essay
Nur ein Lidschlag der Geschichte
Von Joachim Gauck
Vor einigen Wochen haben wir uns getroffen: Abgeordnete der Volkskammer der DDR von 1990, Bürgerrechtler, Journalisten und Politiker. Wir haben in der Bartholomäus-Kirche in Berlin Friedrichshain miteinander diskutiert. Eingeladen hatte meine Behörde, und die Veranstaltung stand unter dem Thema "Die Öffnung der Stasi-Akten – Intentionen und Erfahrungen". Es sollte erinnert werden an den 24. August 1990, den Tag der Verabschiedung des Volkskammergesetzes über den Umgang mit den Unterlagen der Staatssicherheit. Fast alle Abgeordneten hatten damals für das Gesetz gestimmt, das die Akten öffnete für die politische, juristische und historische Aufarbeitung der Vergangenheit. Wir haben Erinnerungen zusammengetragen und natürlich auch wieder gestritten. Ich finde es nach wie vor erstaunlich, wie unterschiedlich Erinnerung funktioniert.
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Stasi-Akten: In bisher unbekanntem Ausmaß öffentlich zugänglich. |
Nun ist es Herbst 2000, und es ist das Jahr der Bilanzen: zehn Jahre Volkskammergesetz, zehn Jahre Einigungsvertrag, zehn Jahre deutsche Einheit. Für mich persönlich fügt sich dem noch ein wichtiger Punkt hinzu – seit zehn Jahren übe ich das Amt des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR aus, und am 3. Oktober ist meine Amtszeit nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz zu Ende. Anlässe, Rückschau zu halten, gibt es also genug. Wo stehen wir heute? Wie geht es uns und unserem Land? Und warum sind wir von dem, was sich nicht nur rein organisatorisch deutsche Einheit nennt, heute immer noch ein gutes Stück entfernt?
Der Enthusiasmus der ersten Monate, vielleicht Jahre, ist verflogen. Manch einer – in Ost und West – möchte sogar die Mauer wieder errichten, nur diesmal fünf Meter höher, als sie vorher war. Unsere Vorstellung war trügerisch, dass es ausreichen würde, die Grenzanlagen abzubauen und ein paar Verwaltungsstrukturen zu ändern, und schon wäre alles in schönster Ordnung. Mit der eigentlichen Kleinarbeit sind Probleme entstanden, die in den ersten Jahren noch gar nicht erkennbar waren. Wir Deutschen sind uns in 40 Jahren des Getrenntseins doch fremder geworden als es zu vermuten war – glücklicherweise haben wir das vor zehn Jahren noch nicht wissen können.
Wenn ich während meiner Vortragsreisen im Osten bin, wenn ich mit den Menschen dort spreche oder auch, wenn ich einfach nur meine Heimatstadt Rostock besuche, höre ich seit einigen Jahren immer häufiger den Satz "Es ist aber auch nicht alles schlecht gewesen". Wer alt genug ist, kennt diese Formel aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ich habe mich oft gefragt, warum sich die Dinge so entwickelt haben. Ich versuche, die Situation zu analysieren und Parallelen zur Zeit der jungen Bundesrepublik in den Nachkriegsjahren herzustellen. Die Auffassungen und Meinungsäußerungen damals und heute ähneln sich in auffälliger Weise. Diese Erkenntnis hilft mir, das "Warum" der manchmal ablehnenden Haltung vieler Ostdeutscher besser zu verstehen. Und sie zeigt mir, dass wir auf unserem Weg noch am Anfang stehen.
Zehn Jahre sind für einen Menschen eine lange Zeit. Aber sie sind letzten Endes nur ein Lidschlag der Geschichte und viel zu kurz für das Wachsen einer gemeinsamen demokratischen Tradition. Die große Mehrheit der Ostdeutschen wollte 1990 das bewährte Neue – das funktionierende westliche Politik- und Wirtschaftsmodell. Angesichts der Alternativen war dies überaus vernünftig. Aber gleichzeitig hat die Umgestaltung, die ja – da machen wir uns nichts vor – vor allem den Osten Deutschlands betraf, in Umfang und Tempo die Seelen sehr, sehr vieler überfordert. Mit der Bundesrepublik und dem Westgeld kamen eben nicht gleich bei allen auch gesamtdeutsche Gefühle. Schritt für Schritt wurde das Ja zur Einheit und zum freiheitlichen Gemeinwesen ergänzt durch Empfindungen der Unsicherheit, des Verlustes und der Fremdheit. Ist das verwunderlich bei Menschen, die mitunter ihr ganzes bisheriges Leben in Frage gestellt sahen? Es geht mir nicht darum, diese Haltung zu bewerten. Wichtig ist, dass wir ihrer bewusst werden, sie verstehen lernen. Gewachsene Mentalität verwandelt sich erheblich langsamer, als Wissen und Intellekt sich ändern und erweitern können.
Das Beharrungsvermögen hat seine schlechten, manchmal auch seine guten Seiten. Jahrzehnte der Diktaturen und ihrer Bespitzelungssysteme haben es beispielsweise nicht vermocht, die Menschen glauben zu machen, es sei normal, den Arbeitskollegen, Nachbarn oder sogar den Freund zu verraten. Auch in den späteren Jahren der DDR noch sagten Unzählige nein, wenn sie als Spitzel für den Staatssicherheitsdienst angeworben werden sollten. Der menschliche Anstand und die Zivilcourage haben überlebt. Wir können das tausendfach in den Akten, die meine Behörde verwahrt und in die sie Betroffenen und anderen Einsicht gibt, nachlesen.
Dass wir dies heute tun können, haben wir auch dem ersten gesamtdeutschen Bundestag zu verdanken, der unmittelbar nach der Herstellung der Einheit damit begann, ein Gesetz über die Öffnung und Verwendung der Stasi-Unterlagen zu erarbeiten. Dieses Gesetz basiert auf den von der Volkskammer im August 1990 gesetzten Prämissen – jeder Bürger sollte erfahren können, ob und welche Daten die Staatssicherheit über ihn gesammelt hatte, gleichzeitig sollten die Akten zur politischen, historischen und juristischen Aufarbeitung verwendet werden. Ende 1991 wurde das Gesetz mit einer geradezu überwältigenden Mehrheit vom ersten gesamtdeutschen Parlament verabschiedet. Vergessen wir nicht, dass dieses Gesetz, das die Akten einer Geheimpolizei in bisher nicht gekanntem Umfang zugänglich macht, keineswegs eine Selbstverständlichkeit war und ist. Noch heute sollten wir den Abgeordneten dankbar sein, dass sie sich gegen vielerlei Bedenken und Vorbehalte auf auch für sie unbekanntes Terrain wagten.
Das Stasi-Unterlagen-Gesetz darf als Meilenstein bürgernaher Gesetzgebung betrachtet werden. Wenn ich die Zahl der Anträge anschaue, die in meiner Behörde eingegangen sind und noch immer eingehen (bis jetzt rd. 4,7 Mio.), kann man feststellen, dass die deutsche Öffentlichkeit das Gesetz umfassend angenommen hat. Auch an solche Glücksfälle dürfen wir in diesen Tagen einmal denken, und wir dürfen uns auch darüber freuen.
Jedem Land, das von einer Diktatur zur Demokratie übergeht, stellt sich die Frage: Wie halten wir es mit der Vergangenheit? Lassen wir sie ruhen und laufen Gefahr, dass sie sich wiederholt? Decken wir sie auf und laufen damit eventuell Gefahr, die Gegenwart mit alten Problemen zu befrachten? Wir Deutschen haben uns dafür entschieden, uns unserer Vergangenheit zu stellen. Diese Verantwortung übernehmen wir nun zum ersten Mal gemeinsam und zum ersten Mal in voller Eigenständigkeit. Dass dies nicht einfach ist, haben wir in den letzten zehn Jahren in der allgemeinen öffentlichen Auseinandersetzung spüren können. Ich bin froh, dass die breite Koalition der Vernunft, die sich im Deutschen Bundestag im Jahr 1991 zu diesem Thema zusammengefunden hat, über alle Höhen und Tiefen und auch über einen Regierungswechsel hinweg bis heute erhalten geblieben ist. Es gibt auch keinerlei Anzeichen, dass politische Gruppierungen diese Koalition in Zukunft aufkündigen werden.
Zehn Jahre deutsche Einheit haben es mit sich gebracht, dass Dinge zur Selbstverständlichkeit geworden sind, die wir Ostdeutschen uns vor elf oder zwölf Jahren nur in den allergeheimsten Träumen vorstellen konnten. Ich denke an den Rechtsstaat, das Recht auf freie Meinungsäußerung, freie Wahlen, ich meine eine Gewaltenteilung, die nicht nur auf dem Papier existiert, ich meine eine Verfassung, die die Würde des Menschen und die Menschen- und Bürgerrechte tatsächlich schützt, ich meine Pressefreiheit, die eine Kritik an Missständen wirklich zulässt. Doch wenn Unfreiheit überwunden ist, verblassen bald die Vorteile der Freiheit.
Als ich am 9. November des vergangenen Jahres im Rahmen der Sondersitzung des Deutschen Bundestages zum zehnten Jahrestag des Falls der Mauer in Berlin sprechen konnte, habe ich gesagt, wir hätten damals vom Paradies geträumt und seien in Nordrhein-Westfalen erwacht. Ich bin mir sicher, dass Nordrhein-Westfalen eine gute Alternative war. Und ich habe im Deutschen Bundestag an etwas Großes erinnert.
Die Menschen dieser Nation haben sich vor zehn Jahren gegenseitig beschenkt. Der Freiheitswille der Ostdeutschen und die Demokratieerfahrung der Westdeutschen haben uns Deutschen eine neue Ära beschert. Darauf können wir aufbauen, und wir dürfen uns nicht beunruhigen lassen, wenn viele von uns eine längere Zeit brauchen, um sich an das Neue zu gewöhnen, vertraut zu werden mit ihm. Der 3. Oktober 2000 ist eine Wegmarke, die uns zur Rückschau veranlasst. Oft wird darüber geklagt, dass zu vieles nicht gelungen sei. Aber dass uns Probleme drücken und manches Ziel noch nicht erreicht ist, sollte uns nicht hindern, uns über die Entwicklung zu freuen, die wir im Osten einst so entschlossen eingeleitet haben.
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Joachim Gauck. |
Joachim Gauck, der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, wurde 1940 in Rostock geboren. Nach dem Abitur studierte er Theologie. Als Pfarrer war er Mitinitiator des kirchlichen und öffentlichen Widerstandes gegen die SED-Diktatur. In die Volkskammer zog er als Abgeordneter der Bürgerbewegung im März 1990 ein.
Am 3. Oktober 1990 beriefen Bundespräsident und Bundeskanzler ihn zum "Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes". Seine Amtszeit ist auf zehn Jahre befristet, geht also in diesen Tagen zu Ende.
JOACHIM GAUCK ist 1991 mit der Theodor-Heuss-Medaille ausgezeichnet worden. Im Oktober 1995 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Die Universität Rostock verlieh ihm im Januar 1999 die Ehrendoktorwürde. Im Juli 2000 erhielt er den Dolf-Sternberger-Preis für öffentliche Rede.