Gemeinsame deutsch-französische Rede (deutsch)
110. Versammlung der Interparlamentarischen Union in Mexiko (18.-23. April)
Gemeinsame Ansprache des Leiters der deutschen Delegation, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert, und der französischen Delegation, Senator Robert del Picchia, in der Generaldebatte zum Thema « Versöhnung und Partnerschaft »
20. April 2004
Dr. Norbert Lammert: Es ist ungewöhnlich, dass in der
Generaldebatte der IPU-Versammlung zwei Länder-Delegationen
gemeinsam das Wort ergreifen. An dieser Diskussion über
Versöhnung und Partnerschaft wollen sich Deutschland und
Frankreich mit einer gemeinsamen Adresse beteiligen. Dafür
gibt es zwei Gründe:
1. Die Vergangenheit
2. Die Zukunft.
Die Geschichte unserer Länder und des europäischen Kontinents ist über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg keine Geschichte des Friedens, der Freundschaft und der Zusammenarbeit gewesen. Das Europa des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit jungen, ehrgeizigen Nationalstaaten, die ihre jeweiligen Interessen nicht miteinander, sondern gegeneinander entwickelt haben, ist ein dramatisches Beispiel für die Ausweglosigkeit, in die nationale Rivalitäten und schließlich Nationalismus führen.
Die "Erbfeindschaft" zwischen Deutschland und Frankreich, die Kriege gegeneinander geführt, Territorien gewonnen und verloren, ihre Wirtschaft für gegenseitige Zerstörung statt für gemeinsamen Aufbau strapaziert haben, hat über Generationen hinweg Millionen Menschen ihre Heimat, ihr Vermögen und ihr Leben gekostet und eine Befriedung des Kontinents verhindert.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges war Deutschland politisch, militärisch, ökonomisch und moralisch zerstört, und auch Frankreich, "Siegermacht" wie Großbritannien, die USA und die Sowjetunion, war durch Krieg und jahrzehntelange Überanspannungen ausgeblutet.
Aus den bitteren Einsichten dieser gemeinsamen
Erfahrungen ist in den 1950er und 1960er Jahren der Aufbruch in
eine neue, gemeinsame Zukunft gelungen, der heute weltweit als
Beispiel für Versöhnung und Partnerschaft gilt.
Sénateur Robert del Picchia: Frau Präsidentin,
Liebe Kollegen, Ich hätte gerne deutsch gesprochen. Leider
gibt es keine Übersetzung. Deswegen werde ich französisch
sprechen.
Die erste Voraussetzung für die deutsch-französische
Versöhnung stellt die Niederlage von 1945 und die Akzeptanz
all ihrer Folgen dar. Es war natürlich die Niederlage des
besiegten Hitler-Deutschlands, aber auch die eines wirtschaftlich
ausgebluteten Frankreichs, wenngleich sich letzteres dank General
de Gaulle und Winston Churchill auf der Siegerseite befand.
Diese Niederlage, die einer Erschöpfung gleichkam, erlaubte es
unseren beiden Ländern, sich so, wie sie waren, zu
akzeptieren, ihren Großmachtträumen zu entsagen und eine
gerechtere Betrachtung ihrer Wirklichkeit anzunehmen. Nach zwei
Weltkriegen besitzen die Völker und die sie vertretenden
Abgeordneten ein geschärftes Bewusstsein für die
Katastrophe, der sie zum Opfer gefallen sind.
Wir sind der Auffassung, dass diese Voraussetzung für eine
Versöhnung sich in vielen gegenwärtigen Konflikten
wiederfindet.
Die zweite Voraussetzung für die
deutsch-französische Versöhnung erscheint uns hingegen
nicht exemplarisch, da sie darin besteht, Frieden aufzubauen durch
den Wechsel der Bündnispartner. Tatsächlich führte
die Entstehung einer neuen gemeinsamen Herausforderung, die der
Kalte Krieg von 1945 bis 1990 darstellt, zu einer Annäherung
zwischen beiden Ländern.
Es ist offensichtlich, dass der Kalte Krieg in hohem Maße zu
einer Versöhnung beigetragen hat, die von den Vereinigten
Staaten nachdrücklich gefördert und durch den
außerordentlichen Marshallplan für den Wiederaufbau des
zerstörten Europa unterstützt wurde.
Diese Verbindung zwischen Frieden einerseits und Demokratie und
wirtschaftlicher Entwicklung andererseits ist offenkundig, und wir
dürfen sie in dem Prozess des Wiederaufbaus, der
gegenwärtig stattfindet, nicht aus den Augen verlieren.
Rabindranath Tagore drückte es mit einer lapidaren Formel aus:
"Einem leeren Magen ist schlecht predigen". Diese Feststellung
lässt sich heute auf zahlreiche Länder anwenden, und als
Parlamentarier müssen wir dafür Sorge tragen, dass die
Milleniumsziele und die Verpflichtungen von Monterrey verwirklicht
werden. Die wirtschaftliche Entwicklung macht den anderen zu einem
Partner, den es zu überzeugen und zu verführen gilt,
anstatt zu einem Feind, der unterdrückt werden muss.
Um sich vor der Bedrohung zu schützen, die der Kommunismus mit
der Besetzung Deutschlands ausübte, mussten die Anstrengungen
für den Wiederaufbau koordiniert und die wirtschaftlichen und
Humanressourcen zusammengelegt werden. Aus diesem Grund begann man
den Aufbau Europas - sehr weise - zuerst auf dem Gebiet der
Wirtschaft. Der Geniestreich Jean Monnets und der
christdemokratischen Gründerväter Europas bestand darin,
Kohle und Stahl, zwei Produkte, die den vergangenen Krieg
symbolisieren, sowie das Atom, das einen künftigen Krieg ahnen
lässt, miteinander zu teilen.
Die dritte Voraussetzung für die
Versöhnung ist das Vergessen.
Vergessen ist ein sehr delikater Begriff, da es sich nicht um
Amnesie handelt, die gegen das Völkerrecht verstoßen
würde, wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder
Kriegsverbrechen begangen wurden. Vergessen schließt nicht
aus, dass die Wahrheit aufgedeckt und die Schuldigen bestraft
werden. Vergessen schließt selbstverständlich auch nicht
die Pflicht der Erinnerung aus und die Notwendigkeit, die
Verantwortlichen für Gräueltaten zu verurteilen, wie dies
in Nürnberg getan wurde oder wie es heute durch die
verschiedenen internationalen Strafgerichtshöfe
geschieht.
Das Vergessen muss immer mit dem Begriff der Vergebung verbunden
werden; darauf hat einer unserer kanadischen Kollegen gestern in
der Aussprache im ersten Ausschuss hingewiesen.
Was Deutschland anbelangt, so hat die Natur des Nationalsozialismus
mit seinem absoluten Schrecken es den Staatsmännern beider
Länder ermöglicht, von Null an neu zu beginnen. Wieder
einmal bedeutet das Vergessen, von dem wir reden, nicht, dass es
die unerlässliche Pflicht der Erinnerung verdecken soll.
Die vierte und letzte Voraussetzung
schließlich ist, dass außergewöhnliche
Persönlichkeiten wie Jean Monnet, Robert Schuman, Konrad
Adenauer oder Roberto de Gasperi die politische Bühne
betreten. Wir sehen dies allzu gut, wenn in anderen Ländern
beispielsweise ein Begin und ein Sadat einander begegnen. Oder, um
ein anderes Beispiel zu nennen, wenn ein Mandela endlich an die
Macht gelangt.
Dr. Norbert Lammert:
Die Kehrtwende in den
gegenseitigen Beziehungen geschah nicht von selbst. Sie war vor
allem das Ergebnis der Initiative der beiden damals
verantwortlichen Staats- und Regierungschefs in Frankreich und
Deutschland, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. Sie hatten
beide Weltkriege persönlich erlebt. Sie wussten, was die
beiden Länder sich gegenseitig angetan haben. Sie waren bereit
und entschlossen, ein für alle Mal ein Ende zu machen mit der
Rivalität, dem Hass, der "Erbfeindschaft".
Anlässlich der denkwürdigen Begegnung der
beiden Staatsmänner 1962 in der Kathedrale von Reims, der
Krönungskirche der französischen Monarchen, haben sie
ihre Überlegungen und Überzeugungen formuliert.
Konrad Adenauer sagte:
"Wir sind überzeugt davon, dass die Gefahren, die diese Lage
in der Welt mit sich bringt, nur dann überwunden werden
können, wenn die freien Völker einig und geschlossen
sind. Das gilt in besonderem Maße von den beiden
Völkern, die als Nachbarn im Herzen Europas liegen, von
Frankreich und Deutschland. (...) Wenn unsere beiden Völker,
das französische und das deutsche Volk, nicht
zusammenarbeiten, wenn sie nicht zusammenarbeiten in enger
Gemeinschaft, in vollem Vertrauen zueinander, in Verbundenheit und
Freundschaft, wird es keinen Frieden geben, weder für
Frankreich und Deutschland, noch für Europa, noch für die
Welt."
Und General de Gaulle kündigte damals an: "Deutschland und Frankreich schließen sich zusammen, um nur Diener zu sein der Freiheit, dem Gedeihen der Brüderlichkeit untereinander, und also zwischen den westlichen Staaten unseres Kontinents und in der freien Welt zu beiden Küsten des Atlantiks, dann vielleicht eines Tages in ganz Europa und dadurch zum Nutzen aller Menschen."
Deutschland und Frankreich ließen diese
Deklaration wahr werden. Die Geschichte der Beziehungen unserer
beiden Länder übermittelt uns zwei Botschaften:
1. Versöhnung ist nötig.
2. Versöhnung ist möglich.
Sénateur Robert del Picchia: Das Vergessen und das
Erscheinen außergewöhnlicher Persönlichkeiten auf
der Weltbühne sind unerlässliche Voraussetzungen, die zur
Herstellung einer wirklichen Partnerschaft jedoch nicht ausreichen.
Alles Übrige muss dennoch getan werden, und die unabdingbare
Voraussetzung der Versöhnung ist die Entwicklung gemeinsamer
Projekte auf allen Gebieten.
Das wichtigste gemeinsame Projekt war selbstverständlich das europäische Aufbauwerk, das unbestreitbar das unmittelbare Ergebnis des Versöhnungsprozesses zwischen Deutschland und seinen Nachbarn war. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass dieser Prozess nicht zum Stillstand kommen darf; damit er am Leben bleibt, benötigt er immer neue Projekte. Im Hinblick auf die Versöhnung bedeutet Stagnation einen Rückschritt. Der offenkundige Erfolg des europäischen Aufbauwerks, was Wohlstand und Sicherheit anbelangt, hat sich durch eine Fülle von Initiativen auf allen Ebenen verdoppelt.
Es mussten zunächst die Völker einander
näher gebracht werden. Dank des Deutsch-Französischen
Jugendwerks trafen fast sieben Millionen deutsche und
französische Jugendliche zusammen, um miteinander leben zu
lernen.
Die Städte und Dörfer unserer beiden Länder sind
Partnerschaften miteinander eingegangen und unterhalten seit 50
Jahren solide und starke freundschaftliche Beziehungen.
Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, erlauben Sie mir an dieser
Stelle eine persönliche Bemerkung.
Ich bin ein Kind der Versöhnung. Ein Kind der
deutsch-französischen Versöhnung.
Meine Mutter war während des Kriegs in London, da sie dem
Aufruf des Generals de Gaulle gefolgt war. Mein Vater hatte
seinerseits auf die amerikanische Großmacht gesetzt, er
kämpfte auf Seiten der Amerikaner und landete mit ihnen im
Juni 44 in der Normandie. Er kämpfte gegen die Deutschen und
gelangte bis nach Berlin... Die Nachkriegszeit erlebte ich als
Kind, und viele Jahre lang hörte ich meinen Vater von seinem
Krieg gegen Deutschland berichten. Bei jedem Besuch zu Hause kam
erneut die Rede darauf... Soviel, um Ihnen zu sagen, dass ich vom
Kampf gegen den Feind geprägt wurde...
Eines Tages jedoch, ich glaube, es war 1958, beschloss man auf
Vorschlag von De Gaulle und Adenauer, eine Annäherung auf
einer Ebene zu versuchen, wo dies am einfachsten möglich
erschien: bei allen Jugendlichen, die den Krieg nicht erlebt
hatten. Und so fuhr ich auf Drängen meiner Mutter nach
Deutschland mit der ersten Gruppe französischer Jugendlicher,
um den Versuch zu machen, uns zu verstehen. Wir wurden sehr gut
empfangen. Es war ganz anders als alles, was ich gehört hatte.
Es war ein so großer Erfolg, dass dieser Besuch den Beginn
des Deutsch-Französischen Jugendwerkes markierte, das den
Erfolg erzielte, der uns allen bekannt ist.
Für mich war dies der erste Schritt zur Versöhnung. Und
sie war so erfolgreich, dass ich zur großen Entrüstung
-. zumindest anfangs - der Familie zwar keine Deutsche, sondern
eine Österreicherin geheiratet habe, die einen Teil ihrer
Familie in Deutschland hatte. Ich glaube, das ist ein schönes
Beispiel für die Versöhnung. Meine beiden Kinder sind
heute Europäer. Denn man muss anerkennen - und das tut auch
jeder - dass ohne die deutsch-französische Versöhnung das
Europa von heute nicht existieren würde.
Dr. Norbert Lammert: Vor einem Jahr haben wir den 40.
Geburtstag des Elysée-Vertrages in Versailles gefeiert.
Heute ist die deutsch-französische Zusammenarbeit zu einer
ganz selbstverständlichen, verlässlichen Grundlage des
europäischen Integrationsprozesses geworden, an dem
zunächst sechs, dann zehn, inzwischen 15 und in einigen Tagen
25 europäischen Länder beteiligt sind. In dieser
über 40jährigen Periode haben wir zwischen den
Regierungen, den Parlamenten, den Armeen, den Städten und der
Jugend ein dichtes Netzwerk der Kooperation etabliert:
-
halbjährige deutsch-französische Gipfeltreffen,
-
regelmäßige Ministertreffen,
-
gemeinsame Sitzungen der Ausschüsse beider Parlamente,
-
Personalaustausch von Abgeordneten und Mitarbeitern,
-
gemeinsame diplomatische Vertretungen und Kulturbüros in einigen Hauptstädten,
-
mehrere hundert Städtepartnerschaften,
-
über sieben Millionen Jugendliche aus beiden Ländern in Austauschprogrammen des deutsch-französischen Jugendwerkes,
-
die deutsch-französische Brigade als integrierte militärische Einheit.
Die neuen Erfahrungen Deutschlands und Frankreichs
während dieser Zeit demonstrieren:
Wenn aus Rivalität Zusammenarbeit und aus Feindschaft
Freundschaft wird, verändert sich die Welt - zwischen den
beiden Ländern und zuletzt in der gesamten Region.
Sénateur Robert del Picchia : Meine lieben Kollegen,
abschließend möchte ich noch einmal unterstreichen, dass
diese Versöhnung niemals ein Acquis, eine bleibende
Errungenschaft ist. Man kann nicht vorgeben, dass die
deutsch-französische Versöhnung abgeschlossen ist, sie
bleibt ein Werk des Willens, des Scharfsinns und des Mutes. Nichts
wäre schlimmer als eine Banalisierung dieser Beziehung, die
sich in einer Art Gleichgültigkeit niederschlagen würde.
Dies ist eine der großen Lehren unserer Partnerschaft, dass
man sich bewusst sein muss, dass sie sich permanent aus neuen
Projekten und ständigen Kontakten nähren muss.
Dies tun wir ständig und eben auch genau in diesem
Augenblick.
Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, wenn wir heute eine einzige
Hoffnung, ein Ziel haben, dann ist es das, dass die
deutsch-französische Versöhnung ein Vorbild sein kann,
und es ist unser Wunsch, dass die israelischen und die
palästinensischen Kinder eines Tages wie die deutschen und
französischen Kinder von damals die Partner für die
Versöhnung zwischen ihren beiden Ländern sein
werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.