Menschen im Bundestag
Warum der Beuys keinen Staub ansetzt
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Das Reichstagsgebäude Tag für Tag auf Hochglanz zu bringen ist eine echte Herausforderung. Um die zu bewältigen, braucht es keine unsichtbaren Geister, sondern sichtbare Leistung, erbracht von Frauen wie Sylvia Chahin.
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Sylvia Chahin
Niemand käme auf die Idee, im Reichstagsgebäude vom Fußboden zu essen. Trotzdem sollte das großmütterliche Qualitätssiegel, es schadlos tun zu können, jederzeit gelten: spiegelnde Flächen, die auch bei Sonnenlicht keine Streifenmuster malen, geputzte Handläufe, staubfreie Möbel, Ecken, Kanten, Heizungskörper und Fensterbänke, glänzende Fußböden, gepflegte Teppichbeläge, gelüftete Räume, saubere Sanitäranlagen, Türen ohne Schmutzränder und Wände ohne Flecken – so hat es tagtäglich im Hohen Haus auszusehen.
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Sylvia Chahin ist eine resolute, 40-jährige Frau mit dunklen lockigen Haaren, braunen Augen, einer möglicherweise ausgeprägten Vorliebe für legere und praktische Kleidung und einer sicher vorhandenen Fröhlichkeit, die von Herzen kommt. Sie bewegt sich auf ganz besondere Art und Weise durch das Reichstagsgebäude. Sie geht auf die Knie, reckt sich in die Höhe, bückt sich in die Tiefe, kraucht unter Tische, arbeitet sich an Wänden entlang und Meter für Meter auf Fußböden vor, verrückt Gegenstände und stellt sie wieder auf angestammte Plätze.
Kein Winkel auf der Plenarsaalebene ist ihr unbekannt. Morgens von sechs bis zehn ist ein Teil der Etage ihr Revier. "Ich bin eine Putze", sagt sie und grinst ein bisschen, wenn man vor dem Wort zurückzuckt. Putze, wie klingt denn das? Sylvia Chahin benutzt es vielleicht, um ein bisschen zu provozieren und zu signalisieren: Schau doch mal richtig hin! Das ist ein großes Haus, in dem sich Tag für Tag viele Menschen bewegen, in dem – ja – eine Menge Geschichte geschrieben wird. Was man hier richtig macht, ist immer gut für viele. Und was man falsch macht, bleibt nie folgenlos.
Der Reinigungsdienst ist Teil des personalstärksten Bereiches im Deutschen Bundestag, dem Referat Organisationstechnischer Parlamentsdienst. Außer auf drei Etagen des Reichstagsgebäudes werden Reinigungsarbeiten in den insgesamt 28 Liegenschaften des Bundestages überwiegend von Fremdfirmen übernommen. Das Sauberhalten dreier Etagen im Hohen Haus aber liegt in der Verantwortung von 24 hauseigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und eines Material- und Gerätewartes. Alles in allem sind im Reichstagsgebäude 17.000 Quadratmeter Grundfläche von hauseigenen Kräften regelmäßig zu reinigen. Das heißt, jeden Tag von vorn zu beginnen und jeden Tag fertig zu werden.
Als Sylvia Chahin 1999 als Reinigungsfrau anfing, bekam sie ihr Revier zugewiesen und eine nette Kollegin an die Seite gestellt, die ihr zeigte, wie man alles am besten schafft. Trotzdem hinterließ dieser erste Arbeitstag bei Frau Chahin einige Zweifel. Sie putzte akribisch die Sanitäranlagen und stellte, als sie fertig war, fest, dass sie dafür fast die gesamte Zeit verbraucht hatte, die ihr für das ganze Revier zur Verfügung stand. Wären da nicht die hilfsbereiten Kolleginnen gewesen, die ihre Erfahrungen bereitwillig weitergaben und halfen, wo sie konnten – wer weiß ...
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Sylvia Chahin lernte schnell und konnte bald selbst neue Mitarbeiterinnen in die kleinen und großen Geheimnisse der Arbeit einweihen. Vielleicht kommt ja dem einen oder der anderen der Begriff "Geheimnisse" übertrieben vor. Schließlich geht es am Ende ums Saubermachen – und sauber machen können doch alle irgendwie. "Klar", sagt Sylvia Chahin, "irgendwie schon. Aber ich muss in der Zeit von sechs bis zehn im Schnitt 150 Quadratmeter pro Stunde reinigen – vollgestellt mit Möbeln. Es gibt eine Menge Türen, Glasflächen, Papierkörbe. In Sitzungswochen bewegen sich viele Menschen im Haus. Aber Staub sammelt sich auch in sitzungsfreien Zeiten. Vier Stunden bleiben mir für eine große Runde. Irgendwie sauber zu machen ist für dieses Haus nicht gut genug. Wir sind ja nicht unsichtbar. Wenn wir arbeiten, müssen wir viele Dinge während des laufenden politischen Tagesgeschäfts erledigen. Da muss ich also selbst entscheiden, ob ich jetzt, wo gerade dutzende Journalisten auf Informationen warten, mitten im Gedränge weitermache oder meinen Plan ändere."
Sylvia Chahins Runde ist wirklich einen Rundgang wert. Sie beginnt im Südflügel. Zuerst ein Besprechungsraum. Stühle, Tische, Lampen, der Fernseher, Fensterbänke, Vertiefungen in den Wandverkleidungen, Papierkörbe. Dann der Raum 1S002 "Verfügung Vizepräsident", gefolgt vom Raum 1S003 "Vorzimmer". Die erste Sitzgruppe im Flurbereich – vier Ledersessel, vier Glastische, vier Aschenbecher. Eine große blaue Tür. Die erste Toilette im Südflügel und der erste Wasserwechsel, die Abgeordnetenlobby, danach der Clubraum 1S033, von dem aus man einen schönen Blick auf den Weihnachtsbaum vor dem Kanzleramt hat.
Seine Lichter leuchten gelb, der Clubraum strahlt rot und ist mit 35 Stühlen, elf Tischen, einer Bar, einer Küchenzeile und Spiegeln bestückt. Die nächste Sitzecke vor der Lobby, sechs Ledersofas, sechs Tische, drei Aschenbecher, die mit Metall ausgeschlagenen Fugen in den Säulen müssen geputzt werden. In Sitzungswochen gehen dann so gegen 8.30 Uhr fast alle Putzfrauen in den Plenarsaal.
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So arbeitet sich Sylvia Chahin Stück für Stück vor, eine große Runde um den Plenarsaal herum, unterbrochen von Räumen, Nischen, Sitzecken, Sanitäranlagen. Sie bekommt morgens kurz vor sechs die Schlüssel, zieht sich um, greift ihren Putzwagen, schließt die Büros auf, leert und reinigt Papierkörbe, Abfalleimer und Aschenbecher, entsorgt den Müll in die dafür vorgesehenen Behälter, sammelt Altpapier in Papiersäcke und stellt sie an vereinbarten Orten zur Abholung bereit, reinigt Fußböden der Dienst- und Nebenräume und Sitzungssäle, rückt dafür Möbel weg und wieder an ihren Platz, entstaubt Büromöbel, Heizkörper, Bilder, Fensterbänke, Türen und Türrahmen, lüftet währenddessen die Räume, schließt die Fenster dann wieder, löscht das Licht und verschließt die Räume, wischt die Böden in den Toiletten und behandelt sie mit Desinfektionsmittel, putzt Waschbecken, Armaturen und Spiegel, WCs, Wände, wässert Geruchsverschlüsse, legt Toilettenpapier und Papierhandtücher parat, füllt Flüssigseife nach und Hygienebeutel, wischt Eingangshallen, Flure und Treppen, Treppengeländer, Glasflächen.
Bei ihrem Rundgang, der kein Rundgang, sondern ein Arbeitsgang ist, kommt die Reinigungsfrau Sylvia Chahin auch irgendwann an Joseph Beuys vorbei. Sein "Tisch mit Aggregat" gehört zu ihrem Revier. Sie hat die Bronzeskulptur vor dem Plenarsaal, bestehend aus einem Tisch, einer Batterie und zwei Kugeln, im wahrsten Sinne des Wortes pfleglich zu behandeln. Das tut sie. Es freute ihn sicher, lebte er noch, denn andernorts und zu früherer Zeit hat ihm eine Putzfrau einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht. In Düsseldorf hat eine Reinigungsfrau mal kurzerhand einen Beuys dem Müll zugeführt, weil sie nicht ahnte, dass dieser Fettblock ein Kunstwerk war.
Von zehn an bis Dienstschluss arbeitet Sylvia Chahin mit den fünf Kolleginnen, die eine Ganztagsstelle haben, in dem an Sitzungswochen dann gefüllten Hohen Haus. Räume, die gerade nicht belegt sind, müssen sauber gemacht oder nach Sitzungen und Beratungen wieder hergerichtet, Sanitäreinrichtungen kontrolliert und wenn nötig nochmals geputzt werden. Und wenn irgendwo im Eifer des Gefechts mal eine Kaffeekanne runterfällt, wird der Schaden sofort beseitigt.
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Viele Sitzungsräume werden mehrmals am Tag genutzt, und jeder möchte, dass klar Schiff ist, wenn die nächste Beratungsrunde beginnt. Alles kein Problem bei der richtigen Logistik. Heilig, auch für Reinigungskräfte, ist der Büroschreibtisch. Da hat jeder seine eigene Ordnung, Aufräumen wäre hier fehl am Platz. Also werden Aschenbecher und Papierkörbe geleert, Stapel und Aktenberge bleiben unberührt.
Anders, wenn jemand im Plenarsaal oder in einem Besprechungsraum etwas liegen gelassen hat – einen Mantel oder einen Schirm oder gar eine Tasche. Solche Sachen bringt Sylvia Chahin dann in die Leitstelle, wo sie wohl verwahrt auf die Besitzerin oder den Besitzer warten. In der sitzungsfreien Zeit dann wird eine Grundreinigung durchgeführt. Alles in allem ein ausgeklügeltes und perfektes System.
Sylvia Chahin macht ihre Arbeit gern. Vor allem auch deshalb, weil sie im Reichstagsgebäude sein kann, viele Menschen sieht, mit manchen von ihnen Kontakt hat und oft Beobachterin von Ereignissen ist, die dann am nächsten Tag in der Zeitung stehen. Wäre sie eine, die das alles nur wenig interessierte, die einfach immer nur Dienst nach Vorschrift machte, die sich nicht der Dinge, die um sie herum geschehen, bewusst wäre, könnte man das Wort "Putze" wohl benutzen. Aber so eine ist sie ja nicht.
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Nur schade, dass man nicht doch – und sei es nur einmal zur Probe – im Reichstagsgebäude vom Fußboden essen darf, wenn Sylvia Chahin ihre Arbeit erledigt hat. Man muss sich mit der Vorstellung begnügen, dass man es könnte.
Kathrin Gerlof