Wo bleibt der Westen?
Für die Völker des Westens ist jetzt die Zeit gekommen, die großen Schätze, die sie in Generationen angehäuft haben, nicht nur klug zu bewahren und wenn möglich zu mehren, sondern vor allem humaner und weiser zu nutzen als bisher. Diese Lektion müssen sie noch lernen. Wenn sie das tun, wird ihnen die Zukunft gehören." (Aus dem Schlusswort: "Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft?")
Es gibt Bücher, die sollte man von hinten beginnen. Tut man das nicht, liest sich das jüngste Werk Meinhard Miegels über viele Seiten wie ein Untergangsszenario ohne Alternative. Die untergehen sind "wir", die frühindustrialisierten Gesellschaften, die in Jahrhunderten der Wohlstandsanhäufung träge geworden sind. Die auftauchen sind die Bewohner all jener Länder, denen unsere Welt sich jahrhundertelang überlegen glaubte. "Müde, träge und schläfrig" sei sie geworden, die westliche Welt, konstatiert Miegel - ganz im Gegensatz zu hunderten Millionen "lebenshungriger und begieriger" Menschen, die sich aufmachen, der alten Welt den Gipfel streitig zu machen.
"Alte Welt" gilt dabei im doppelten Sinne. Miegel ist nicht nur einer der profiliertesten - und bissigsten - Sozialforscher in Deutschland; er rückte auch als einer der ersten bereits vor Jahren die Folgen der demographischen Entwicklung ins Zentrum seiner Arbeit. Seine nüchternen statistischen Erkenntnisse trägt Miegel in fast apokalyptischer Dichte zusammen. Dass schon heute die Hälfte der europäischen Bevölkerung über 40 Jahre alt ist, während jeder zweite Asiate noch nicht einmal 26 ist, ist dabei nur der Anfang. Bis 2050 wird der Anteil der über 60-Jährigen in der alten Welt auf über ein Drittel steigen; der Anteil der über 79-Jährigen sich mehr als verdreifachen. All das in einem Europa, das sich leert, während Asien sich eines Bevölkerungswachstums erfreut.
Soweit so gut. Schwerer aber noch wiegt, dass die Unterschiede zwischen denen, die über Jahrhunderte die Geschicke der Welt steuerten und denen, die gegen sie antreten, im Schwinden begriffen sind. Die Zeit, in der ein großer Teil der 60 Millionen Menschen, die jährlich den Weltarbeitsmarkt betreten, kaum schreiben, geschweige denn einen Computer bedienen konnten, sind vorbei. Immer mehr Menschen sind immer besser qualifiziert und haben einen Zugang zu Informationen, Wissen und Kapital.
Das ist alles für den asiatischen Markt sehr erfreulich - an den Westen aber richtet Miegel eine "unfrohe Botschaft": "Ihr wart einmal etwas Besonderes. Ihr seid es nicht mehr." "Besonders" ist heutzutage nämlich nur noch "besonders teuer": Im Jahre 2003 kostete ein Industriearbeiter in Japan, den USA und Deutschland im Schnitt 20,32 Euro pro Stunde. In den elf wichtigsten Niedriglohnländern von Indonesien bis Tschechien kostete derselbe Arbeiter gerade einmal 1,75 Euro. Die Illusion, dass diese Diskrepanz wesentlich geringer würde, raubt Miegel seinen Lesern auf dem Fuße: Selbst wenn die Arbeitskosten in den Niedriglohnländern um jährlich 6,5 und in den Hochlohnländern um nur zwei Prozent steigen würden, sei in 30 Jahren - aus westlicher Sicht - nicht viel gewonnen.
Daraus folgt: Die Abwanderung von Arbeit kann nicht verhindert werden; wenn in China dasselbe Werk zu einem Bruchteil der Kosten verrichtet werden kann, dann wird es eben dort verrichtet. Die Hoffnung, irgendwie müsse es doch möglich sein, notfalls mithilfe rigider Abschottung, den Hochlohn-Arbeitsmarkt Deutschland zu erhalten, macht Miegel mit ein paar prägnanten Sätzen zunichte: "Die Frage ,Was kannst du besser, was kann ich besser und was lohnt sich auszutauschen?' ist dabei, ihren Sinn zu verlieren. Im 21. Jahrhundert wird sie ersetzt durch die Frage: ,Wer von uns beiden ist bereit, den niedrigeren Lebensstandard hinzunehmen, da keiner von uns etwas besser kann als der andere?' Wer ,Ich!' ruft, der bekommt den Zuschlag. Der andere hat das Nachsehen."
Und nun - was lernen wir daraus, die Alten, Satten, Lebensmatten? Steht die "deformierte Gesellschaft" vor dem unabwendbaren Zerfall? Nein, immerhin das nicht. Zur Lösung predigt er Verzicht und eine Abkehr von lieb gewonnenen Lebenslügen. Zu letzteren gehört seiner Ansicht nach vor allem die, dass die Ära der Arbeitslosigkeit vorübergehen und die wachsenden Wohlstandes nur kurzfristig unterbrochen sei. Stattdessen müsse sich das Land darauf vorbereiten, künftig auch ohne Wachstum handlungsfähig zu sein.
Nicht nur Gewerkschafter werden an dieser Stelle aufschreien. Und dennoch: Man muss die Vision der "Epochenwende" nicht mögen und man muss sie auch nicht teilen. Aber man muss sich gute Argumente einfallen lassen, um weiterhin die These zu vertreten, alles könnte beim Alten bleiben.
Jeannette Goddar arbeitet als freie Journalistin in Berlin.