Grund zum Feiern
Von Wolfgang Thierse
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Wolfgang Thierse. |
Wegen seiner real existierenden Geschichte hat Deutschland kein großes Glück mit seinen politischen, seinen nationalen Anlässen zum Feiern. Früher nicht und nach dem Nationalsozialismus erst recht nicht. Militärische Siege dienen keiner guten Sache, Niederlagen sorgen nicht für rechte Feierstimmung, selbst wenn man für ihre Folgen dankbar sein kann. Wie lange hat es gedauert, bis der 8. Mai 1945 nicht bloß als Niederlage, sondern auch als Befreiung und einmalige Chance zur Freiheit gewürdigt werden konnte? Wer erinnert sich nicht da-ran, dass nie eine Form gefunden wurde, die Niederlage des Arbeiteraufstands in der DDR am 17. Juni 1953 angemessen zu begehen?
Auch der 3. Oktober wird als Nationalfeiertag immer wieder in Frage gestellt, weil das Datum nur an den amtlichen Vollzug der deutschen Einheit erinnere und symbolisiere und nicht den eigentlichen kollektiven Glücksmoment, den "Wahnsinn" des 9. November 1989, als die Mauer sich öffnete. Der 9. November ist eben mit einer anderen Erinnerung belegt: an die Reichspogromnacht, den Beginn der organisierten Vernichtung der europäischen Juden durch Nazi-Deutschland. Unser deutscher Glückstag fällt auf einen Tag deutscher Schande. Und wie sollte man zugleich der Schande innewerden können und ein viel späteres Glück feiern? Das geht nicht.
Dem gegenüber erscheint der 3. Oktober als ein eher willkürliches Datum. Dieser Feiertag muss den Verdacht loswerden, er sei bloß das Denkmal, das die "politische Klasse" sich selbst gesetzt habe. Aber über diese Brücke lässt sich doch gehen: Dass der 3. Oktober, also der staatliche Vollzug der Vereinigung, ohne die gewaltfreie Revolution der nach dem Westen, nach der Demokratie drängenden Bürger der DDR, ohne den 9. November, als sich "Ossis" und "Wessis" glücklich in den Armen lagen, undenkbar gewesen wäre.
Was war geschafft: Deutschland war vereinigt, es war und bleibt umringt von Freunden, die Bündnispartner wurden, wenn sie es nicht schon waren, und die früher oder später Mitstreiter, Partner in der Europäischen Union sein werden, so sie es noch nicht sind. Das ist wirklich ein großes historisches Glück am Ende eines unglücklichen, ja bösen deutschen Jahrhunderts. Das ist Grund zum Feiern – und das ist hoffentlich immer wieder Anlass nicht nur zur "Denkmalpflege", sondern zum Nachdenken über eine friedliche gemeinsame Zukunft in Europa – und in Freiheit.
Nach manchen Kleinlichkeiten der letzten Wochen sollte auch deutlich sein: Der 3. Oktober ist kein Gedenktag nur einer Partei oder Person, sondern aller Deutschen (und Europäer, die doch auch nicht unbeteiligt waren am Gelingen der Einheit). Wir können an diesem Tag wirklich feiern, nämlich eine wahrhaft glückliche Wendung der deutschen Geschichte, die uns auf eine friedliche europäische Zukunft verpflichtet.