Menschen im Bundestag
Der Herr der Schlüssel
Steffen Seifert verwaltet sämtliche Schlüssel des Deutschen Bundestages. Wer rein oder raus will, kommt an ihm nicht vorbei.
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Steffen Seifert ist ein Mann, der sofort den Eindruck erweckt, man könne ihm die Schlüssel zur eigenen Wohnung anvertrauen, verbunden mit der Bitte, doch ab und zu mal nach dem Rechten zu schauen, wenn man nicht da ist. Dazu muss man nicht mal wissen, dass dem Mann bereits zehntausende Schlüssel in Obhut gegeben wurden. Seine Erscheinung signalisiert einfach nur: Bei mir sind die Dinge gut aufgehoben. Das liegt ganz sicher auch daran, dass er groß und stark aussieht; Typ Fernfahrer oder Polier oder Gastwirt einer Hafenkneipe oder gar Seemann? Genau.
Steffen Seifert ist ein gelernter Seemann, hat die Welt gesehen und die Meere dazu, als Vollmatrose und Bootsmann. Bis nach Brasilien ist er gekommen, auf großen Schiffen, die von Rostock aus in See stachen. Und immer, sagt er, wären die Köche auf den Schiffen gut gewesen. So gut, dass er heute bei diesem Satz mit leiser Selbstironie auf seinen Bauch schaut, ein kleines Schulterzucken andeutet und lacht.
Was aber macht ein Seemann im Deutschen Bundestag?
Noch nie hat jemand versucht, exakt auszurechnen, wie viele Schlüssel zu den Häusern des Bundestages gehören. Eingangsschlüssel, Büroschlüssel, Schlüssel für Konferenzräume, Abstellräume, Diensträume, Umkleideräume, Sitzungssäle, für Flur- und Kellertüren, Schlüssel, mit denen man in Kammern und Teeküchen kommt, in Technikräume und Lagerräume, Schlüssel für Schränke, Sicherungskästen, Schreibtische, Postfächer, Rollcontainer, Seifen- und Papierspender.
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Steffen Seifert meint, dass es alles in allem gut und gern 100.000 Schlüssel sein können. Vor dieser Zahl kapituliert man dann erst einmal und denkt: Nein, 100.000 ist wirklich ein bisschen hoch gegriffen. Wo sollen die denn alle untergebracht sein und wer könnte da noch den Überblick behalten und wie werden denn diese ganzen Schlüssel in Umlauf gebracht, wer hat die Kontrolle über den Kreislauf? Wer beschriftet die tausenden kleinen Schlüsselschilder und wer überhaupt soll am Ende noch wissen, wo sich gerade welcher Schlüssel befindet und ob er noch ins dazugehörige Schloss passt?
Für die Beantwortung all dieser Fragen und die Lösung jedes damit aufgeworfenen Problems ist die Schlüsselverwaltung des Bundestages verantwortlich, zugeordnet dem Bereich Liegenschaften und Gebäudetechnik (ZT 3) und geleitet von Steffen Seifert, dessen zweiter Mann und engster Mitarbeiter ein Namensvetter ist, auch ein Seifert. Wobei, das versichern die beiden, die Namensgleichheit nicht als Voraussetzung für die Zusammenarbeit galt.
Die Frage nach der Unterbringung aller Schlüssel ist mit einem Blick in die Büros der Schlüsselverwaltung zu klären. Groß scheinen die Räume nicht, ein Tresen gleich hinter der Eingangstür, auf dem ein schwarzer Bundesadler Respekt heischend prangt, bietet die Möglichkeit, sich als Kunde zu fühlen. Es gibt reguläre Öffnungszeiten, zu denen jeder kommen kann, der Schlüssel abzuholen oder abzugeben, auszutauschen oder deren Verlust zu melden hat.
Hinterm Kundentresen stehen die Tische, an denen alle Schreibarbeiten erledigt werden, die mit dem Dienst einer Schlüsselverwaltung zusammenhängen. Es gibt Karteikarten, auf denen alle wichtigen Informationen vermerkt sind, die zu einem Schlüssel und seiner Bestimmung gehören. Sonst herrschte ja auch ein heilloses Durcheinander, gäbe es hier keine Ordnung. Und natürlich muss mit einer Unterschrift quittiert werden, wenn jemand einen Schlüssel entgegennimmt oder abgibt. Das alles erfordert also eine Menge Schreibarbeit und vor allem Ordnungsprinzipien, die besser funktionieren als das Familienschlüsselbrett, an dem manchmal auch Schals, Mützen, Halsketten oder Brottaschen hängen, nur der Kellerschlüssel nicht. Der liegt im Schuhschrank.
Der Kundenraum ist also das eine. Hier versieht Steffen Seifert regelmäßig seinen Dienst und ist in diesen Stunden im wahrsten Sinne des Wortes ein Dienstleister, so wie seine Kollegen auch – freundlich, schnell, kompetent und verständnisvoll.
Zur Schlüsselverwaltung gehören auch als Herzstück des Bereiches jene Räume, in denen viele hohe Stahlschränke stehen. Das sind Sonderanfertigungen, die ursprünglich zum Aufbewahren von Schrauben, Muttern, Haken, Ösen, Nägeln, Krampen, Unterlegscheiben, Dichtungsringen, Dübeln und Diversem gedacht waren. Nun gleiten auf Schienen riesige Schlüsselbretter aus den Schränken, versehen mit Haken. 24 Haken waagerecht und 15 senkrecht, macht 360. Jeder Haken mit einem Schlüsselbund bestückt, das fünf Schlüssel enthält, macht 1.800 Schlüssel pro Schub. Jeder Schrank enthält mehrere Schübe.
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Im Angesicht der zahlreichen Schränke in den Räumen gerät die Seifertsche Schätzung von 100.000 Schlüsseln insgesamt in den Bereich des Denkbaren. Er wird wohl Recht haben, und mit diesem Eingeständnis fragt man sich zugleich, wer bitte schön rund 36.000 Schlüsselschilder, für jedes Fünferbund eines, beschriftet hat. In einem der Räume sitzt eine studentische Aushilfskraft, die genau das tut: kleine weiße Papierstreifen, auf denen Zahlen und Buchstaben stehen, in die bunten Plastikanhänger schieben und jeden Anhänger an genau das richtige Schlüsselbund hängen. Ein beneidenswerter Job sei das nicht, sagt man, und der Student grinst und erwidert, er finde es gar nicht schlecht, sich auf diese Art und Weise sein Geld zu verdienen, solange er studiere.
Da muss der Umzug der Abgeordneten in die neuen Häuser ihm gerade recht gekommen sein, denn diese Zeit hat auch den Mitarbeitern der Schlüsselverwaltung einiges abverlangt und einige Nerven gekostet. Oft ist es ja so, dass erst in Umzugszeiten klar wird, wo welche Schlüssel fehlen oder nicht mehr funktionieren. Manch einer hat schon fast vergessen, dass er im vorigen Sommer zum letzten Mal den Schlüssel für den Rollschrank in der Hand gehabt hatte. Danach war das Stück verschwunden. Dann gehen die Leute in die Schlüsselverwaltung und melden den Verlust. Steffen Seifert lächelt und legt kurz die rechte Hand auf die Brust: Verraten wird er die Glücklosen nicht. Es muss so gewesen sein, dass seine gelassene Art da genau richtig war, seine Akribie und die aller Kollegen dazu.
Zu guter Letzt gehört zum Bereich auch eine kleine Werkstatt, in der einfache Schlüssel gefertigt werden können und Schlüssel repariert werden, die nicht mehr passen, plötzlich haken und sich nicht drehen lassen im Schloss. Solche Dinge erledigt Steffen Seifert selbst, hat er doch, damals als Bootsmann, unter anderem auch die Schließanlage auf einem Schiff verwaltet und später, als er abgeheuert hatte, bei einem Schlüsseldienst in Berlin gearbeitet. Dort hörte er irgendwann, dass im Bundestag jemand für die Schlüsselverwaltung gesucht werde. Er bewarb sich und bekam die Arbeit und ging erst nach Bonn, um dann zurück nach Berlin zu kommen, die Stadt, in der er 1962 geboren wurde und aufgewachsen ist. Übrigens war er im Bundestag mit der erste, der von Bonn nach Berlin zog. Logisch, denn ohne Schlüssel wären alle Neuankömmlinge obdachlos gewesen. Nicht ganz vielleicht, aber zumindest bürolos.
Steffen Seifert mag seine Arbeit sehr. Das liegt vielleicht auch an der Art der Dienstleistung, die er offeriert: Schlüssel haben doch was sehr Symbolisches. Wer die Schlüsselgewalt hat, ist zugleich immer auch Vertrauensperson. Das gefällt auch dem bescheidenen Mann. Zu Recht.
Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier