Essay
Ein gutes Parlament
von Wolfgang Thierse
Seit Ende 1998 hat der Bundestag weit über 800 Gesetzesvorhaben behandelt, davon über 500 als Gesetze verabschiedet. Schon diese blanken Zahlen belegen es eindrucksvoll: Der Deutsche Bundestag war auch in der nun zu Ende gehenden 14. Legislaturperiode ein fleißiges Parlament. Aber war er auch ein gutes Parlament?
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Der Bundestag hat in den vergangenen vier Jahren Entscheidungen getroffen, die zu den bedeutendsten der jüngeren Parlamentsgeschichte gehören. Einen Monat nach der Bundestagswahl 1998 stimmte eine überwältigende Mehrheit der Abgeordneten für den Einsatz deutscher Soldaten im Kosovo. Niemand hatte sich die Entscheidung leicht gemacht, niemand war ohne Zweifel. Doch im Bewusstsein, dass eine militärische Intervention notwendig geworden war, um Menschlichkeit, Recht und Frieden wiederherstellen zu helfen, bewies das deutsche Parlament Mut und Entschlossenheit. Der internationale Einsatz der Bundeswehr hat den 14. Bundestag wie kaum ein anderes Thema beschäftigt, und es wird, gerade nach dem 11. September 2001, den Bundestag auch in Zukunft nicht loslassen.
Die Skepsis mancher, der Bundestag würde nach seinem Umzug in das Reichstagsgebäude im Jahr 1999 unselige Traditionen des Wilhelminismus wiederaufnehmen oder in neudeutscher Selbstgefälligkeit die innenpolitischen Aufgaben verdrängen, löste sich im Zeitlauf des parlamentarischen Alltags auf. Es waren dabei nicht nur die zum Teil heftigen Auseinandersetzungen um verschiedene Gesetzesvorhaben der neuen Bundesregierung, die die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar berührten und heiß diskutiert wurden. Die Stichworte Atomausstieg, Zuwanderung, eheähnliche Gemeinschaften, 630-Mark-Jobs, Agrarwende, Riester-Rente etc. erinnern daran. Vielmehr noch waren es die bald als "Sternstunden" bezeichneten Debatten um ethisch komplexe Themen wie zum Beispiel die Stammzellenforschung, die die Rolle des Parlaments als "Forum der Nation" bekräftigten. Dass die Dinge dort, wo sie entschieden werden, auch diskutiert werden müssen, ist eine Binsenweisheit, an die zu erinnern während der vergangenen vier Jahre immer wieder lohnte. Dabei liegt es an den Abgeordneten selbst, der in den letzten Jahren stärker gewordenen Klage über die Verlagerung politischer Debatten in die Medien oder gar Talk-Shows zu begegnen und die Autorität des Parlaments als den zentralen Ort der demokratischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zu festigen.
Anlass zur Schwarzmalerei besteht gleichwohl nicht. Das Ansehen des Bundestages in der Bevölkerung dürfte gestiegen sein. Jährlich wird das Internet-Angebot des Bundestages 40 Millionen Mal aufgerufen – Tendenz steigend -, Zehntausende Menschen strömten während der Tage der Ein- und Ausblicke in das Parlament, seit 1999 haben 5,7 Millionen Menschen das Reichstagsgebäude und seine Kuppel besichtigt. Ein so beharrliches Interesse lässt sich wohl nicht nur aus der Freude über eine gelungene Homepage oder die schöne Kuppelaussicht erklären. Ohne ein – vielleicht unausgesprochenes – "Ja" der Besucher zum Deutschen Bundestag ist dieser Andrang kaum zu deuten.
Noch höher ist die Reputation des Bundestages im Ausland. Das hängt mit der seit 1998 weiter gewachsenen Verantwortung Deutschlands in der Welt zusammen, ist aber auch eine Dividende der stabilen parlamentarischen Ordnung Deutschlands – keine Selbstverständlichkeit, wie die vergangenen hundert Jahre belegen. Ihren auffälligen Ausdruck findet die international hohe Wertschätzung des deutschen Parlaments in den Besuchen und Reden höchster staatlicher Repräsentanten im Bundestag: Zuletzt, am 23. Mai, US-Präsident George W. Bush, davor, am 28. Februar, UN-Generalsekretär Kofi Annan, am 25. September 2001 der russische Präsident Wladimir Putin, am 27. Juni 2000 Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac und – als Stippvisite – die britische Queen Elizabeth II. am 18. Juli 2000.
Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit unter den Bedingungen der europäischen Erweiterung und der Globalisierung zu sichern und auszubauen, das war das große Aufgabenfeld auch des 14. Deutschen Bundestages. Je deutlicher hier Erfolge gelingen, das heißt, je größer die Teilhabe am Arbeitsmarkt, an den neuen Technologien, an Bildung und Ausbildung ausfällt, desto geringer bleibt die Gefahr durch extremistische Vereinfacher, desto gefestigter das Fundament unserer Demokratie. Daran gemessen bin ich sicher: Der 14. Deutsche Bundestag war ein gutes Parlament!