Hält doppelt genäht besser? Oder verderben viele Köche den Brei? Sprichworte dieser Art drängen sich auf bei zwei Entscheidungen des Bundestags in einem politischen Minenfeld. Auf Antrag von Union und SPD soll sich der Verteidigungs- in einen Untersuchungsausschuss umwandeln, um den mysteriösen Fall des in Bremen aufgewachsenen Türken Murat Kurnaz aufzuklären, der mehrere Jahre unter offenkundig falschem Terrorverdacht in Guantanamo einsaß. Nach seiner Freilassung erhob er den Vorwurf, im Januar 2002 in Afghanistan von Bundeswehrsoldaten misshandelt worden zu sein.
Im Plenum des Parlaments dürfte zudem der Antrag von FDP, Linkspartei und Grünen durchgehen, auch den Rechercheauftrag des so genannten BND-Untersuchungsausschusses um die Befassung mit der Affäre Kurnaz zu erweitern. Die Arbeit dieses Gremiums, das unter anderem eine eventuelle Verwicklung deutscher Stellen in die rechtswidrige Verschleppung des Deutschlibanesen Khaled El-Masri durch die CIA im ersten Halbjahr 2004 prüfen soll, geriet inzwischen etwas in den Schatten öffentlicher Wahrnehmung: Die Zeugenvernehmung schleppt sich hin, auch die Sitzung vergangene Woche brachte kaum neue Erkenntnisse.
Binnen weniger Tage entwickelte der Fall Kurnaz eine ungeahnte Dynamik. Schwung wird nicht nur in die vielfältigen Nachforschungen gebracht, ob es bei der Bekämpfung des Terrorismus in den zurückliegenden Jahren stets rechtsstaatlich zuging. Durcheinandergewirbelt wird unversehens auch die Tagespolitik. Anfang November befindet der Bundestag über die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Der Verdacht, Angehörige des Kommandos Spezialkräfte (KSK) könnten eventuell Kurnaz misshandelt haben, droht die bislang sicher gewähnte Mehrheit plötzlich bröckeln zu lassen. Unruhe hat selbst im Koalitionslager das mulmige Gefühl ausgelöst, das KSK könnte sich am Hindukusch zumindest teilweise der politischen Kontrolle entzogen haben. Auch in den Reihen der SPD-Fraktion wird Kritik an der Erneuerung des Bundeswehrmandats in Afghanistan laut. Ein "einfaches Durchwinken" der Verlängerung werde es jedenfalls nicht geben, sagt der SPD-Abgeordnete Rainer Arnold voraus. Die Linkspartei verlangt ein Ende des Einsatzes deutscher Soldaten. Der grüne Verteidigungspolitiker Winfried Nachtwei meint, die Mission in Afghanistan sei "so strittig wie seit 2001 nicht mehr".
Wenn die Parlamentarier Bernd Siebert (CDU) und Arnold eine "rückhaltlose und unverzügliche" Aufklärung der Affäre Kurnaz ankündigen, so liegt die Vermutung nicht fern, derart auch den Widerständen gegen die Neuauflage des Bundeswehrmandats am Hindukusch Wind aus den Segeln nehmen zu wollen. Laut Verteidigungsministerium gab es im Januar 2002 im US-Lager Kandahar "verbale", aber keine "körperlichen Kontakte" zwischen KSK-Angehörigen und einem deutschen US-Gefangenen. "Du warst wohl auf der falschen Seite", soll ein deutscher Soldat gerufen haben. Laut Ministerium existieren bislang keinerlei Anhaltspunkte, dass Kurnaz von KSK-Mitgliedern misshandelt worden sein könnte. Allerdings sind noch nicht alle Militärs befragt worden, die seinerzeit im US-Lager Kandahar eingesetzt waren. Wegen dieser Unterstützung bei der Bewachung von Gefangenen, die von den USA an geheime Orte verschleppt worden seien, spricht Wolfgang Nescovic (Linkspartei) vom Verdacht der Behilfe zu völkerrechtswidrigem Verhalten.
Eingeräumt wurde vom Ministerium, dass es den bislang nicht bekannten Kontakt zwischen dem KSK und Kurnaz überhaupt gab. Der Grüne Hans-Christian Ströbele, der wie Nescovic dem BND-Ausschuss angehört, kritisiert deshalb rückblickend "eine Art Tarnen und Täuschen" seitens der Regierung. Die Meldung der Truppe in Afghanistan über die Inhaftierung eines mutmaßlich deutschen Bürgers durch US-Truppen erreichte seinerzeit die militärische Führung in Deutschland, nicht aber die politische Leitung des Ressorts unter dem damaligen SPD-Minister Rudolf Scharping. Obendrein wurde im Januar 2002 vom Bundesnachrichtendienst (BND) ans Kanzleramt gemeldet, bei dem Gefangenen in Kandahar handele es sich um Kurnaz. Chef des Kanzleramts und zuständig für die Geheimdienstkoordination war seinerzeit der heutige SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier.
Für Streit dürfte auch die Frage sorgen, ob der eigentlich nichtöffentlich tagende Verteidigungsausschuss als Untersuchungsgremium bei dem brisanten Thema Zeugen auch vor Publikum vernehmen soll. Der BND-Ausschuss vermag dies wenigstens teilweise. Im Fall Kurnaz will die Kommission in erster Linie recherchieren, ob sich die Regierung ausreichend für die Freilassung des offenkundig unschuldig in Guantanamo festgehaltenen Türken eingesetzt hat.
Angeblich sollen die USA Ende 2002 die Überstellung von Kurnaz in die Bundesrepublik angeboten haben, tatsächlich entlassen wurde er erst im August dieses Jahres. Der Ausschuss will nachforschen, ob sich die damalige Regierung unter der Verantwortung Steinmeiers für Kurnaz eingesetzt hat - und ob bzw. warum die Offerte Washingtons möglicherweise ausgeschlagen wurde. Der FDP-Abgeordnete Max Stadler: "Ging das Schicksal eines Einzelnen aus Staatsraison unter?"
Angesichts der Affäre Kurnaz geraten die momentan eher unspektakulären Zeugenvernehmungen zur Frage, ob deutsche Stellen in die Entführung El-Masris durch die CIA verwickelt waren, etwas ins Hintertreffen. Bei der jüngsten Sitzung des Ausschusses betonte Wolfgang Weber als Präsident des bayerischen Verfassungsschutzamts auch auf hartnäckiges Nachbohren durch FDP, Linkspartei und Grüne, dass seine Behörde und andere deutsche Stellen keine Informationen über den Deutschlibanesen an US-Geheimdienste weitergeleitet hätten. Im Rahmen der Beobachtung des Neu-Ulmer Multikulturhauses sei El-Masri ohnehin nur eine "kleine unbedeutende Randfigur" gewesen. Laut Weber erfuhr die bayerische Behörde erst im Juni 2005 nach dem Ende der Verschleppung des Deutsch-Libanesenn von dieser Aktion. Allerdings hat sich, so Weber, das Bundesamt für Verfassungsschutz im April 2004, als El-Masri noch in Afghanistan inhaftiert war, in München erkundigt, ob man etwas über dessen Verschwinden aus Neu-Ulm wisse.
Eine interessante Spur offenbart die Anhörung von Ana Korzenska, die in der Teleonzentrale der Botschaft in Skopje arbeitet. In Mazedonien war El-Masri zunächst gekidnappt worden. Ein damals dort tätiger Telekom-Manager hatte gesagt, schon im Januar 2004 die Botschaft telefonisch auf die Festnahme eines Deutschen hingewiesen zu haben: Dabei sei er mit der Bemerkung abgewimmelt worden, das sei bereits bekannt. Vor den Abgeordneten gaben Mitarbeiter der diplomatischen Vertretung bislang an, von einem solchen Anruf nichts zu wissen. Vor allem auf Nachfragen von Wolfgang Nescovic kommt jetzt heraus, dass offenbar auch BND-Residenten in der Botschaft in deren wechselnde Rufbereitschaft außerhalb der Dienstzeiten eingeteilt waren. Ob der Telekom-Manager mit einem BND-Mann verbunden war? In solchen Augenblicken wähnt man sich im Ausschuss bei kriminalistischer Feinarbeit.