Sachverständige uneins über Hartz-IV-Korrekturen - Eklat in Anhörung
Berlin: (hib/MPI) Die geplanten Korrekturen an der Hartz-IV-Reform sind unter Arbeitsmarktexperten umstritten. Bei einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales zu einem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen ( 16/1410) kritisierte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) am Montag insbesondere die vorgesehene Beweislastumkehr für so genannte Bedarfsgemeinschaften. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber (BDA) lobte hingegen dieses Vorhaben. Während der Sitzung kam es zu einem Eklat. Nachdem einige Zuhörer die Anhörung bereits mit Zwischenrufen gestört hatten, entfalteten mehrere Personen ein Spruchband mit der Aufschrift "Arbeitslos, nicht wehrlos". Der Ausschussvorsitzende Gerald Weiß (CDU) verwies die Personen der Anhörung und drohte mit der Räumung des Saals.
Die Fraktionen von Union und SPD streben mit ihrem Gesetzentwurf an, dass Langzeitarbeitslose für den Bezug des vollen Arbeitslosengeldes II (Alg II) künftig etwa nachweisen müssen, dass sie mit Mitbewohnern in einer Wohngemeinschaft keine auf Dauer angelegte Gemeinschaft bilden. "Die gesamte Regelung ist nur mit hohem Kontrollaufwand umsetzbar und belastet die Gerichte in hohem Maße", bemängelte der DGB. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) lehnte die Beweislastumkehr ab, "da sie unpraktikabel und verfassungsrechtlich bedenklich" sei. Keine Antwort hatten die Sachverständigen auf die Frage, wie Arbeitslose konkret beweisen sollen, dass sie nicht in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Die Sozialdezernentin der Stadt Köln, Marlis Bredehorst, unterstrich, es sei bislang nur in ganz wenigen Fällen streitig, ob eine Bedarfsgemeinschaft vorhanden ist oder nicht. Das Einsparpotenzial halte sie deshalb für äußerst gering.
Auf Zustimmung stieß bei der BDA die im Gesetzentwurf beabsichtigte "bessere Missbrauchsbekämpfung". So seien "die geplanten verbesserten Datenabgleichsmöglichkeiten mit anderen Behörden dringend erforderlich und zu begrüßen", hieß es. Dagegen würden aber die "entscheidenden Fehlanreize durch überhöhte Leistungen über den Bedarf zur Existenzsicherung hinaus" nicht beseitigt. Umgehend abgeschafft werden müssen aus Sicht der BDA und der kommunalen Spitzenverbände auch die Zuschläge beim Übergang von Arbeitslosengeld auf Alg II. Faktisch bleibe es attraktiver, in Arbeitslosigkeit zu verharren, "statt gegebenenfalls auch eine einfache und entsprechend niedrig entlohnte Tätigkeit" aufzunehmen. Die BAGFW verdeutlichte, es gebe keinen Hinweis auf verstärkten Leistungsmissbrauch. Vielmehr seien die hohen Kosten für Alg II damit zu erklären, dass viele Leute mit Hartz IV aus verdeckter Armut geholt worden seien.
Das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende soll bereits am 1. August in Kraft treten und in diesem Jahr Einsparungen in Höhe von rund 500 Millionen Euro bringen. Für die Jahre 2007 und 2008 erhoffen sich Union und SPD eine Entlastung der öffentlichen Haushalte von jeweils 1,48 Milliarden Euro. Kernpunkt von Hartz IV war die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum 1. Januar 2005. Der DGB bezweifelte, dass die damit unter anderem angestrebte bessere Integration von Hilfebedürftigen in den Arbeitsmarkt erreicht worden sei. Dies behaupteten die Koalitionsfraktionen in dem Gesetzentwurf zwar, blieben aber einen Nachweis schuldig, hieß es.
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) begrüßte grundsätzlich, dass Schwarz-Rot Außendienste zur Bekämpfung von Leistungsmissbrauch verpflichtend einführen will. Allerdings biete es sich bei kleinen Arbeitsgemeinschaften an, keinen eigenen Außendienst einzurichten, sondern die Aufgabe "von einer übergeordneten Organisationseinheit wahrnehmen zu lassen". Der Deutsche Landkreistag kritisierte die Pflicht zur Einrichtung von Außendiensten als eine unzulässige Beschneidung der kommunalen Selbstverwaltung. Der Bundesdatenschutzbeauftragte machte in einer schriftlichen Stellungnahme deutlich, dass Hausbesuche laut Grundgesetz "nur mit vorheriger Zustimmung der Betroffenen" zulässig seien. Deshalb müsse klar gestellt werden, "dass es für die Außendienstmitarbeiter kein Betretensrecht gibt".
Das geplante Sofortangebot für Hilfebedürftige ohne bisherigen Leistungsbezug stieß auf das Wohlwollen der BAGFW. Allerdings müsse es individuell ausgerichtet sein und nicht lediglich der Überprüfung der Arbeitsbereitschaft dienen, hieß es. Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung warnte vor Angeboten "mit der Gießkanne". Um die Dauer des Hilfebezugs zu verkürzen, müssten die Eingliederungsmaßnahmen auf die Bedürfnisse der Hilfebedürftigen zugeschnitten sein. Die kommunalen Spitzenverbände zogen in Zweifel, ob genügend Sofortangebote zur Verfügung gestellt werden könnten.
Eine Rolle in der Anhörung spielten zudem die Pläne der Koalition, mit dem Gesetzentwurf auch die Existenzgründung aus Arbeitslosigkeit neu zu regeln. Die Vorschläge zur Zusammenführung der bisherigen "Ich-AG" und des Überbrückungsgeldes wurden von den Sachverständigen generell gutgeheißen. Die BA sprach sich aber dagegen aus, einen Rechtsanspruch für das neue Instrument zu gewähren, das laut eines Änderungsantrags der Koalitionsfraktionen bis zu 15 Monate Förderung in zwei Phasen umfassen soll. Der DGB forderte, den Gründungszuschuss über Steuern zu finanzieren.
Auf weitgehende Ablehnung stieß bei den Sachverständigen ein Antrag der Linksfraktion ( 16/977). Insbesondere der Vorschlag, das Alg II zu einer "bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung als Individualanspruch" auszubauen, wurde abgelehnt. Dies bedeute "letztlich die Auflösung der gegenseitigen Einstandspflicht von Paaren und Familien zu Lasten der Allgemeinheit", argumentierte beispielsweise der DGB. Unterschiedlich bewerteten die angehörten Experten einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ( 16/1124), der eine bessere Förderung von Alg-II-Empfängern und die Behebung der Software-Probleme bei der BA zum Ziel hat.