Deutschland 1952: Zwischen Regierung und Opposition tobt der Streit um die geplante Wiederbewaffnung Deutschlands und die Beteiligung deutscher Soldaten an einer europäischen Armee. Bis vor das Bundesverfassungsgericht führt beide der Disput. Ihn schafft Konrad Adenauer am Ende nur mit einer Gesetzesänderung aus der Welt. Für das höchste aller deutschen Gerichte ist das die Feuertaufe: Erst kurz zuvor, am 28. September 1951, war das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gegründet worden - als Wächter über das Grundgesetz, als Schlichtungsorgan zwischen den Verfassungsorganen und nicht zuletzt als Anlaufstelle für Bürger, die ihre Grundrechte verletzt sehen. Nun also, im Winter 1952, sitzt das Gericht zum ersten Mal im Fadenkreuz zwischen Regierung und Opposition - und sieht sich gleich, kaum ist die Tinte auf den Ernennungsurkunden der Richter getrocknet, dem Unmut des Kanzlers ausgesetzt. "Dat ham wir uns so nich vorjestellt", schimpft Adenauer während einer Teestunde im Kanzleramt, und meint damit die eigensinnigen Richter, die in Karlsruhe unbequeme Entscheidungen treffen und damit die Regierung in Bedrängnis bringen.
Für den Kanzler muss das besonders bitter sein. Immerhin hat er als Präsident des Parlamentarischen Rates mit dafür gesorgt, dass es das Bundesverfassungsgericht überhaupt gibt. Und nun geriert es sich in den Augen mancher Politiker als "Überregierung" und "Überparlament", als "Diktator Deutschlands" (Adenauer), ein Vorwurf übrigens, der das Gericht bis heute immer wieder begleitet.
Dabei hatte der Parlamentarische Rat die Basis für diese machtvolle Position selbst gelegt: Ganz bewusst war das Organ in räumlicher Distanz zur Bonner Republik errichtet worden, mit dem Auftrag, wichtige Verfassungsprinzipien auch und gerade vor dem Zugriff der demokratischen Mehrheit zu schützen. Als oberster Hüter des Grundgesetzes entscheidet das Bundesverfassungsgericht seither allein über die Auslegung der Verfassung und das letztendlich für alle anderen Staatsorgane. Im Klartext heißt das: Es kann Gesetze kippen, die von Regierung, Bundestag und Bundesrat beschlossen worden sind. Sie müssen sich dann erneut mit dem Gesetz befassen.
Damit nimmt es nicht nur in der deutschen Verfassungsgeschichte eine einmalige Stellung ein. Auch international ist es herausragend - wenngleich ein Vorbild für viele Staaten. Zufrieden stellte Jutta Limbach, die heutige Präsidentin des Gerichts, einmal fest, dass sich das "Modell Bundesverfassungsgericht als Exportschlager erwiesen hat und immer noch erweist."
Doch die starke deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit birgt auch Zündstoff. Wo Juristen auf konkrete Politik so viel Einfluss nehmen können wie in Karlsruhe, wird die Auswahl der Richter zwangsläufig zum Politikum. Daran ändert auch der im Gesetz geregelte politische Proporz wenig. Nach ihm handeln die Fraktionen ihre Kandidaten untereinander aus, die dann jeweils zur Hälfte durch einen Wahlausschuss des Bundestages und vom Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit in die beiden Senate des Hauses gewählt werden.
Kritik an der politischen Orientierung des Gerichts hat es dennoch immer wieder gegeben, besonders in den 70er-Jahren in Zeiten der sozialliberalen Koalition. Damals machten die überwiegend konservativ gesinnten, noch zu Adenauers Zeiten ernannten Richter fast alle wichtigen Reformgesetze der Bonner Regierung zur Makulatur - unter anderem die Hochschulreform, die Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch und die Ausbildungsplatzabgabe. Viele dieser Urteile sind im Rückblick umstritten.
Für den Ausbau der Grundrechte in Deutschland hat das Gericht trotzdem eine beachtliche Rolle gespielt. Davon zeugen spektakuläre Urteile: So verbot das Bundesverfassungsgericht 1952 die neofaschistische Sozialistische Reichspartei (SRP) und vier Jahre später die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Es stärkte die Meinungsfreiheit und bestätigte 1953 die im Grundgesetz verankerte Gleichberechtigung von Mann und Frau. 1983 begründete es das Recht auf informationalle Selbstbestimmung - der Beginn des modernen Datenschutzes. In jüngster Zeit sorgte das Kruzifix-Urteil für lebhafte Diskussionen über das Verhältnis von Staat und Religion.
Inzwischen steht das Karlsruher Gericht allerdings nicht mehr allein da: Seine Interpretationshoheit über das Grundgesetz muss es jetzt auch gegen eine immer stärker werdende EU-Justiz verteidigen. Sein Ansehen in der Bevölkerung aber ist ungebrochen: Umfragen zeigen regelmäßig, dass das Bundesverfassungsgericht mehr Vertrauen genießt als jedes andere Verfassungsorgan in Deutschland.