Der Generaldirektor der WTO, Pascal Lamy, hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ein neues Welthandelsabkommen doch noch zustande kommt. Nach den Wahlen zum amerikanischen Kongress und Senat gebe es eine neue Gelegenheit, die Verhandlungen fortzusetzen, die Ende Juli vertagt wurden, sagte Lamy bei einem Besuch Anfang vergangener Woche in Brüssel.
Seit Juli sei vielen WTO-Staaten klar geworden, dass die notwendigen Zugeständnisse gering seien im Vergleich zu den bereits erzielten Verhandlungserfolgen. "Was unstrittig auf dem Verhandlungstisch liegt, ist zwei bis drei Mal mehr als wir in der Uruguay-Runde erreicht haben", sagte Lamy. Sollte die laufende Doha-Runde scheitern, wäre dieser Verhandlungserfolg verloren. Die Entwicklungsländer seien die Hauptleidtragenden, denn vom Ausbau des multilateralen Handels-systems profitiere vor allem der Warenaustausch zwischen den Entwicklungsländern. Er macht inzwischen die Hälfte des Welthandels aus.
Bilaterale Handelsverträge seien keine Alternative zu neuen Vereinbarungen im Rahmen der WTO. Er sei erstaunt, dass jetzt bilateral Konzessionen angeboten würden, zu denen man bei den WTO-Verhandlungen nicht bereit gewesen sei.
Das zielte nicht zuletzt auf die Europäische Union. Die EU-Kommission hat Anfang Oktober eine neue Handelsstrategie beschlossen. Der Ausbau des multilateralen Handelssystems der WTO bleibe die oberste Priorität der EU, sagt Handelskommissar Peter Mandelson: "Die WTO ist aber nicht alles." Er will vor allem mit den rasch wachsenden Ländern in Ostasien bilaterale Handelsabkommen abschließen.
In diesem Zusammenhang sollen die Instrumente, mit denen die EU gegen unfaire Handelspraktiken vorgeht, überdacht werden. Sie müssten der Tatsache Rechnung tragen, dass immer mehr europäische Firmen außerhalb der EU produzieren und diese Waren in Europa verkaufen. Die Kommission hatte zuvor nur mühsam durchgesetzt, dass die EU Anti-Dumping-Zölle auf Schuhe aus China und Vietnam verhängt. Davon profitieren vor allem italienische und spanische Hersteller. Heftig kritisiert wird die neue Handelspolitik der EU von den AKP-Ländern. Die 78 Länder in Afrika, der Karibik und im Pazifik, mit denen die EU besondere Partnerschaftsabkommen geschlossen hat, fühlen sich von Brüssel unter Druck gesetzt, ihre Märkte zu öffnen. Bei einer Anhörung im Entwicklungsausschuss des Europäischen Parlamentes kritisierten ihre Vertreter in der vergangenen Woche den Wunsch der EU nach Investitionsschutzabkommen und der Beteiligung europäischer Unternehmen an Ausschreibungen für öffentliche Aufträge.
Unterstützt wurden sie von der britischen Regierung. Neue Vereinbarungen mit diesen Ländern müssten "für die AKP-Staaten wirklich von Nutzen sein", hieß es in einem Brief an die EU-Kommission. Mandelson verteidigt seine Politik mit dem Hinweis, in vielen Ländern Afrikas seien die Rahmenbedingungen so schlecht, dass selbst einheimische Unternehmen dort nicht investierten. Mehr europäische Investitionen seien der "einzige Weg aus der Armut in diesen Ländern. Wenn die britische Regierung sich denjenigen anschließt, die Afrikas Türen für effektive und transparente Investitionen verschließen wollen, läuft sie Gefahr, den gleichen Fehler zu begehen."