arbeitsplatz- und Ausbildungsplatzbringer sind! Meine Bitte ist, dass ihr Euch das vielleicht im Zuge des Regierungshandelns noch einmal anschaut." Aber auch er ließ keine Zweifel aufkommen, dass er die Große Koalition befürwortet - die Wahlkampfvokabel "Merkelsteuer" vermied Clement allerdings.
Bei so viel Zustimmung, verzichteten die Parteitagsstrategen dann auch auf ein ursprünglich angedachtes Disziplinierungsmittel. Eigentlich sollte über den Inhalt des Koalitionsvertrages und die benannten zukünftigen Bundesminister gemeinsam abgestimmt werden. Diesen Plan ließ man fallen: Warum auch Druck ausüben, wo er nicht benötigt wird? Das Regieren wird hart genug.