Hätte "Das Parlament" die gesamte Debatte dieses 19. Februar 1976 abgedruckt - die Zeitung hätte in jener Woche in drei Bänden erscheinen müssen. Dabei ließ der Tagesordnungspunkt für die Bundestagssitzung kaum auf eine leidenschaftliche und stundenlange Debatte schließen. "Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Oktober 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung nebst der Vereinbarung hierzu vom 9. Oktober 1975" hieß es da in gewohnt sprödem Verwaltungsdeutsch. Keine große Nummer also, mag man beim oberflächlichen Lesen denken - und doch ging es um nichts weniger als eine der wichtigsten innen- wie außenpolitischen Fragen dieser Zeit: Das Verhältnis Deutschlands zu Polen und die deutsche Wiedergutmachung für die polnischen Opfer des Dritten Reiches.
Auch 31 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges war darauf noch keine Antwort gefunden. Die Bundesrepublik unterhielt zu dieser Zeit keine diplomatischen Beziehungen zu Polen, was auch bedeutete, dass die NS-Verfolgten, die in Polen und im gesamten Ostblock lebten, von der westdeutschen Wiedergutmachung weitgehend ausgeschlossen waren. So bestimmte es die "diplomatische Klausel" im Entschädigungsrecht der Bundesrepublik. Als es Ende der 60er-Jahre unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) zu ersten Gesprächen zwischen beiden Ländern kam, ging es daher schnell auch um die Frage der Wiedergutmachung für die Millionen polnischen Opfer. Sie erhielten erstmals 1972 von der Bundesrepublik eine Entschädigung von insgesamt 100 Millionen D-Mark. Viele Opfergruppen gingen dabei jedoch leer aus. Mit dem Rentenabkommen, das beide Staaten am 9. Oktober 1975 in Helsinki am Rande der KSZE-Konferenz vereinbart hatten, sollten nun weitere Forderungen erfüllt werden. Die Bundesrepublik verpflichtete sich, eine Pauschale von 1,3 Milliarden D-Mark an Polen zu zahlen, um Ansprüche aus der Renten- und Unfallversicherung abzugelten. Betroffen waren unter anderem rund 4,7 Millionen Menschen, die vor 1940 in Polen versichert waren und mit der Annektierung ihres Landes in die Reichsversicherungsordnung eingegliedert wurden. Ihre Ansprüche an die deutsche Rentenkasse wurden mit den Rentenabkommen endlich anerkannt. Im Gegenzug versprach Polen, bis zu 125.000 Aussiedlern innerhalb von vier Jahren die Ausreise nach Deutschland zu ermöglichen. Doch genau in dieser Verknüpfung lag der Knack-punkt des Abkommens, der in Deutschland zu einer Monate andauernden, äußerst kontroversen Debatte führte: Die CDU/CSU-Fraktion befürchtete, dass über diese Zahl hinaus, Deutschstämmigen die Ausreise aus Polen verwehrt werden könnte. Sie forderte von Polen eine Garantie, dass alle Deutschen, die dies wünschen, auch ausreisen können. Der Vorsitzende der Unions-Fraktion im Bundestag, Karl Carstens, erklärte dazu, dass es keinerlei Gewähr dafür gebe, "dass diejenigen, die ausreisen wollen, nicht weiterhin Nachteile erleiden", so wie es leider in den vorangegangenen Jahren immer wieder vorgekommen sei. Der CDU-Abgeordnete Alois Mertes verlangte, ein Verfahren zu schaffen, dass Willkür bei der Bewilligung von Ausreiseverträgen ausschließe. Es müsse zudem sichergestellt werden, dass "den Deutschen, die in den Oder-Neiße-Gebieten verbleiben, elementare Menschen- und Gruppenrechte gewährt werden".
Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) wies die Vorwürfe der Opposition zurück. Es gebe "nicht den geringsten Zweifel am ernsthaften Willen unserer polnischen Partner, ihren Teil der Vereinbarungen zu erfüllen", sagte er. In der Weltöffentlichkeit werde außerdem nicht die Frage diskutiert, ob Polen seinen Verpflichtungen nachkommen werde, sondern vielmehr, ob Deutschland mit der Zustimmung zu diesen Verträgen einen Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung leisten werde. "Wir sind in der Welt zum Handeln aufgefordert", betonte Genscher, und bat die Abgeordneten inständig, das Rentenabkommen zu ratifizieren.
Den Bundestag passierte der Vertrag daraufhin mit einer knappen Mehrheit: Auch 15 Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion stimmten letztlich für dessen Annahme. Aber erst nachdem die polnischen Verhandlungspartner in einer offiziellen Erklärung nochmals zugesichert hatten, dass die Zahl der Aussiedler auch künftig nicht begrenzt werde, stimmten die CDU-und CSU-geführten Länder dem Abkommen im Bundesrat zu. Das Monate lange Gezerre zwischen Opposition und Regierung hatte damit ein Ende.