Der Held Siegfried wurde von dem Sprachforscher und Schriftsteller August Wilhelm Schlegel 1803 als "nordischer Achill" bezeichnet, um die Vergleichbarkeit von "Nibelungenlied" und homerischen Epen zu verdeutlichen. Schlegel vertrat die These, dass eine enge Verbindung zwischen Germanen und Griechen bestehe. Dabei hatte für ihn Griechenland eine kulturhistorische Priorität gegenüber dem Norden.
In seiner neuen Studie zum "Germanenmythos" thematisiert Ingo Wiwjorra die unterschiedlichen Auffassungen über Herkunft und Abstammung der Deutschen und welche Rolle diese bei der Bestimmung des nationalen Selbstverständnisses bis heute spielen. Wiwjorra, geboren 1962, studierte Ur- und Frühgeschichte sowie Anthropologie und promoviert mit der vorliegenden Arbeit. Bisher veröffentlichte er Schriften zu Willy Pastor, einem "völkischen Vorgeschichtspublizisten", zur Rassenidee und zur Altertumsforschung.
Der Hauptgegenstand seiner umfassenden Arbeit besteht aus verschiedenen Thesen der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts. In wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Werken tauchten die "blonden Germanen, mit blauen Augen und heller Haut" als unerschrockene Helden auf. Gleichzeitig fragten sich Forscher, wie viel denn noch von diesen klassischen Erscheinungen der Germanen in der Bevölkerung des 19. Jahrhunderts zu finden sei. Die Aussagen der Historiker, Anthropologen, Archäologen und Sprachforscher zielten darauf ab, eine nationale Identität zu finden, die dem eigenen Volk seine Integrität und Stabilität verbürgen sollte. Der Germanenmythos wurde wiederbelebt.
Wiwjorra zeigt entstehende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Wissenschaftlern im 19. Jahrhundert auf, denn nicht alle glaubten an eine alternativlos prägende Rolle der germanischen Vorfahren. So wurde neben den Germanen besonders den Kelten, Slawen und Römern eine Bedeutung bei der Kulturentwick-lung Mitteleuropas beigemessen, denn nicht alle im deutschsprachigen Raum gefundenen Altertümer ließen sich als germanisch nachweisen. Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich schließlich jener "völkischer Ansatz" heraus, der zur Grundlage "antidemokratischen Denkens" in der Weimarer Republik wurde und im Rassenwahn der Nazis endete.
Bei der Frage nach der "Ureinwohnerschaft" der Länder zwischen Elbe und Weichsel, also Germanen und Slawen, zitiert der Autor Archäologen, die es für möglich halten, dass die ältesten Funde "vielleicht von einem noch älteren früh verbreiteten Urvolke abstammen". In der vergleichenden Sprachwissenschaft gibt es die These, dass eine "enge Verwandtschaft der meisten europäischen und einiger asiatischer Sprachen" auf die Existenz eines Urvolkes verweise. Dieses Urvolk wurde durchaus kontrovers als "Indoeuropäer" und in Deutschland vorwiegend als "Indogermanen" bezeichnet. Andererseits glaubten Archäologen, dass das Hebräische des Alten Testaments oder das Sanskrit der indischen Veden die Ursprache der Menschheit gewesen wäre.
Wiwjorras Buch bietet ein breites Spektrum von Auffassungen über die Abstammung der Deutschen. Da die Pro- und Contra-Meinungen übergangslos nebeneinander stehen, besteht die Gefahr, sich darin zu verlieren. Für Wissenschaftler der betreffenden Fachgebiete ist solch eine ausführliche Gegenüberstellung widersprüchlicher Meinungen jedoch sicherlich ein Gewinn.
Der Autor verweist besonders auf die irrationalen Momente des Rückbezugs auf die Germanen. Mit Mythen ist, wie wir wissen, immer wieder Missbrauch getrieben worden. Das Buch kann als eine gute Grundlage dazu anregen, über Herkunft und Abstammung des deutschen Volkes neu nachzudenken. Dem interessierten Laien dürfte Wiwjorras Lektüre, die sich an ein Fachpublikum wendet, allerdings einige Mühe bereiten und etwas Geduld abverlangen.
Ingo Wiwjorra: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, 408 S., 49,90 Euro.