Vor 50 Jahren ein "explosives Thema" - die Europafahne
Sie weht bei der EU und beim Europarat in Brüssel und Straßburg. Treffen sich Regierungschefs zum Gipfel, wird sie fernsehtauglich als Kulisse platziert. Ganz oder in Ausschnitten ist sie auf Euroscheinen und -münzen zu entdecken. Querbeet auf dem Kontinent finden es Minister und Abgeordnete, ja selbst Bürgermeister in entlegenen Provinzen schick, sie in Miniaturformat in trauter Eintracht mit der jeweiligen Nationalflagge als Blickfang auf ihre Schreibtische zu stellen. Natürlich ziert sie auch allerlei Souvenir-Schnickschnack. Zwischen Malta und Nordkap derart en masse präsent, fällt sie schon fast gar nicht mehr auf: die Europafahne mit zwölf strahlenden Sternen auf sattem Blau.
Exakt 50 Jahre ist dieses Banner nun alt, im Herbst 1955 vom Europarat geschaffen und 1986 auch von der EU als Flaggensymbol übernommen. Was indes in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist: Die zwölfsternige Fahne hat eine höchst verwickelte Geschichte. Ursprünglich sollten nämlich 15 Sterne die Flagge zieren, und beinahe wäre es auch dazu gekommen. Das Sternendutzend birgt ein Geheimnis in sich: Das Saarland und dessen brisante internationale Rolle in der Nachkriegszeit sind "schuld", dass das 15er-Arrangement nicht das Licht der Welt erblickt hat. Von einem "explosiven Thema" sprechen alte Protokolle des Europarats über den Flaggenstreit.
Unverfänglich stellt heute ein Text des EU-Parlaments über die Symbole der Europäischen Union fest: "Der Kreis der goldenen Sterne steht für Einheit, Solidarität und Harmonie zwischen den Völkern Europas." Der Zwölferkreis sei "nach alten Überlieferungen Sinnbild der Vollständigkeit, wie zum Beispiel das Zifferblatt einer Uhr".
Ähnliches war zuletzt auch 1955 zu hören. Ende Ok-tober hatte sich die Parlamentarische Versammlung des Europarats für die blaue Fahne mit den zwölf Sternen ausgesprochen. Anfang Dezember billigte als höchstes Gremium des Staatenbundes das Ministerkomitee, in dem die Vertreter der nationalen Regierungen sitzen, dieses Modell. Am 18. Dezember 1955 wurde das Banner schließlich vor dem Palais de l'Europe gehisst und drinnen bei einer Sitzung der nationalen Außenminister entrollt. Deren Präsident, der Ire Liam Cosgrave, erklärte feierlich, die Sterne repräsentierten "keine Länder, keine Staaten, keine Rassen". Die Zwölf sei "das Symbol der Perfektion und Vollständigkeit". Zuvor war es freilich nicht unbedingt harmonisch zugegangen.
In den 1949 gegründeten Europarat wurde 1951 die Bundesrepublik als 14. Staat aufgenommen - zusammen mit der Nummer 15, dem Saarland. Diese "politische Einheit", wie es damals in Straßburg hieß, blieb bis Ende 1956 Mitglied; 1957 wurde die Region mit Deutschland wiedervereinigt, nachdem die Saarländer im Oktober 1955 bei einer Volksabstimmung gegen ein "europäisches Statut" für ihr Land unter der Ägide der Westeuropäischen Union und somit gegen die Trennung von der Bundesrepublik votiert hatten. Bis dahin hatte die Saar unter Ministerpräsident Johannes Hoffmann einen begrenzt autonomen Status, wobei eine Wirtschaftsunion mit Frankreich bestand. Paris oblag auch die außenpolitische Vertretung Saarbrückens.
Beim Europarat hatte das Saarland den Rang eines "assoziierten Mitglieds". Saarbrücken entsandte drei Abgeordnete in die Parlamentarische Versammlung, war aber im Ministerkomitee nicht vertreten. Vor dem Palais de l'Europe wehten gleichwohl 15 Fahnen, unter ihnen auch das saarländische Banner.
In jener Zeit wollte der Staatenbund eine neue Flagge kreieren: Es fehlte ein Symbol, das den Bürgern die Identifizierung mit dem zusammenwachsenden Kontinent ermöglichen sollte. In vielen Gremiensitzungen wurden diverse Alternativen zur Gestaltung einer Fahne erwogen. Es wurde sogar europaweit ein Wettbewerb ausgeschrieben, unter unzähligen Vorschlägen fand sich auch manch Skurriles.
Schließlich ergriff die Parlamentarische Versammlung die Initiative und plädierte mit Mehrheit für 15 Sterne auf blauem Grund, eben wegen der 15 Mitglieder des Europarats. Dieser Vorstoß ließ rechts des Rheins die Alarmglocken schrillen, hätte doch ein solches Banner einen Schritt zur internationalen Anerkennung des Saarlands als eines von Deutschland abgespaltenen Staats bedeutet. Umgesetzt wurde das Votum der Abgeordneten vom Ministerkomitee, welches das letzte Wort hatte, freilich nicht. Wer weiß, vielleicht hatte das auch damit zu tun, dass in diesem Gremium zeitweise ein gewisser Konrad Adenauer den Vorsitz innehatte. Im September 1954 wurde in Straßburg eigens eine Fahnenkommission eingesetzt, der von deutscher Seite der SPD-Politiker Fritz Erler angehörte.
Am Nein der Deutschen scheiterte schließlich der 15er-Kreis auf der Flagge. Von 14 Sternen wollten wiederum Paris und die Saarbrücker Hoffmann-Regierung, die bis zum Referendum im Oktober 1955 eine Trennung des Saarlands von der Bundesrepublik anstrebte, nichts wissen: Dies hätte als symbolische Absage an die Eigenständigkeit der Saar verstanden werden können.
Es kursieren unterschiedliche Versionen zur Frage, wie es am Ende zu zwölf Sternen kam. Gegen die 13 wandten italienische Politiker bei einer Debatte ein, diese Ziffer stehe im Ruf einer Unglückszahl. Angeblich, so eine historische Interpretation, hätten einige Katholiken an diversen Schaltstellen der Europarats-Administration im Hintergrund die Fäden gezogen, um das Dutzend unter Bezug auf die biblische Johannes-Offenbarung mit der von zwölf Sternen umkränzten Maria als christliches Motiv durchzusetzen - wobei man gegenüber den Abgeordneten der Parlamentarischen Versammlung mit ihren vielen Nichtkatholiken diese Absicht hinter ästhetischen Erwägungen verborgen habe. Jedoch waren damals vielerlei Überlegungen im Umlauf: Man rede doch vom "runden Dutzend", die Uhr zähle zwölf Stunden, es habe zwölf Apostel gegeben, das Jahr umfasse zwölf und nicht elf oder 13 Monate ...
Jedenfalls hat die kleine Saar mit dem Sterne-Arrangement auf der Europaflagge tatsächlich einmal Spuren auf internationalem Parkett gezogen: eine spannende Story, die indes bei den allermeisten Saarländern wie auch bei vielen Profi-Europäern dem Vergessen anheim gefallen ist.