"So viel Anfang war noch nie"
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Unter ihrer gemeinsamen Regie trat zum ersten Mal der Bundestag im Reichstag zusammen. Es war der 4. Oktober 1990, ein Tag nach der Vereinigung Deutschlands, als die 144 Abgeordneten der Volkskammer mit ihren Kollegen aus der Bundesrepublik das erste gesamtdeutsche Parlament nach dem Krieg bildeten.
Sabine BergmannPohl, von April bis Oktober 1990 Staatsoberhaupt und Präsidentin der Volkskammer der DDR, und Rita Süssmuth, von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestages, erinnern sich im Gespräch mit Axel Mörer an diese erste Sitzung, die ersten Begegnungen und die Rückkehr des Parlaments in den umgebauten Reichstag.
Blickpunkt Bundestag Bundestag: Vor neun Jahren saßen Sie schon einmal gemeinsam im Reichstag, als die Abgeordneten von Bundestag und Volkskammer zur ersten gemeinsamen Sitzung zusammenkamen. Jetzt, am 19. April, kehren Sie zurück. Welche Gedanken bewegen Sie dabei?
Süssmuth: Mir gehen viele Dinge durch den Kopf aus den vergangenen zehn Jahren: Das große Glück der Wiedervereinigung, das Reichstagsgebäude als Ort und Symbol der Einheit, die Rede Willy Brandts zur Eröffnung des ersten gesamtdeutschen Bundestages am 20. Dezember 1990 im Reichstag, der Abzug der Alliierten aus Berlin, es verdichten sich viele Eindrücke. Ich glaube nicht, daß der 19. April ein Tag der Normalität ist, sondern ein sehr exklusiver wird.
BergmannPohl: Ich denke, dieser Tag, die erste Sitzung im wiedereröffneten Reichstag als Sitz des Deutschen Bundestages, ist ein Meilenstein auf dem Weg zur deutschen Einheit ...
... die demnach noch nicht ganz erreicht ist?
BergmannPohl: Richtig. Die innere Einheit ist dann erreicht, wenn die Lebensverhältnisse angeglichen sind und die Menschen nicht mehr von Ost und Westdeutschen, neuen und alten Ländern sprechen, sondern einfach sagen: Ich komme aus Thüringen, aus Sachsen, aus NordrheinWestfalen oder SchleswigHolstein. Dafür brauchen wir noch einige Zeit. Das haben wir unterschätzt. Aber an mir werden einige Begegnungen wie das erste Zusammentreffen der Präsidien der Volkskammer und des Bundestages am 30. April 1990 in Berlin wie ein bewegender Film vorbeiziehen.
Süssmuth: Das war ein schöner Tag. Das Kennenlernen verlief in einer ausgesprochen guten Atmosphäre und Zuwendung zueinander.
BergmannPohl: Wir haben damals über viele Gemeinsamkeiten gesprochen, über die Einrichtung der beiden Ausschüsse Deutsche Einheit, deren Vorsitzende wir beide wurden. Oder auch über die gemeinsame Feier des 17. Juni, was keine leichte Frage war. Aber wir wußten natürlich nicht, daß wir für all diese Fragen, für das gegenseitige Kennenlernen und die Vorbereitung der Wiedervereinigung gerade ein halbes Jahr Zeit hatten.
Süssmuth: Das war auch das für mich eigentlich Bewegende, das Tempo des Wiedervereinigungsprozesses. Als wir im Juni gemeinsam unseren IsraelBesuch unternahmen, waren die ZweiplusVierVerhandlungen noch gar nicht abgeschlossen. Ich dachte mir: Das alles kann doch im Oktober noch gar nicht so weit sein. Ich ging eher von zwei bis vier Jahren aus.
Sie, Frau BergmannPohl, haben als Volkskammerpräsidentin ein Amt übernommen, das vor der Revolution in der DDR keine Rolle spielte. Wußten Sie eigentlich, was auf Sie zukam, als Sie ins kalte Wasser gesprungen sind?
BergmannPohl: Halb sprang ich rein, halb wurde ich geschubst, als ich das Amt übernahm. Außerdem kam hinzu, daß ich erst in der Nacht vor der Wahl erfahren habe, daß die Parlamentspräsidentin aufgrund einer Verfassungsänderung zugleich Staatsoberhaupt der DDR sein sollte. Das war eine sehr unruhige Nacht für mich, weil ich wirklich nicht wußte, was da auf mich zukommen würde.
Haben Sie sich Rat geholt?
BergmannPohl: Selbstverständlich. Dazu kam, daß ich zwei Berater hatte, einen vom Bundestag und einen vom Bundespräsidialamt, die mich in meinen Funktionen begleitet haben.
Haben Sie auch Rita Süssmuth um Tips gebeten?
BergmannPohl: Wir hatten engen Kontakt. Vor dem offiziellen ersten Treffen der Präsidien am 30. April bin ich schon heimlich nach Bonn geflogen, um Rita Süssmuth zu besuchen und erste Kontakte zu knüpfen. Ich war ja damals ausschließlich von Mitarbeitern des alten Regimes umgeben und bat deshalb auch um Mitarbeiter aus Bonn. Es war eben eine turbulente Zeit, in der ich als Volkskammerpräsidentin und auch die Abgeordneten der Volkskammer selbst erst einmal ihre Rolle finden mußten. Es lief alles längst nicht so geschäftsmäßig ab wie im Bundestag. Auch die Fraktionsgrenzen waren nicht so ausgeprägt, es war alles viel spontaner. Wir mußten uns mit Dingen wie einer Geschäftsordnung beschäftigen, gleichzeitig aber schon über den Einigungsvertrag debattieren.
Süssmuth: Ich erinnere mich an eine Volkskammersitzung nach dem Festakt zum 17. Juni, die wir als Bundestagspräsidium von der Tribüne aus beobachteten. Die Prozesse in der Volkskammer waren so spontan und voller Dynamik, daß wir dachten: Wenn das so weiter geht, dann beschließen die heute Abend schon die Deutsche Einheit. Das war auch für uns auf der Tribüne eine dramatische Sache. Was wir so gewohnt waren aus dem Bundestag, in Schemata zu denken, das traf auf die Volkskammer in keiner Weise zu.
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Skizziert das auch den ganzen Einigungsprozeß?
Süssmuth: Wir haben in den Jahren 1989/1990 in der Kategorie gelebt: Das Unmögliche wird möglich. Wir haben das Staunen wieder kennengelernt. So viel Anfang war noch nie. Damals habe ich auch mein erstes Ei abbekommen, als die Bauern vor der Volkskammer wegen erheblicher Einkommenseinbußen protestierten.
Die Volkskammer hat im Palast der Republik getagt. Dachten Sie schon daran, nur ein halbes Jahr später im Reichstagsgebäude zu sitzen?
BergmannPohl: Zunächst war das überhaupt nicht der Fall. Als wir anfingen, haben wir gedacht, daß es eine Übergangsphase von vielleicht zwei bis vier Jahren geben wird. Es ist dann alles viel rasanter gegangen Gott sei Dank muß ich sagen. Die außenpolitische Lage war günstig, und in der DDR hatten wir erhebliche wirtschaftliche Probleme, die wir allein gar nicht lösen konnten. Aber daß ich nur ein paar Monate später im Reichstag als Ministerin von Rita Süssmuth vereidigt würde, daran habe ich damals nun wirklich nicht gedacht.
Am 4. Oktober 1990 saßen Sie nun beide als Abgeordnete des Deutschen Bundestages im Reichstag. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Süssmuth: Endlich durften wir in diesem Gebäude frei, ohne die Auflagen der Alliierten tagen. Das war eine neue Erfahrung und für viele war dies schon das neue, Berliner Parlamentsgebäude.
BergmannPohl: Als ich in den Reichstag ging, da hatte ich so ein Gefühl, daß dies eine sehr historische Stunde ist, zu der man einen klitzekleinen Beitrag leisten konnte. Und mir war in diesem Moment auch klar, daß es das Ziel sein mußte, den Reichstag wieder zum Sitz des gesamtdeutschen Parlaments zu machen.
Haben Sie diese erste Sitzung gemeinsam vorbereitet?
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BergmannPohl: Ja, aber nicht nur die erste Sitzung des gesamtdeutschen Parlaments, sondern die gesamten Einigungsfeierlichkeiten.
Süssmuth: Das war eine sehr komplizierte Geschichte, und es gab ein dem Anlaß nicht ganz angemessenes Tauziehen darum, wer geht wohin ...
BergmannPohl: Jeder hatte seine eigenen Auffassungen, und wir haben versucht, uns zu einigen. Als Volkskammer haben wir zum Beispiel Wert darauf gelegt, daß die Einigungsfeierlichkeiten in beiden Teilen der Stadt stattfinden. Deshalb gab es einen Empfang in der Volkskammer, wir waren dann im Schauspielhaus im Osten Berlins, dann in der Philharmonie im Westen der Stadt, bis wir am 4. Oktober zur ersten Sitzung im Reichstag zusammenkamen. Es war uns wichtig, daß Berlin als Ganzes gesehen wird.
Am 19. April wird der Reichstag als Sitz des Deutschen Parlaments eingeweiht. Der richtige Platz?
BergmannPohl: Natürlich, ich habe darum gekämpft. Schon in der Volkskammerzeit habe ich gesagt, auch wenn das nicht immer gern gehört wurde, daß Berlin Hauptstadt werden soll und der Reichstag Sitz des Parlaments. Ich verstehe natürlich auch die Gefühle der Menschen in Bonn. Diese Stadt hat lange für Demokratie und Freiheit gestanden. Aber selbst der Bonner Oberbürgermeister Hans Daniels hat immer wieder die Stellvertreterrolle Bonns für Berlin betont. Deshalb war ich schon erstaunt und ein wenig enttäuscht, daß man das plötzlich nicht mehr wahrhaben wollte. Und zum Reichstag: Ich bin häufig gefragt worden, als ich in der Funktion des Staatsoberhauptes im Zimmer von Erich Honecker gesessen habe, wie ich in diesem Gebäude arbeiten könne. Ein Gebäude ist ein Haus mit Mobiliar. Der Geist ist wichtig, und nicht die Hülle.
Welcher Geist soll im Reichstag wehen?
BergmannPohl: Im Reichstag wünsche ich mir den Geist der Freiheit und Demokratie. Wir haben sehr lange davon geträumt und dafür gekämpft. Wir haben gelernt, daß es sich lohnt, für diese Werte zu kämpfen.
Was wird der 19. April im Leben Berlins verändern?
BergmannPohl: Daß die Funktion als Hauptstadt wirklich mit Leben erfüllt wird.
Wird Berlin auch den Bundestag verändern?
BergmannPohl: Berlin und der Reichstag als Gebäude werden die Arbeit des Parlaments sicher nicht verändern. Aber der Reichstag ist natürlich ganz anders in die Stadt integriert als der Bundestag in Bonn. Ich fühle mich in Bonn immer ein Stück separat. Um den Bundestag herum sind nur Gebäude der Regierung und des Parlaments, und wenn ich ins Café gehe, treffe ich im Regierungsviertel vor allem Abgeordnete. Der normale Bürger kommt in unsere Gegend nur, wenn er dem Bundestag einen Besuch abstattet. Das ist in Berlin anders. Der Reichstag liegt mitten in der Stadt. Der Potsdamer Platz, das Brandenburger Tor, Friedrichstraße und Unter den Linden sind in unmittelbarer Nähe. Der Kontakt zu den Bürgern wird viel intensiver werden.
Werden Sie am 19. April nebeneinander sitzen?
Süssmuth: Das ist eine schöne Anregung ...