Das Parlament: Fräuleinwunder und Aufbauwille, Heimatfilm und Wirtschaftsaufschwung: Die "Goldenen Fünfziger" sind für uns heute ein Mythos. Was stand im Alltag der Bevölkerung im Vordergrund?
Martin Sabrow: An erster Stelle sicherlich die Normalisierungssehnsucht der Davongekommenen. Man wollte eine Heilung der materiellen und moralischen Kriegsschäden. Das Wörtchen ‚wieder' spielte eine wichtige Rolle: Wiederaufbau, Wiedergutmachung - als könne man das historische Rad ein Stück weit zurückdrehen. Darin steckte zugleich eine Rück-eroberung des Privaten und ein Zurückdrängen des Politischen. Sicherheit wurde zu einer zentralen Kategorie der politischen Kultur, bestärkt durch die Angst erzeugende Systemkonfrontation des Kalten Krieges, etwa im Korea-Krieg oder später in der Kuba-Krise.
Das Parlament: Und im kulturellen Bereich?
Martin Sabrow: Natürlich finden wir Sehnsucht nach Normalität auch in der Kultur; die Konjunktur der guten alten Zeit im Heimatfilm oder der Triumph der Rückkehr zu internationaler Achtung mit der Fußballweltmeisterschaft 1954 sind bekannte Beispiele. Aber waren die 50er-Jahre so unpolitisch, wie man heute gerne behauptet? Wenn ich mir anschaue, wie das politische Kabarett derzeit in der Beliebigkeit untergeht, finde ich, dass die ‚Münchner Lach- und Schießgesellschaft' in den 50er-Jahren ungleich mehr Wirkung erzielte.
Das Parlament: Der Umgang mit der NS-Vergangenheit gehört zu den düsteren Kapiteln der frühen Bundesrepublik. Einzelne NS-belastete Eliten entkamen sogar der Strafverfolgung. War deren Integration der Preis für den Aufbau einer funktionierenden Gesellschaft?
Martin Sabrow: Das ist eine schwierige Frage. Darüber unterhalten wir uns schon seit über zwei Jahrzehnten. Man muss aus heutiger Sicht festhalten: Die von den alliierten Siegern erzwungene Demokratisierung der Bundesrepublik war trotz aller unglaublichen Defizite ein Erfolg, besonders, wenn wir das mit dem völligen Fehlschlag desselben Konzepts heute im Nahen Osten, etwa im Irak, vergleichen.
Das Parlament: Also war die Integration der früheren Eliten für die Befriedung des Landes notwendig?
Martin Sabrow: Notwendig ist vielleicht ein zu starkes Wort. Aber es war im Ganzen ein erfolgreicher Weg, der ungeachtet einer vielfach verdrängten Vergangenheit Generationen später keine Rück-stände hinterlassen hat, die unsere Vergangenheitswahrnehmung dauerhaft belasten. Gemessen an den Standards heute war der Umgang mit der NS-Vergangenheit in den 50er- und 60er-Jahren natürlich fragwürdig und defizitär. Als Vorbild taugt er nicht. Aber ob unser heutiger Glaube an die heilende Kraft der Erinnerungskultur der einzig richtige ist, bleibt zu diskutieren. Ein Zeitgenosse der 50er-Jahre hätte die Rede von der Vergangenheitsverdrängung mit guten Gründen zurückweisen können: Neben dem Heimatfilm gab es Filme wie "Die Mörder sind unter uns" oder "Rosen für den Staatsanwalt". Das "Tagebuch der Anne Frank" war auch in den 50er-Jahren ein großer Bucherfolg. Bei uns hat sich in den letzten Jahren die Beschwörung der Erinnerung zu einer unangreifbaren Pathosformel entwickelt. Aber ist das "Erinnern" dem "Vergessen" eigentlich zu jeder Zeit und in jeder Hinsicht überlegen?
Das Parlament: Trotzdem bleibt die Frage: Warum setzten sich Politiker in den Fünfzigern auch für die Freilassung von Verbrechern ein?
Martin Sabrow: Es herrschte ein breiter Konsens, dass die Schuld an der nationalsozialistischen Barbarei nicht die Gesellschaft trifft, sondern dass sich die Schuld auf wenige konzentriert: auf Hitler und seine Anhänger und daneben noch eine kleine Gruppe "vertierter" Gehilfen. An den freundlichen Zahnarzt von nebenan zum Beispiel dachte man da nicht.
Das Parlament: Wurde die NS-Vergangenheit damals also schlichtweg verdrängt?
Martin Sabrow: Es gab sicher eine Vergangenheitsvergessenheit, aber keine durchgängige Vergangenheitsverdrängung. Und natürlich wurde vieles tabuisiert.
Das Parlament: Wann begann man denn im Westen, sich verstärkt mit der Vergangenheit auseinander zu setzen?
Martin Sabrow: Das geschah nicht erst seit der Studentenbewegung, wie der 68er-Mythos suggerierte. Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen nimmt seit den späten 50er-Jahren und dem Wiederaufleben der NS-Prozesse stetig zu, und sie war zu keiner Zeit nach 1945 völlig ausgeblendet.
Das Parlament: Welche Unterschiede gab es in der Vergangenheitsbewältigung in Ost und West?
Martin Sabrow: In der DDR wurde die NS-Diktatur in jeder Phase weniger beschwiegen oder besser gesagt: anders beschwiegen. Man feierte den Tag der Kapitulation von Anfang an als Tag der Befreiung. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Täterschaft gab es allerdings auch in der DDR so wenig wie in der frühen Bundesrepublik. Im Fokus stand die kollektive, nicht die individuelle Schuld. Ehemalige Mitläufer wurden integriert, und sie hatten sogar eine eigene Partei, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD). Das war eine Art "Durchlauferhitzer" für braune Eliten, die zur Allianz mit den Kommunisten bereit waren. In der Alltagskultur und im Zeichen der "antizionistischen" Ausrichtung des Regimes spielte die Erinnerung an den Holocaust bis in die 80er-Jahre hinein eine kaum erkennbare Rolle.
Das Parlament: Wie entwickelte sich in beiden Teilen Deutschlands die Vergangenheitsbewältigung schließlich zur Erinnerungskultur?
Martin Sabrow: Das passierte und passiert fast gleitend als eine schrittweise Entwicklung, die den Zeitgenossen oft kaum bewusst wird. Manchmal gibt es freilich auch dramatische Momente. Der Frankfurter Auschwitzprozess von 1963 bis 1965, Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1985, aber auch die verunglückte Bundestagsrede Philipp Jenningers zum 40. Jahrestag des Judenpogroms 1988 sind solche Anlässe.
Das Parlament: Was ist das eigentlich genau, eine Erinnerungskultur?
Martin Sabrow: Erinnern meint für uns nicht Feiern. Der Blick zurück wird heute nicht aufgerufen, um aus dem Stolz auf die Vergangenheit Stärke für die Zukunft abzuleiten. Erinnern heißt heute Zuhören, und es gilt den Opfern der Geschichte ebenso wie früher ihren Helden. Das Wort Erinnerungskultur markiert diesen Wandel und es markiert seine Wertschätzung. In der Erinnerung und ihrem Träger, dem Zeitzeugen, wird unsere Suche nach historischer Authentizität fassbar. Ihr messen wir einen unglaublichen, gelegentlich fast sakralen Wert zu. Und das unterscheidet uns deutlich von den Deutschen der 50er-Jahre.
Das Interview führte Barbara Lich