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Rückblick auf zehn gesamtdeutsche Jahre
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Plattenbauten in Leipzig: Nach der Sanierung mehr Farbe und Komfort. |
Seit zehn Jahren haben die Deutschen aus Ost und West wieder eine gemeinsame Volksvertretung. Am 4. Oktober 1990 hatte der Bundestag in Berlin erstmals als gesamtdeutsches Parlament getagt, nachdem in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober die Vereinigung der beiden deutschen Staaten rechtlich vollzogen worden war. Die frei gewählte Volkskammer hatte vor ihrer Selbstauflösung 144 ihrer Mitglieder in den Bundestag delegiert.
Blickpunkt Bundestag hat Abgeordnete aus allen fünf Fraktionen, die die damalige Zeitenwende hautnah miterlebt hatten, um Beiträge für das "Forum" gebeten. Wir wollten erfahren, welche Erwartungen sie selbst und die Bürger ihres Wahlkreises vor zehn Jahren an das vereinigte Deutschland knüpften und welche Erfahrungen sie seitdem gemacht haben. Die Antworten sind differenziert, zum Teil sehr persönlich und alles in allem ermutigend.
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Sabine Kaspereit, SPD sabine.kaspereit@bundestag.de |
Viele der Bürgerwünsche sind erfüllt
Als "gelernte DDR-Bürgerin" kannte ich auch schon zu DDR-Zeiten die Sorgen und Nöte der Menschen, war ich doch davon immer gleichermaßen betroffen. Dass ich meine Mitbürgerinnen und Mitbürger einmal politisch in einem Parlament vertreten würde, hätte ich mir natürlich damals nicht träumen lassen, denn politische Arbeit nach der Art der SED wäre mir nie in den Sinn gekommen.
Die Montagsdemonstrationen in Leipzig haben mich mitgerissen, und die politischen Folgen haben mein Leben auf den Kopf gestellt. Der Gedanke, nun die Geschicke meines Landes mitgestalten zu können, ja, zu müssen, setzte sich in meinem Kopf fest. Wie das gehen sollte und was sich aus diesem Engagement entwickeln würde, wusste ich damals nicht.
Mit der Umstrukturierung kamen die Arbeitslosen
Nachdem ich im Januar 1990 in die SPD eintrat und sogleich Ortsvereinsvorsitzende wurde, "übten" wir am Ereignis der ersten freien Volkskammerwahlen die demokratischen Spielregeln. Und nach den Kommunalwahlen im Mai 1990 war ich plötzlich Bürgermeisterin meiner Heimatgemeinde, weil der frisch gewählte Gemeinderat der Meinung war, wer die meisten Stimmen hat, solle auch Bürgermeisterin sein. Dies ohne jede Verwaltungserfahrung hauptamtlich zu leisten (neben meinem Beruf als Schulzahnärztin) war eine ungeheure Herausforderung, der ich mich zunächst nur widerstrebend stellte.
Die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger waren ebenso riesig wie die meinen. Unser Dorf sollte ein schöneres Gesicht bekommen, die Straßen sollten ausgebaut und Wohnungen sollten modernisiert werden. Das Dorf benötigte endlich ein vollständiges Trinkwassernetz. Wir brauchten eine Kläranlage, saubere Luft und sauberes Wasser. Die Einkaufsmöglichkeiten und die Straßenbeleuchtung ließen ebenfalls Wünsche offen, wie so vieles, was im Westen selbstverständlich war und worüber sich dort die Menschen keine Gedanken mehr machten.
Das waren die eher äußerlichen Dinge. Viel schwerer wiegende Probleme kamen, nachdem die erste Euphorie vorüber war - die Umstrukturierung der Wirtschaft bescherte die ersten Arbeitslosen, und es wurden immer mehr. In Sichtweite meines Dorfes steht das Leuna-Werk, damals Arbeitgeber für mehr als 30 000 Menschen, deren Zukunft plötzlich mit vielen Fragezeichen versehen war.
Das wurde meine neue Herausforderung! Ich bin 1994 in den Bundestag gekommen mit dem Anspruch, mit meiner Arbeit im Wirtschaftsausschuss diese Herausforderung anzunehmen, weil nur über eine funktionierende Wirtschaft auch die sozialen Probleme in den Griff zu bekommen sind.
Wir brauchen noch die Hilfe aus den alten Ländern
Wenn ich heute durch mein Dorf gehe, sind viele Bürgerwünsche erfüllt. Mein Dorf hat ein schönes Gesicht, die Luft ist klar und man kann nicht mehr riechen, aus welcher Richtung der Wind weht. Am Ufer der Saale stehen Angler, die den gefangenen Fisch auch essen können.
Die Dorfschule ist leider geschlossen, weil es nicht genug Schüler gibt. Aber es werden Häuser gebaut, in denen hoffentlich wieder Kinder aufwachsen werden.
Die alte Mühle ist wieder aufgebaut und wohl so schön, wie sie es noch nie war. Der Gemeindekirchenrat kündigt einen Jahrmarkt zugunsten der Kirchenrenovierung an.
Aber von der Erfüllung meiner zweiten großen Herausforderung, der wirtschaftlichen Wiederbelebung meiner Heimat, bin ich noch ein ganzes Stück entfernt. Wir brauchen dazu noch die Hilfe aus den alten Ländern, um zunächst die notwendige Chancengleichheit im Wettbewerb zu schaffen. Der Leistungswillen und die Leistungsfähigkeit meiner Mitmenschen im Osten können sich nur wirklich entfalten, wenn ihnen eine reale Chance eingeräumt wird.
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Günter Nooke, CDS/CSU guenter.nooke@bundestag.de |
Die meisten bestanden den Crash-Kurs
Die staatliche Vereinigung am 3. Oktober 1990 war das eigentliche Ende der friedlichen Revolution in der DDR. Bei allen unterschiedlichen Sichtweisen oder Konzepten für die Zeit nach dem Sturz des SED-Regimes muss konstatiert werden: Es gab zur Einheit keine Alternative. Die einzig gangbare zur kommunistischen Diktatur war der freiheitliche Rechtsstaat. Während der SED-Herrschaft hatte es nie freie Wahlen gegeben. Die Ersten, am 18. März 1990, waren gleichzeitig die letzten. Für manche mag es immer noch ein Paradox sein, dass der große politische Auftrag dieser ersten frei gewählten Volkskammer darin bestand, sich selbst und die staatliche Existenz der DDR abzuschaffen.
Büro im Ministerium von Margot Honecker
Meine Fraktionskollegen bei Bündnis 90/Die Grünen waren Leute wie Marianne Birthler, Wolfgang Ullmann, Jens Reich, Joachim Gauck, Gerd Poppe, Konrad Weiß, Vera Lengsfeld und Matthias Platzeck. Gemessen am Wahlergebnis von knapp drei Prozent hat keine andere Fraktion so viele Spitzenpolitiker für die nächsten Jahre hervorgebracht. Ich selbst wurde als Parteiloser auf Vorschlag von "Demokratie Jetzt" Spitzenkandidat für den Bezirk Cottbus. Mit einer Stimme Vorsprung konnte ich mich gegen einen Vertreter der viel größeren Bürgerbewegung "Neues Forum" durchsetzen und erhielt so ein Mandat für die erste frei gewählte Volkskammer, wo ich, immer noch als Parteiloser, in dieser Fraktion Bündnis 90/Die Grünen saß.
Gemessen am damaligen Wähleranteil sind die Vertreter der Bürgerbewegungen auch heute noch in der Politik ausgesprochen stark repräsentiert! Ich glaube, den "Crash-Kurs" in Sachen Parlamentsarbeit, der ja die Volkskammertätigkeit war, haben die meisten von uns gut bestanden.
Für mich ist es auf so kurzem Raum müßig, all das zu erwähnen, was sich seither verändert hat. Seit 1990 wohne ich in dem Kiez, der heute noch Teil meines Wahlkreises Berlin-Mitte ist. Allein die Überlegung, dass ich zurzeit mein Büro im ehemaligen Volksbildungsministerium Margot Honeckers habe, wo ich als stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Politik mache, zeigt das Maß der Veränderungen. Diesen radikalen Veränderungen, die sich damals in atemberaubender Geschwindigkeit vollzogen, stehen allerdings Konstanten gegenüber, die ich schon bemerkenswert finde.
Äpfel nicht mit Birnen vergleichen
Bei vielen Rückblicken und Bilanzierungen von zehn Jahren Einheit überwiegt der hyperkritische Ton. Nun mag man unterschiedlicher Meinung sein, was sich seither weniger gut entwickelt hat. Aber bei solchen Einschätzungen werden in der Tat die berühmten Äpfel mit Birnen verglichen. Während es der dominierende Zeitgeist der Westdeutschen, denkt man zum Beispiel an den "Historikerstreit", stets ablehnte, selbst nationalsozialistische und kommunistische Diktatur zu vergleichen, obwohl es sich um zwei Diktaturen handelte, ist es heute üblich, der freiheitlichen Demokratie der Bundesrepublik die DDR-Diktatur als Vergleichsmaßstab entgegenzustellen. Da werden auf breitem Raum Probleme mit der Freiheit beschrieben, und alle vergessen, wie menschenverachtend die Unfreiheit in der "Diktatur des Proletariats" war - und sei es nur die Bildungspolitik von Frau Honecker.
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Werner Schulz, B'90/Die Grünen werner.schulz@bundestag.de |
Geburtsfehler trübten die Freude
Meine Erwartungen an die politische Gestaltung der deutschen Einheit waren nicht aufgegangen. Ich hatte - wie die meisten Bürgerrechtler - leidenschaftlich darum geworben, dass mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten auch die dafür bestimmte Verpflichtung im Artikel 146 des Grundgesetzes eingelöst wird.
Wie schön wäre es gewesen, wenn sich das Volksfest am 3. Oktober 1990 mit einem Volksentscheid verbunden und sich das deutsche Volk an diesem Tag in Ost und West in freier Selbstbestimmung eine gemeinsame Verfassung gegeben hätte.
Wahlkampfrennen statt Gemeinschaftsaufgabe
So kam der unterwürfige Begriff vom Beitrittsgebiet auf, der das gerade errungene Selbstbewusstsein der Ostdeutschen nachhaltig beeinträchtigte. Ging doch der Anspruch der friedlichen Revolution nach direkter Demokratie - wir sind das Volk - bis heute leer aus. Fehlt doch der späten und wiedervereinigten Nation - wir sind ein Volk - ein verbindender demokratischer Gründungsakt. Steht doch der Nationalfeiertag ohne historischen Handlungsbezug und etwas willkürlich im Kalender. Und blieb doch das Vermächtnis des Runden Tisches, sein Verfassungsentwurf, ohne dass auch nur eine Zeile übernommen wurde, auf der Strecke.
Leider lief die Vereinigung mehr wie ein Wahlkampfrennen denn als Gemeinschaftsaufgabe. Somit unterblieb die nötige Inventur auf beiden Seiten. Wurde im Osten alles abgeräumt und abgewickelt und kritiklos übernommen, was sich im Westen zwar bewährt hatte, aber dennoch längst erneuerungsbedürftig war. Damit verlängerte sich der Reformstau in den Osten. War absehbar, dass sich die westdeutschen Gebrauchsmuster an der ostdeutschen Realität reiben und den Auf- und Umbau behindern würden.
Diese Geburtsfehler trübten meine Freude, von nun an in einem Staat zu leben, der Freiheit und Bürgerrechte garantiert, Lebensverhältnisse bietet, von denen man in der DDR nur träumen konnte, und den ich alles in allem, seit ich politisch denken kann, für den Besseren hielt. Endlich konnte ich mit 40 Jahren im wahrsten Sinne mein Vaterland - mein Vater stammt aus Baden - kennen lernen.
Ungeahnte Möglichkeiten der errungenen Freiheit
So oder ähnlich ging es vielen Leipzigern. Mit der errungenen Freiheit und der geschenkten Währung eröffneten sich ungeahnte Möglichkeiten zu sehen und zu kaufen, was man nur vom Fernsehen oder aus Messevitrinen kannte. Die große Freude der Bauch-über-Kopf-Vereinigung war von einer merkwürdigen, auch westlich genährten Instantmentalität begleitet: Dass man für alles, was man eingerührt hat, auch gleich die fertige Lösung erhält.
Umso ernüchternder war die Zeit nach der Einheitsfeier. Als klar wurde, mit welchen Anstrengungen und Verwerfungen der weitere Weg verbunden ist. Seitdem wurde und hat sich so gut wie alles verändert. Leipzig, das 1990 kurz vorm Zerfall stand und im Mief verbrannter Braunkohle zu ersticken drohte, ist heute wieder eine lebenswerte, in weiten Teilen renovierte und modernisierte Stadt. Kultur und öffentliches Leben sind von beeindruckender Kreativität. Leipzig ist ein gelungenes Beispiel, wie aus der Mühe und dem Fleiß der Ostdeutschen mit tatkräftiger Hilfe und finanzieller Unterstützung der Westdeutschen ein echtes Gemeinschaftswerk entstanden ist. Und niemand ist Herrn Schneider böse, dass er der deutschen Bank dafür einige Peanuts entlockt hat.
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Cornelia Pieper, F.D.P. cornelia.pieper@bundestag.de |
Wiedervereinigung war für viele ein Geschenk
Der Spaziergang durch das Brandenburger Tor ist für Ost- und Westdeutsche zehn Jahre nach der deutschen Einheit zur Selbstverständlichkeit geworden. Nur noch die doppelreihigen Pflastersteine erinnern an den alten Standort der Mauer. Und doch hätten wir es uns vor zehn Jahren nicht träumen lassen, das Glück der Wiedervereinigung ergreifen zu dürfen. In den neuen Ländern gibt es trotz noch bestehender Unterschiedlichkeiten die "blühenden Landschaften", zum Beispiel die mitteldeutsche Region. Ost und West gemeinsam gestalten die deutsche Einheit.
Niemand kam mit leeren Händen
Der Ehrenvorsitzende der Freien Demokratischen Partei und Architekt der Deutschen Einheit, Hans-Dietrich Genscher, formulierte treffend den beiderseitigen Beitrag von Ost- und Westdeutschen: "Niemand ist mit leeren Händen in das vereinte Deutschland gekommen. Die Deutschen aus der Bundesrepublik kamen mit einer freiheitlichen Demokratie und einer leistungsfähigen Wirtschaftsordnung, der sozialen Marktwirtschaft. Die Deutschen aus der DDR kamen mit der selbst und friedlich errungenen Freiheit. Das hat unser ganzes Volk im ganz ideellen Sinne reicher gemacht."
Mit der deutschen Einheit wurde die Geschichte des europäischen Einigungsprozesses fortgeschrieben. So ist für mich eines der denkwürdigsten Daten auf dem Weg zur deutschen Einheit die Unterzeichnung des 24-Vertrages vom 12. September 1990. Mit dem 24-Vertrag wurde der Grundstein für ein Deutschland in Einheit und Freiheit gelegt. Die Wiedervereinigung war aber auch keine "Laune der Geschichte", sondern die Konsequenz aus einer langjährigen politischen Strategie, der sich besonders die Liberalen mit der Politik ihrer Außenminister Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher verpflichtet fühlten. Die Politik der Ostverträge und der Annäherungsprozess durch die KSZE verbesserten das Klima zwischen Ost und West. Letztlich war es das Volk der DDR selbst mit seiner mutigen friedlichen Revolution, das die unumkehrbaren Schritte zur Freiheit und Einheit ging.
Aber auch unsere osteuropäischen Nachbarn haben große Verdienste um die deutsche Einheit. Der Fall des "eisernen Vorhangs" in Ungarn vollzog sich noch gegen den Willen der DDR-Führung am 10. September 1989, erst am 30. September 1989 wurden mit Genehmigung der DDR den Botschaftsflüchtlingen von der Prager Botschaft die Ausreise ermöglicht. Michail Gorbatschow und Eduard Schewardnadse haben mit der Politik von "Glasnost" eine Wende zur freiheitlichen, menschenwürdigen Politik möglich gemacht.
Deutsche Einheit als Motor für Europa
Jetzt ist es die Aufgabe für uns Deutsche, die deutsche Einheit als Motor zur Vollendung der europäischen Einigung zu verstehen. Unsere europäischen Nachbarn haben mit der Geburtsstunde der deutschen Einheit große Hoffnungen und Vertrauen in uns gesetzt. Vaclav Havel sagte:"An den Deutschen liegt es, ob ihre Vereinigung zu einem willkommenen Motor der Einigung in ganz Europa wird oder im Gegenteil zu deren Bremse."
Mit der deutschen Einheit begann mein Weg in die Politik als Abgeordnete eines frei gewählten Parlaments in Sachsen-Anhalt. Nicht nur als Landtagsabgeordnete, sondern auch als Vizepräsidentin des Landtags von Sachsen-Anhalt konnte ich von der ersten Stunde an Politik verantwortlich mitgestalten. Ich habe es als damals 30-jährige als persönliche Herausforderung und besonderes Glück empfunden. Das Geschenk der Wiedervereinigung, das uns als Deutsche auch von unseren europäischen Nachbarn gemacht wurde, sollten wir nie vergessen. Im Gegenteil, wir sollten unsere europäischen Nachbarn auch in Zukunft daran teilhaben lassen.
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Ilja Seifert, PDS ilja.seifert@bundestag.de |
Erfahrungen aus DDR-Zeiten bleiben ein Schatz
Im Beitrittsjahr war ich Berliner Abgeordneter der Stadtbezirke Friedrichshain und Treptow sowie der Hälfte von Lichtenberg, Hochburgen der PDS.
Unerwartet harte Polizei-Einsätze in der Mainzer Straße prägten das gesellschaftliche Klima um die Beitrittszeit. In Friedrichshain gelegen war diese Querstraße der Frankfurter Allee ein Zentrum der Hausbesetzer-Szene. Junge Leute wollten unbewohnte und arg vernachlässigte Bürgerhäuser so sanieren, dass in ihnen alternative Wohnformen eine dauerhafte Chance hätten. Die "Instandbesetzungen" sollten die Gebäude der Spekulation entziehen. Polizei "räumte" die Häuser mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken. Nach dem friedlichen Sturz der SED-Führung hatte das so kaum jemand für möglich gehalten.
Erlebnis der Selbstbefreiung
Zu den Erwartungen 1990 gehörte die Angst vor horrenden Mietsteigerungen ebenso wie die Hoffnung auf ein "West-Auto". Neben dem Erlebnis der Selbstbefreiung (Herbst 1989) stand das der tränengasgeschwängerten Frankfurter Allee.
Jetzt liegt mein Wahlkreis im äußersten Osten der BRD, von Nisky im Norden bis Oybin im Süden, mit den großen Städten Görlitz und Zittau. Eine lange EU-Außengrenze verbindet diese ostsächsische Region mit Polen und der Tschechischen Republik. Zur Beitrittszeit überwogen dort Hoffnungen auf "blühende Landschaften".
Jetzt leben die Menschen dort mit der Erfahrung der Abwanderung. Die Bevölkerungszahl verringert sich weiter. Noch immer gehen mehr Arbeitsplätze verloren, als neue entstehen. Die Görlitzer Innenstadt - ein städtebauliches Kleinod unzerstörter Bürgerhäuser aus der Gründerzeit, über den Jugendstil bis zur Moderne der 20er Jahre - ist weitgehend restauriert. Aber die schmucken Gebäudezeilen stehen leer. Die Einheimischen bleiben in ihren Plattenbauten am Rande der Stadt. Innerstädtische Mietpreise sind für sie unerschwinglich. Auf dem Lande tragen Abwasserpreise und Straßenbaugebühren inzwischen dazu bei, Generationen alte Familiengrundstücke zu teilen oder zu verkaufen.
Konzepte versickern im Bürokratendschungel
Politisch hatte die PDS hier zunächst einen sehr schweren Stand. Inzwischen stellt sie z.B. den Oybiner Bürgermeister.
Die Nachbarschaft zu Polen und Tschechien wäre eine große Chance für die gesamte Region. Noch aber folgten der Ausrufung der "Euroregion Neiße" kaum nachhaltige Taten. Gemeinsame Interessen trinationaler Regionalentwicklung werden noch immer von Standortegoismen einzelner Städte überlagert. Gute Konzeptionen der Universitäten und Fachhochschulen versickern noch im Bürokratendschungel. Ängste vor einer weiteren "Angleichung" der Lebensbedingungen nach unten - diesmal zwischen EU- und (Noch-) Nicht-EU-Staaten - werden durch das beträchtliche Lohngefälle diesseits und jenseits der Grenzen genährt. Der politische Wille der Regierenden in Berlin und Dresden, eine grenzüberschreitende Regionalentwicklung zu betreiben, die zum gegenseitigen Vorteil gereicht, ist nur schwach erkennbar.
Erfahrungen des Zusammenlebens an der Neiße aus DDR-Zeiten bleiben - zumindest für die jetzige Generation - ein Schatz, den es zu nutzen gilt. Dann wird die Euroregion Neiße nicht mehr am Ende von Deutschland liegen, sondern eines ihrer großen, weit geöffneten Eingangstore sein.