Türkischsprachige Zuwanderer leben häufig in zwei Welten: Morgens Deutschland - abends Türkei. Ein Teil der türkischen Jugendlichen gerät bei der Begegnung mit der westlichen Kultur und Lebensorientierung in Interessen- und Gewissenskonflikte. Ungenügende Bildungschancen, geringer Zugang zu Arbeits- und Ausbildungsplätzen und schlechte berufliche Perspektiven führen Migranten-Jugendliche zu denen, die ihnen Anerkennung und Selbstwertgefühl vermitteln: türkischen Rechtsextremisten, Nationalisten und islamischen Fundamentalisten. Das ist die Grundthese, die Kemal Bozay in seinem lesenswerten sozialwissenschaftlichen Buch "...ich bin stolz, Türke zu sein!" kenntnisreich darlegt.
Junge Migranten der zweiten oder dritten Generation sind in Deutschland geboren und zur Schule gegangen. Dennoch verfügen nicht alle über gleiche Chancen: Manche fühlen sich bei der Vergabe von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen benachteiligt, machen Erfahrungen von Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskriminierung. Die Folge: Rückzug in die Familie, den Freundeskreis, Vereine, kulturelle Zentren und Ghettos.
Je stärker die eigene Diskriminierung erfahren werde und je eindringlicher die traditionellen Erziehungs- und Wertvorstellungen in den türkischen Familien vermittelt würden, desto größer sei die Gefahr, dass sich Migrantenkinder aus der deutschen Gesellschaft zurückzögen und sich in ihren eigenen Gemeinschaften wiederfänden, betont Kemal Bozay, der diese Dissertation an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln geschrieben hat.
Vor allem in sozialen Brennpunkten, in türkischen Wohnvierteln und Ghettos, so argumentiert der Autor, stießen ethnisch-nationalistische und islamistische Organisationen auf Resonanz. In diesen Organisationen kämen nicht nur politische Fanatiker und religiöse Eiferer zusammen, sondern auch Jugendliche, die sich von den Werten und Lebensweisen des Aufnahmelandes abschotteten. Seine empirischen Untersuchungen und aufschlussreichen Interviews mit Jugendlichen unterstreichen Bozays Sichtweise.
Doch welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die politische Bildung? Diese Frage kommt in der Analyse leider etwas zu kurz. Hier hätte der Autor konkrete Möglichkeiten, zum Beispiel in der Schule, veranschaulichen können.
Dies leistet das Handbuch "Schule in der Einwanderungsgesellschaft" von Rudolf Leiprecht und Anne Kerber. Die Grundthesen des umfassenden und informativen 480-Seiten-Werks lauten: Schule kann Kinder und Jugendliche anleiten, interkulturelle Verständigungen einzuüben, Vorurteile und Stereotypisierung abzubauen sowie Konflikte friedlich zu klären. Soziale und interkulturelle Kompetenzen müssen in den Strukturen, Abläufen und Konzepten der Institution Schule verankert sein. Eine interkulturelle Bildung ist Teil der allgemeinen Bildung und sollte Bestandteil pädagogischer Studien- und Ausbildungsgänge sein.
Nach einem eher theoretischen Überblick über Migrationsgeschichte, interkulturelle Pädagogik und Probleme von Migranten beschäftigen sich die 25 lesenswerten Beiträge renommierter Autoren mit der Frage, welche Folgen sich aus den gesellschaftlichen Veränderungen für das Bildungs- und Erziehungssystem ergeben. Die Bereiche Deutsch als Fremdsprache, Mehrsprachigkeit und interkulturelle Erziehung werden anschaulich vermittelt und Vorschläge für die Unter- richtspraxis entwickelt. Die Autoren mahnen zudem die frühe und gezielte Sprachförderung von Migrantenkindern mehr als deutlich an.
Im internationalen Vergleich zeigte sich, dass Migrantenkinder in Ländern mit weniger selektiv ausgerichteten Bildungsstrukturen und individuellen Förderkonzepten deutlich bessere Lernergebnisse erzielen, betonen die Autoren. Die Gründe für Bildungserfolg beziehungsweise Benachteiligung von Migrantenkindern sind vielfältig: Der Verlauf des Migrationsprozesses; die Sicherheit des Aufenthaltsstatus; die soziale Herkunft und der Sozialstatus im Aufnahmeland; die Bildungsbiografien der Eltern; das Umfeld, in dem die Familien leben; die Schule, die Förderkonzepte organisiert; die Lehrer, die sich um die Kinder kümmern.
Lerninhalte und -materialien müssen aus interkultureller Perspektive überprüft und weiterentwickelt werden. Didaktisch-methodische Konzepte für ein fächerverbindendes Lernen, kooperationsfördernde Methoden im Unterricht und gezielte Förderangebote gehören zu den keineswegs neuen aber dennoch wichtigen Forderungen der Autoren. Dass sinnvolle Förderangebote wegen der knappen Lehrerstellen an vielen Schulen leider nur unzureichend realisiert werden können, gehört zum real existierenden Schulalltag.
Die Schulpraxis hätten die Autoren noch etwas genauer ins Blickfeld nehmen können. Unter den 24 Autoren des Handbuches ist der größte Teil an Universitäten und Forschungseinrichtungen tätig. Nur zwei Lehrerinnen arbeiten in der Schule. Deren Beiträge sind dann auch erfrischend praxisnah. So berichtet Claudia Schanz über konkrete Unterrichtsprojekte und zeigt, wie sprachliche und kulturelle Vielfalt im Unterricht, an außerschulischen Lernorten, im Schulleben und in Kooperation mit europäischen Partnerschulen fächerübergreifend entwickelt werden kann.
Insgesamt ein für Bildungspolitiker und Pädagogen lesenswertes Buch. Als Textfundgrube für Oberstufenkurse in den Fächern Pädagogik und Sozialwissenschaften empfehlenswert.
Kemal Bozay
"… ich bin stolz, Türke zu sein!"
Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte im Zeichen der
Globalisierung.
Wochenschau-Verlag, Schwalbach/Ts. 2005; 391 S., 29,80
Euro
Rudolf Leiprecht, Anne Kerber (Hrsg.)
Schule in der Einwanderungsgesellschaft.
Ein Handbuch.
Wochenschau-Verlag, Schwalbach/Ts. 2005; 478 S., 34,80
Euro