Osteuropäische Ein-Mann-Betriebe nutzen ihre Chance
Zwei Entwicklungen entfachten damals ein Gründungsfieber. Durch die Änderung des Handwerksrechts entfiel in 53 von 94 Berufen der Meisterzwang. Fliesenleger, Gebäudereiniger, Raumausstatter - jeder kann seitdem in diesen und anderen zulassungsfreien Sparten ein Unternehmen gründen. Außerdem dürfen Polen, Tschechen und andere Osteuropäer nach der EU-Osterweiterung in Deutschland leben und arbeiten. Die Jobsuche auf dem freien Markt hat die Bundesregierung wegen der hohen Arbeitslosigkeit verboten. Doch Selbstständigkeit ist erlaubt.
Diese Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit nutzen nicht nur Osteuropäer, sondern auch Einheimische. Deutschlandweit kommt nur jede achte Neugründung in den zulassungsfreien Berufen von einem Bürger aus den Beitrittsländern. Es sind jedoch die Ich-AGs aus dem Osten, die für Aufregung in der Baubranche sorgen. Und zwar nicht - wie zuerst erwartet - in unmittelbaren Grenzgebieten, sondern in Ballungsräumen. Dort schießen die osteuropäischen Ich-AGs aus dem Boden.
Diesen Boom belegt Rudolf Baier, Sprecher der Handwerkskammer München-Oberbayern, mit Zahlen. Seit März 2004 hat sich in seinem Bereich die Zahl der selbstständigen Fliesenleger von 168 auf 754 gesteigert. "Das ist eine Zunahme von fast 350 Prozent, 64 Prozent der Neueintragungen kommen übrigens von Polen." Bei den Gebäudereinigern gibt es ein Plus von fast 240 Prozent, bei den Parkettlegern liegt es bei 110 Prozent.
Kostrzewa kam wie viele andere nach München, weil es dort genug Aufträge gibt. Aber vor allem, weil er dort früher drei Jahre lang gewohnt hatte. Wegen der deutschen Abstammung seiner Frau erhielten die Spätaussiedler eine Aufenthaltsgenehmigung. Kostrzewa arbeitete damals als Kurierfahrer, wollte sich selbstständig machen. Durfte er aber nicht, denn er war immer nur für sechs Monate in der Bundesrepublik geduldet. Als seine Frau, eine studierte Apothekerin, in Deutschland keinen Job fand, ging die Familie 1991 nach Polen zurück. In einem 5.000-Einwohner-Dorf, etwa 20 Kilometer von Breslau entfernt, haben die Kostrzewas nun eine eigene Apotheke und ein Haus gebaut.
Seit er in München lebt, sieht der 47-Jährige seine Frau, die beiden Töchter (12 und 18) und den Sohn (16) nur noch alle zwei, drei Wochen. Der Trost: 730 Kilometer von seinem Zuhause entfernt kann er genug Geld für die Ausbildung seiner Kinder verdienen: "Für die gleiche Arbeit bekomme ich hier das Dreifache." Dafür nimmt er Aufträge an, die deutsche Firmen oft dankend ablehnen - weil sie zu schwierig sind oder sich nicht rentieren. Der 47-Jährige arbeitet elf Stunden am Tag, abends rechnet er dann noch in seiner Wohnung Angebote durch. Er kalkuliert knapp, Preisdumping lehnt Kostrzewa aber ab.
Genau das werfen deutsche Kollegen osteuropäischen Handwerkern jedoch vor: Sie würden ihnen mit Billigtarifen Aufträge wegnehmen. Polnische Fliesenleger sind zur Metapher für die Gefahr aus dem Osten geworden. Immer wieder rechnen die Handwerkskammern die Misere vor: Deutsche Firmen verlangten rund 40 Euro pro Gesellenstunde, ein osteuropäischer Ein-Mann-Betrieb arbeite häufig für die Hälfte.
Kostrzewa hat einen Stundenlohn zwischen 22 und 35 Euro - je nachdem, wo und für wen er arbeitet. "In Grünwald, wo ich oft Aufträge habe, kann man ein bisschen mehr ansetzen", sagt er über das Nobelviertel Münchens. Aber auch für 22 Euro bekomme man bei ihm Qualität.
Und vor allem Flexibilität. Denn im Gegensatz zu deutschen Kollegen arbeitet der Pole auch abends, nachts und am Wochenende. Sein müder Blick und die Augenringe kommen nicht von ungefähr. Urlaub, Krankheit? Gibt es bei ihm nicht. Kostrzewa ist klar, dass deutsche Firmen da nicht mithalten können. Doch die Furcht vor der osteuropäischen Konkurrenz findet er teilweise übertrieben: "Die Deutschen sollen nicht Angst haben, die sollen ein bisschen fleißiger sein."
Das versucht Manfred Hofmann. Der 37-jährige Fliesenlegermeister hat einen Betrieb in München, weiß aber nicht, wie lange er seine beiden Angestellten noch beschäftigen kann. Durch Lohnzusatzkosten müsse er ganz anders rechnen. "Da kostet die Stunde rund 45 Euro, sonst muss ich zumachen." Hofmann versteht nicht, dass die Osteuropäer in ihrer Heimat zu wenig verdienen. "Dort herrscht doch jetzt Aufbruchsstimmung, da muss es doch Aufträge geben."
Doch das ist nur zum Teil richtig. Die polnische Wirtschaft ist im Aufschwung, bereits im dritten Jahr in Folge. Heuer wird mit einem Wachstum von fünf Prozent gerechnet. Trotzdem beträgt die Arbeitslosenquote rund 19 Prozent und ist damit die höchste in der EU. Der Produktivitätsanstieg durch Rationalisierung verhindert einen Zuwachs an Beschäftigung. Das Bauwesen ist zwar noch immer einer der wichtigsten Sektoren, doch die guten Jahre waren von 1996 bis 1998. Nach dieser Hausse verringerte sich die Beschäftigtenzahl bis 2002 rapide um rund 22 Prozent.
Deshalb drängten viele Polen Anfang 2004 auf den deutschen Markt. Kostrzewa las in der Zeitung von dieser Möglichkeit, informierte sich und meldete wenige Tage später sein Gewerbe an. "Es war ein Versuch, und ich habe es geschafft." Weil der 47-Jährige schnell viele Aufträge bekam, machten es ihm Verwandte und Freunde nach. Wenn Kostrzewa nun für ein größeres Projekt Mithilfe braucht - demnächst steht die Renovierung eines Reihenhauses für 30.000 Euro an - ruft er seine Freunde an. Er übernimmt den ganzen Auftrag, seine Kollegen arbeiten mit. Bei der Abrechnung gilt sein Wort.
Schwarzarbeit, Billiglöhne: Kostrzewa kennt die Vorwürfe. Er setzt dagegen, dass sich nur diejenigen durchsetzen, die legal und fachmännisch sauber arbeiten. Kontrollen durch das Finanzamt seien an der Tagesordnung. Und man müsse seine Grenzen kennen. "Wenn ich etwas nicht kann, sage ich das." Statik, Elektrik, da sei ein Profi unverzichtbar. Doch Kleinigkeiten übernimmt Kostrzewa nebenbei - dadurch spart sich der Auftraggeber, eine weitere Firma engagieren zu müssen.
Einige osteuropäische Ich-AGs scheitern an der Verständigung. Kostrzewa lernte in der Schule neben Russisch auch Deutsch. Er kann verhandeln, seine Dienste anbieten. Kommunikation bedeutet für ihn auch, Netzwerke mit deutschen Kollegen zu knüpfen. Er empfiehlt sie, sie empfehlen ihn. Das sei unerlässlich, wenn man nur für Privatleute arbeite und über Mund-zu-Mund-Propaganda an Aufträge komme. Denn Werbung macht Kostrzewa nicht - nicht im Internet, nicht im Branchenbuch, nicht in Kleinanzeigen. Er hat auch so genug zu tun. Bisher hat er nur einen Auftrag nicht bekommen: "Zwei Ungarn haben es billiger gemacht." Er wollte sie nicht unterbieten, der Handwerker hat seinen Preis - und seine Ehre.
Für ihn ist die Arbeit in Deutschland auch eine Art der Fortbildung. Er lernt neue Techniken, schaut sich bei anderen Handwerkern Know-how ab. Damit möchte er in zwei Jahren zurück nach Polen gehen und dort eine Firma gründen. Vertreter des polnischen Bausektors erwarten eine Trendwende in Polen. Man wäre in der Lage, so heißt es, dort doppelt so viele Aufträge wie jetzt zu realisieren. Dazu bräuchte es jedoch eine bessere technische Ausstattung und qualifiziertere Arbeiter - Slawomir Ludwik Kostrzewa wird einer von ihnen sein.
Helga Gandlgruber ist freie Journalistin in München.