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Was das Erinnern bewirken kann:
Menschlichkeit für die Zukunft lernen
Von Paul Spiegel
Die Erinnerung an die Shoa ist die Erinnerung an Millionen europäischer Juden sowie anderer Opfer, die während des Nazi-Regimes mit so beispielloser Grausamkeit und Systematik ermordet wurden, dass es selbst in der heutigen Medienwelt, die voll von Horror- und Gewaltbildern ist, noch immer unmöglich scheint, darüber zu sprechen. Die Täter schweigen aus Furcht, entdeckt zu werden. Aber auch die Opfer, Überlebende der Shoa, waren lange Zeit außerstande, ihre furchtbaren Erlebnisse in Worte zu fassen. Gleichwohl ist es unerlässlich zu erfahren, was tatsächlich in jenen zwölf Jahren des Nazi-Regimes an Unvorstellbarem geschehen ist.
Erinnern heißt nicht nur zu gedenken und zu mahnen, sondern auch gegen das Verdrängen und Vergessen aktiv tätig zu sein. Dies geschieht auf vielfältige Art und Weise. So hat der amerikanische Regisseur Steven Spielberg eine Dokumentation geschaffen, um Überlebende der NS-Vernichtungslager und Ghettos als Zeitzeugen zu befragen und ihre Erinnerungen in Archiven für die Nachwelt zu erhalten und für die Wissenschaft und Bildung zugänglich zu machen. Die Shoa wird auf diese Weise anhand von authentischen Schicksalen erfahrbar gemacht – sofern dies überhaupt möglich ist. Dies ist umso wichtiger, da es immer weniger Zeitzeugen gibt. Bald werden auch ihre Stimmen verstummt sein und nur noch Bücher, Film- und Tondokumente von den Schrecken der Shoa berichten.
Eine wesentliche Erfahrung der letzten Jahre ist, dass die Überlebenden weder mit den eigenen Kindern, geschweige denn mit Dritten über ihre schrecklichen Erlebnisse gesprochen haben. Einen Verdrängungsprozess gab es also nicht nur auf der Täterseite, sondern auch unter den Opfern. Für die Shoa-Überlebenden spielten zwei Gründe eine gewichtige Rolle: zum einen das Nicht-Belasten-Wollen der Kinder mit der Vergangenheit. Denn natürlich wären Gespräche über die Erlebnisse eine Belastung gewesen. Ein anderer zentraler Grund für ihr Schweigen war die Scham. Wie sollten die knapp den Gaskammern Entkommenen die selbstquälerischen Fragen beantworten: "Was habe ich dagegen getan? Und warum habe ich überlebt und die anderen nicht?" Darüber will und kann man häufig bis heute den Kindern und Enkelkindern verständlicherweise ungern Rede und Antwort stehen.
Mit zunehmendem zeitlichem Abstand zu den Geschehnissen weicht langsam die Sprachlosigkeit. Es kommen mehr und mehr Gespräche zustande. Fast scheint es, als beschäftige man sich heute mehr mit der Zeit der Shoa als noch vor wenigen Jahren. Heute reagieren junge Menschen allerdings auf das Thema Shoa häufig mit der Frage: "Was habe ich denn damit zu tun?" Sie empfinden die Thematisierung der Shoa – und dies hat auch Martin Walser mit seiner Rede in der Paulskirche zum Ausdruck gebracht – als eine Anklage aller Deutschen. Diese Reflektion ist meiner Ansicht nach so falsch, wie es schlimmer gar nicht sein könnte. Es geht nicht um die Schuld derjenigen, die schuldlos sind, da sie nicht zu Tätern geworden sind, sondern vielmehr darum, Lehren aus der NS-Zeit zu ziehen. Wir alle, und dies gilt ganz besonders für die junge Generation, müssen uns im Interesse unserer Gegenwart und insbesondere unserer Zukunft mit der Geschichte befassen. Das bedeutet, sie zu kennen, damit die schreck-lichen Geschehnisse der Vergangenheit sich hoffentlich nicht wiederholen.
Ignatz Bubis sel. A., der im August 1999 verstorbene Präsident des Zentralrats der Juden, hat dies mit einem Satz zutreffend zusammengefasst: "Wenn gerade junge Menschen die Unmenschlichkeit dieser Zeit erfahren, dann können sie daraus Menschlichkeit für die Zukunft lernen."
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Peter Eisenmans Entwurf für das Holocaust-Mahnmal: ein Stelenfeld. |
Um einen Ort des Erinnerns und der Trauer geht es auch in der bereits abgeschlossen geglaubten Diskussion um eine zentrale Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas in Berlin, das sog. Holocaust-Mahnmal. Meiner Ansicht nach muss deutlicher als bisher festgestellt werden, dass wir Juden als die Opfer ein solches Mahn- oder Denkmal nicht brauchen. Wir haben unseren ermordeten Geschwistern, Eltern, Großeltern und anderen Familienangehörigen in unseren Herzen einen dauerhaften Platz der Erinnerung und Trauer geschaffen. Außerdem haben wir seit elf Jahren bereits eine Gedenkstätte in Israel, nämlich Yad Vashem. Trotzdem begrüße ich die Initiative zum Bau dieses Mahnmals für die ermordeten Juden, halte aber die Erwartungen, die daran geknüpft werden, für überzogen. Das Denkmal ist unzweifelhaft notwendig, weil es uns alle mahnen soll, dass sich Derartiges nicht wiederholen darf. Es wird meiner Ansicht nach aber nur eine geringe Funktion für die historische Bewusstseinsbildung haben. Wichtiger sind die authentischen Orte der NS-Verbrechen, die ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager. Mit großer Sorge betrachte ich Ansätze, die ohnehin schmalen Etats der dort entstandenen Gedenkstätten noch weiter zu kürzen. Wir brauchen in Deutschland auch kein Holocaust-Museum wie in Washington oder Los Angeles. Die Shoa ist von Deutschland ausgegangen, sie hat hier stattgefunden, und welche anderen Orte sollten dem Erinnern, Gedenken und Mahnen dienen, wenn nicht die ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager?
Insbesondere die junge Generation sollte diese Gedenkstätten besuchen, denn das Wissen um das, was geschehen ist, entsteht zuerst und am intensivsten an den authentischen Orten der Trauer. Hierbei geht es in erster Linie nicht um die Vermittlung von bloßem Faktenwissen oder die intellektuelle Einsicht, sondern vielmehr um das emotionale Begreifen, sofern dies überhaupt möglich ist. Letztlich kann bei jungen Menschen nur so die Grundlage für eine Haltung gelegt werden, die die einzige mögliche Konsequenz aus den Ereignissen der Shoa ist: der Respekt vor der Unverletzlichkeit des Anderen. Dies gilt ganz besonders dann, wenn uns dieser Andere zuweilen fremd erscheinen mag oder wenn diese Anstrengungen Zivilcourage oder sogar Mut kosten. Nur wenn es gelingt, diese Haltung in der Jugend zu verankern, haben neue Barbaren, selbst in mo-dernster Verkleidung, keine Chance.
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Paul Spiegel, der neue Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, wurde am 31. Dezember 1937 in Warendorf in Westfalen geboren. Er emigrierte 1939 mit seiner Mutter nach Belgien und kehrte 1945 nach Warendorf zurück. Spiegel ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Von 1958 bis 1965 schrieb er zunächst als Volontär und danach als Redakteur für die "Allgemeine Jüdische Wochenzeitung" und war zwischen 1965 und 1972 sowohl Assistent des Generalsekretärs des Zentralrats der Juden in Deutschland als auch Redakteur des "Jüdischen Pressedienstes". In dieser Zeit arbeitete er auch als Korrespondent verschiedener Zeitungen und Zeitschriften (1960-1970). Paul Spiegel war zwischen 1973 und 1974 Chefredakteur der Zeitschrift "Mode & Wohnen" und leitete danach bis 1986 die Abteilung Kommunikation/Presse des Rheinischen Sparkassen- und Giroverbandes. 1986 gründete er eine Künstler-Agentur.
Paul Spiegel widmet einen großen Teil seiner Zeit ehrenamtlichen Tätigkeiten. Er ist u.a. seit 1984 Vorsitzender des Gemeinderates der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und seit 1989 Vorsitzender des Vorstandes der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.
Paul Spiegel war seit 1993 Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und wurde am 9. Januar 2000 zu dessen Präsidenten gewählt. Er ist Träger des Verdienstordens des Landes Nordrhein-Westfalen und des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse.