Menschen im Bundestag
Ein leiser Abschied nach 50 Jahren
Günter Gräff hat ein halbes Jahrhundert im Deutschen Bundestag gearbeitet. Jetzt hört er auf und geht mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
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Günter Gräff, Jahrgang 1937, ist ein leiser Mann. Nicht still, aber leise. Wenn er über sich redet, mag er nicht so recht an die Bedeutsamkeit dessen glauben, was er erzählt. Wäre er ein lauter Mann, sagte er vielleicht, mein Gott, finden Sie das jetzt wirklich wichtig? Mein kleines Leben und davon die letzten fünfzig Jahre? Gräff kokettiert nicht mit sich selbst. Er berichtet mehr, als dass er erzählt.
Denn in diesen Tagen und Wochen beginnt für Günter Gräff ein neuer Lebensabschnitt. Er hat aufgehört zu arbeiten, ist Pensionär, geht von Berlin zurück nach Bonn. Von nun an werden seine Tage anders laufen, nicht mehr getaktet durch den Rhythmus, den die Arbeit im Bundestag vorgibt. Kein Büro mehr, kein Schreibtisch, keine Akten, keine Arbeitsbesprechungen. Es war ja lange so geplant und hat seine Logik. Wenn man 65 ist, hat man ein Recht darauf, anders zu leben. Aber einfach ist es doch nicht – zu gehen, Abschied zu nehmen, anders weiterzumachen.
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Er hat fünfzig Jahre gearbeitet. Na gut, es fehlen zwei Monate. Tatsache aber ist: Die ganzen fünfzig Jahre war Günter Gräff im Deutschen Bundestag beschäftigt. Das ist eine Geschichte, die muss man erst mal finden.
Im April 1952, sieben Jahre nach Kriegsende, begann der damals Fünfzehnjährige in Bonn am Rhein und im Deutschen Bundestag als Jungbote mit seiner Ausbildung. Es war die erste Wahlperiode des Bundestages, der sich am 7. September 1949 konstituiert hatte. Das Jahr 1952 war kein schlechtes Jahr: Nierentische und asymmetrische Vasen begannen ihren Siegeszug, Dekostoffe in abstraktem Design ebenso, Hemingway schrieb „Der alte Mann und das Meer“, die Westalliierten und Deutschland schlossen den Deutschlandvertrag, Elisabeth II. wurde Königin, es gab die ersten Fernsehgeräte mit dem Namen „Mallorca“ zu kaufen, der Bestand an Personenkraftwagen erreichte in der Bundesrepublik Deutschland langsam die Millionengrenze. Zukunft war wieder im Angebot, als Günter Gräff sein Arbeitsleben begann.
Sein erster Arbeitstag war der 1. April, an dem er sich in der Beschaffungsstelle der Verwaltung des Bundestages zu melden hatte, und sein erster Auftrag lautete, das linksrheinische Augenmaß zu holen. Man erklärte ihm kurz den Weg und er zog los in die Buchbinderei, wo man ihm beschied, das linksrheinische Augenmaß sei just an die Hausdruckerei ausgeliehen worden. Fast drei Stunden war der junge Günter Gräff unterwegs, um am Ende doch melden zu müssen, das linksrheinische Augenmaß stünde im Moment nicht zur Verfügung. So wurde er in den April geschickt und zugleich aufgenommen, mit Augenzwinkern zwar, aber auch mit Schulterklopfen.
45 Mark erhielt er monatlich, im zweiten Ausbildungsjahr waren es 52. Er lernte die unterschiedlichsten Bereiche kennen, ging jede Woche zur Schule und machte seinen Abschluss. Nun war er Hilfsamtsgehilfe und begann im Bereich der Besucherbetreuung zu arbeiten. Das war 1954, das Jahr, in dem Theodor Heuss zum Bundespräsidenten wiedergewählt wurde, Hemingway den Literatur-Nobelpreis erhielt, Françoise Sagan „Bonjour Tristesse“ schrieb, bei Bielefeld eine neue Stadt namens Sennestadt gegründet wurde, „Pack die Badehose ein“ von Cornelia Froboess ein Hit war und Deutschland Fußball-Weltmeister wurde.
Dreieinhalb Jahre lang ging Günter Gräff weiter zur Schule, besuchte zwei Verwaltungslehrgänge an der Verwaltungs- und Sparkassenschule und wurde nach dieser berufsbegleitenden Ausbildung als Angestellter im Deutschen Bundestag übernommen. Er begann, für den Petitionsausschuss zu arbeiten, als Sachbearbeiter für Lastenausgleich und Kriegsfolgelasten. Das sei, sagt er noch heute, interessant und weiterbildend gewesen, denn man war mit einem ganz breiten Spektrum von Problemen konfrontiert. Viele Menschen, aber auch Institutionen und Ministerien wandten sich an den Petitionsausschuss – Lastenausgleich und Kriegsfolgelasten waren keine Themen, die von heute auf morgen abgearbeitet oder gar zu den Akten gelegt werden konnten.
Später wurde das Referat Organisation, Justiziariat und Geheimschutz gegründet. Günter Gräff begann im Bereich Organisation, später kamen Justiziarangelegenheiten dazu, vor allem Schadensersatz-, Haftungs- und Regressfragen – verwaltungsinterne Rechtsangelegenheiten also. Mehr Arbeit, mehr Verantwortung bedeutete das. Auch für ihn. Als er noch für den Petitionsausschuss arbeitete, zog man öfter um, in neue Büros. Noch sortierte sich im jungen Plenum alles. Einige Zeit stand sein Schreibtisch auch in einem ehemaligen Bootshaus am Rhein. Irgendwann lief der Fluss über und verschonte auch dieses Bootshaus nicht. Alles stand unter Wasser, und Günter Gräff, der vor Ort war, hatte stundenlang zu tun, die Petitionsakten zu retten. Später zog der Ausschuss samt seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Neubau, den so genannten Langen Eugen, in ein Großraumbüro in der 19. Etage. Das stand zwar auch in Rheinnähe, aber die Hochwassergefahr war dort oben gebannt.
Jeder Ort, an dem Günter Gräff im Bundestag gearbeitet hat, ist heute Teil seiner Erinnerungen. Die Zeit, die er in der Drucksachenstelle tätig war, zum Beispiel auch dadurch, dass damals viele Abgeordnete noch ihre Drucksachen persönlich abholten. Manchmal blieben sie ein paar Minuten, um zu plaudern und einen Kaffee zu trinken. Damals war es noch so, dass zu jedem Tagesordnungspunkt und für jeden Abgeordneten von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Drucksachenstelle eine Plenarmappe zusammengestellt werden musste. Die langen Tische vor dem Plenarsaal, auf denen die Drucksachen ausliegen, gab es noch nicht. Jeder Abgeordnete bekam seine Plenarmappe auch auf seinen Platz gelegt. Günter Gräff brachte damals oft die für Konrad Adenauer bestimmte Mappe ins Kanzleramt.
Er erinnert sich auch gern an die Arbeit im Organisationsbüro. Da gehörte es beispielsweise zu seinen Aufgaben, nach namentlichen Abstimmungen die Stimmkarten zu zählen.
Vor gut zwanzig Jahren dann wurde Günter Gräff „sesshaft“. Er kam in das heute als Justiziariat bezeichnete Referat und blieb dort.
Als der Umzug des Deutschen Bundestages von Bonn nach Berlin feststand, beschloss Günter Gräff mitzuziehen. Hätte er nicht müssen, aber er wollte es so. "Ich habe", sagt er, „mitgeholfen, die parlamentarische Demokratie aufzubauen. Ich habe viele spannende Debatten und Ereignisse miterlebt. Ich habe 50 Jahre Frieden erlebt und die Wiedervereinigung. Da dachte ich, jetzt machst du auch noch den Aufbau in Berlin mit. Es war eine gute Entscheidung. Noch mal so viel Neues, noch mal eine spannende Zeit, das möchte ich nicht missen"
Günter Gräff geht, wie er sagt, mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Er hoffe, sagt er, noch eine gute Zeit vor sich zu haben, nach dieser guten Zeit, die hinter ihm liege.
Nun wird er seine Wohnung in Berlin-Lichterfelde verlassen und nach Bonn zurückkehren. Berlin ist ihm ans Herz gewachsen. Eine laute Stadt zwar, viel lauter als Bonn und vielleicht auch manchmal zu laut für einen leisen Mann. Aber in Lichterfelde zum Beispiel, wo er gewohnt hat, ist es grün und ruhig. Ein guter Kontrast zur belebten Mitte, in die er jeden Werktag gefahren ist, um im Haus Unter den Linden 62–65 zu arbeiten.
Die Abschiedsworte und die Dankesreden sind gehalten. 50 Jahre sind ein halbes Jahrhundert. Dafür ist sowieso jede Rede zu kurz und jedes Abschiedswort zu klein. Vielleicht gestattet man sich einfach ein bisschen Sentimentalität. Das ist auf jeden Fall erlaubt.
Kathrin Gerlof
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„Ich habe mitgeholfen, die parlamentarische Demokratie aufzubauen. Ich habe viele spannende Debatten und Ereignisse miterlebt. Ich habe 50 Jahre Frieden erlebt und die Wiedervereinigung. Da dachte ich, jetzt machst du auch noch den Aufbau in Berlin mit.“