Glaubt man Österreichs Außenminister Hans Winkler, sieht die Europäische Union rosigen Zeiten entgegen. Von 9 auf 8,1 Prozent werde die Arbeitslosigkeit kommendes Jahr zurückgehen, prophezeite er in der vergangenen Woche bei einer Debatte im Straßburger Europaparlament. Sechs Millionen neue Arbeitsplätze würden in Europa im Zeitraum zwischen 2005 und 2007 geschaffen. Auch Kommissionspräsident José Barroso sieht "die ersten hellen Zeichen von wachsendem Vertrauen der Verbraucher." Es werde mehr investiert. Die Wachstumszahlen stiegen langsam an. "Wir sollten diese günstigen ökonomischen Winde nutzen, um in unserer Agenda für Wachstum und Beschäftigung einen großen Schritt voranzukommen. Wir sollten einen Gang schneller schalten!", rief Barroso den Abgeordneten zu.
Der Funke sprang allerdings nicht über. Martin Schulz, der Chef der sozialistischen Fraktion, verwies auf die große Diskrepanz zwischen den Beteuerungen von Rat und Kommission, mehr in Forschung und Entwicklung zu investieren, und den geplanten Ausgaben dafür. "Zwischen dem, was die Kommission gefordert hat und dem, was der Rat beschlossen hat, klafft eine Lücke von 40,82 Prozent", schimpfte Schulz. "Damit kann man das Haus Europa nicht bauen. Damit kann man nicht mal eine Skihütte bauen, in der man abends Seemannslieder singen kann."
Bezogen auf die derzeit laufenden Verhandlungen zwischen Rat und Parlament über die Finanzplanung für die kommenden sieben Jahre sagte der Sozialdemokrat: "Beim Trilog (zwischen Rat, Parlament und Kommission, d.Red.) regieren die Krämerseelen, die den letzten Euro zusammenkratzen, damit der nicht nach Europa gegeben werden kann." In dieser Kritik sind sich die Europaabgeordneten quer durch die Parteien einig. Der Konservative Klaus-Heiner Lehne sagte: "Das Hauptproblem ist nicht der strategische Ansatz, sondern die Ausführung. Der Europäische Rat beschließt eine gute Strategie, gute Inhalte. Und wenige Tage später kassieren die Finanzminister das wieder ein. Das trägt dazu bei, dass der Bürger an Europa ver-zweifelt.. Sein liberaler Kollege Graham Watson sieht Wachstum und Beschäftigung vor allem durch wachsenden Egoismus der Nationalstaaten in Gefahr: "Europa leidet unter dem Konflikt zwischen denen, die voran gehen wollen und denen, die in die Vergangenheit schauen und den freien Handel ablehnen. Protektionismus wird weder den Menschen in Spanien, noch in Frankreich oder Polen Vorteile bringen", sagte der Vorsitzende der Liberalen Fraktion. Zur Auseinandersetzung um die Dienstleistungsrichtlinie sagte Watson: "Der freie Markt ist unter Druck wie nie zuvor. Die Kommission muss ihn verteidigen. Der Gipfel muss bestätigen, dass die Richtlinien zu den Grundfreiheiten umgesetzt werden - die Freizügigkeit für Arbeitnehmer und für Kapital muss gewährleistet sein." Sein Fraktionskollege Alexander Graf Lambsdorff verglich die Lissabon-Strategie mit einer "Jahrmarktattraktion - die Dame ohne Unterleib. Die Vorstellung, wir könnten mehr Wachstum mit weniger Binnenmarkt erreichen, zeugt von Realitätsverlust. Wer den Binnenmarkt in Gefahr bringt, versündigt sich an den Arbeitslosen Europas. Auch die Alten bedürfen unserer Aufmerksamkeit: Wir brauchen Wachstum, um unsere Sozialsysteme zu finanzieren."
Im Streit um die Dienstleistungsrichtlinie allerdings folgt Barroso den liberalen Forderungen nicht, sondern orientiert sich an der schwarz-roten Mehrheit im Parlament. Anfang April werde er eine überarbeitete Fassung der Dienstleistungsrichtlinie vorlegen, "die sich großen Teils auf die erste Lesung und die Debatte im Rat stützt".
Daneben wird auch die Energiesicherheit beim Gipfel breiten Raum einnehmen. Vor dem Europaparlament in Straßburg erinnerte Barroso daran, dass wachsende Abhängigkeit von Importen, höhere Energiepreise und der Klimawandel alle Mitgliedstaaten vor die gleichen Herausforderungen stellen. Deshalb könnten die Europäer die Probleme nur gemeinsam lösen. "Ich höre manchmal, dass eine Europäische Energiepolitik nicht machbar ist, weil sie an den strategischen Interessen der Nationalstaaten rührt. Ich brauche wohl nicht daran zu erinnern, dass die Keimzelle der Europäischen Union eine gemeinsame europäische Energiepolitik für Kohle und Stahl gewesen ist!"
Die grüne Abgeordnete Rebecca Harms kritisierte die Energiepläne der Kommission mit scharfen Worten. "Wenn Sie nicht bereit sind, die Verkehrspolitik in Ihre Energiestrategie einzubeziehen, wenn Sie nicht auf Ressourcenschonung und Effizienz, sondern darauf setzen, die Laufzeiten der Atomkraftwerke zu verlängern, können Sie nur scheitern."
Nimmt man die Rede des Kommissionspräsidenten vor den Abgeordneten in Straßburg als Maßstab, steht die soziale Frage derzeit wirklich nicht hoch im Kurs. Nur wenige Sätze widmete er dem Thema. Der Druck auf Unternehmen und Arbeitnehmer durch den scharfen internationalen Wettbewerb dürfe nicht ignoriert werden. Deshalb habe die Kommission den Globalisierungsfonds vorgeschlagen. Er solle als "shock-absorber", als Stoßdämpfer für den "mächtigen Motor Globalisierung" wirken. Doch auch dieses Projekt steht unter dem Finanzierungsvorbehalt. Deshalb erwarten die Abgeordneten vom EU-Gipfel am Ende dieser Woche vor allem eines: Ein starkes Mandat für den österreichischen Verhandlungsführer bei den Finanzverhandlungen mit dem Parlament. Nur wenn er bei Forschung, Weiterbildung und sozialen Programmen für die kommenden sieben Jahre noch etwas drauflegen kann, hat die Lissabon-Strategie Chancen. Was das angeht, sind sich die EU-Abgeordneten einig.