Die Geschichte des Parlamentarismus
Geschichte Reichstag
DIE PARLAMENTARISCHE ARBEIT IM REICHSTAGSGEBÄUDE
VON HERMANN SCHÄFER
Ein Zwischenfall wie vor 105 Jahren wird sich bei der feierlichen Eröffnung des Deutschen Bundestages im umgebauten Reichstagsgebäude gewiß nicht wiederholen: Als sich am Donnerstag, dem 6. Dezember 1894, die Parlamentarier erstmals im neuen Plenarsaal versammelten, waren einige wenige Sozialdemokraten, darunter ihr Senior, der damals schon fast 70jährige Wilhelm Liebknecht, beim dreifachen "KaiserHoch" entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit im Plenarsaal anwesend, während sich jedoch alle anderen Abgeordneten von ihren bequemen neuen Ledersesseln erhoben, blieben sie sitzen. Der Reichstagspräsident soll damals außer sich geraten sein und mit seinem Rücktritt gedroht haben, während Reichskanzler Fürst von Hohenlohe die Einleitung eines Verfahrens gegen Liebknecht wegen Majestätsbeleidigung beantragte. Der Reichstag verweigerte jedoch die Aufhebung von dessen Immunität und die Wogen glätteten sich schließlich mit einer Änderung der Geschäftsordnung des Reichstages, die es dem Reichstagspräsidenten von nun an gestattete, Abgeordnete "im Falle gröblicher Verletzung" von einer Sitzung auszuschließen. Mit der Politik des "Burgfriedens" im Ersten Weltkrieg und der damit verbundenen Anerkennung der Sozialdemokratie durch Wilhelm II. für ihn bis dahin "vaterlandslose Gesellen" wurde das "KaiserHoch" ab der Sitzung am 4. August 1914 in ein "Hoch auf Kaiser, Volk und Vaterland" abgeändert, das auch die Sozialdemokraten von da an stehend mitanhörten.
Die insgesamt 397 Abgeordneten des 1871 gegründeten Deutschen Reiches tagten zunächst 23 Jahre in der Leipziger Straße 75 bzw. 4; am 3. März erstmals für dreijährige, ab 1888 fünfjährige Perioden gewählt, versammelten sie sich ab dem 21. März 1871 im Abgeordnetenhaus, der Zweiten Preußischen Kammer des Landtages, und ab dem 16. Oktober 1871 in der eigens umgebauten Königlichen Porzellanmanufaktur. Obwohl die dortigen Raumverhältnisse beengt waren, dauerte es elf Jahre, bis in einem Wettbewerb 1882 die Entscheidung für einen Parlamentsneubau nach einem Entwurf des Frankfurter Architekten Paul Wallot fiel, für den am 9. Juni 1884 in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Otto von Bismarck der Grundstein gelegt wurde. Weder Wilhelm I. noch sein Enkel respektierten die Volksvertretung, nur zu gern sahen sie deren Gebäude außerhalb der Stadtgrenzen, und Wilhelm II. machte keinen Hehl daraus, daß er das Gebäude persönlich für den "Gipfel der Geschmacklosigkeit" hielt.
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Feierstunde zum dritten Jahrestag der Unterzeichnung der Verfassung des Deutschen Reiches durch Reichspräsident Ebert am 11. August 1922 |
Die Meinung der Abgeordneten war differenzierter, der Sozialdemokrat August Bebel übrigens seiner Zeit "Rekordhalter" für Ordnungsrufe und Ermahnungen des Reichstagspräsidenten soll das Gebäude zum Beispiel für schön gehalten haben. Die Bedingungen für die parlamentarische Arbeit wurden jedenfalls in vieler Hinsicht besser gegenüber dem alten Provisorium: Plenarsaal, Ausschußräume, Sitzungszimmer, Wandelhallen, Bibliothek, Lesezimmer etc. waren großzügiger, freilich waren alle Wege weiter und auch das neue Restaurant in seiner Bewirtungsqualität und Belüftung umstritten. Die 1912 zwischen Ober und Dachgeschoß eingebauten 100 Arbeitszimmer für Abgeordnete reichten jedoch in keiner Weise; in den zwanziger Jahren teilten sich darin manchmal bis zu sechs Parlamentarier zwei Schreibtische. Allerdings wurde diese Raumnot erst offenbar, als die Mitglieder des Reichstages etwa ab 1907 häufiger zu den Sitzungswochen nach Berlin kamen. Das Recht auf Zusammenkunft, Vertagung und Auflösung lag nach Artikel 12 der Reichsverfassung von 1871 beim Kaiser, und tatsächlich tagte der Reichstag anfangs nur zweimal jährlich jeweils etwa sechs Wochen von März bis Juni und Oktober bis Dezember.
Wäre es nach Bismarck und dem Kaiser gegangen, wäre die Abgeordnetentätigkeit ganz ehrenamtlich geblieben. Zunächst erhielten die Reichstagsabgeordneten nur ein allgemeines Freifahrtsrecht für die Eisenbahn und erst ab 1906 eine Diätenentschädigung in Höhe einer Jahrespauschale, die bezogen auf eine sechsmonatige Session etwa dem Besoldungsniveau eines Regierungsrates oder Professors entsprach. In der Weimarer Republik erhielten die Abgeordneten dann das ganze Jahr hindurch 25 Prozent des Grundgehaltes eines Ministers sowie zusätzlich 1/30stel der Monatspauschale pro Tag, wenn sie außerhalb von Sitzungsperioden in Berlin sein mußten.
Die Zahl der Sitzungstage pro Session hatte sich bis zur Jahrhundertwende gegenüber den Jahren nach 1871 etwa verdoppelt (94 statt 181 Tage) und erhöhte sich mit Einführung der Diäten erneut. Wurden früher die laufenden Parlamentsgeschäfte etwa von 60 bis 80 Mitgliedern des Reichstages erledigt und waren die Abgeordneten, je weiter sie von Berlin entfernt wohnten, um so weniger in der Lage, an Sitzungen teilzunehmen, wurde der Reichstag nunmehr zunehmend zu einer Vertretung des ganzen Deutschland. In der Regel tagten die Abgeordneten in Sitzungswochen von Montag bis Samstagnachmittag, Ausschüsse und Fraktionen vormittags ab 10.00 Uhr, das Plenum ab mittags 13.00 oder 14.00 Uhr (außer montags und samstags).
Seine "Mappe" mit Tagesordnung und allen Vorlagen, Anfragen und Berichten sowie sonstigen Materialien erhielt jeder Abgeordnete frühmorgens zugestellt; es war meist mehr, als er gründlich durcharbeiten konnte. Im Kaiserreich zeichnete sich denn auch bereits in Ansätzen die Praxis der Politikberatung ab, insbesondere durch Juristen, Nationalökonomen, Historiker etc.
Redezeiten für einzelne Abgeordnete im Plenum wurden erst Ende Dezember 1922 auf höchstens eine Stunde beschränkt, zugleich wurden bei wichtigen Debatten Gesamtredezeiten für die Fraktionen eingeführt. Den Rekord mit der längsten Rede im Reichstag hält der SPDAbgeordnete Antrick mit seiner Achtstundenrede am 13. November 1902, die von 16.30 Uhr bis 0.30 Uhr dauerte. Bismarck belastete die parlamentarische Atmosphäre im Kaiserreich ab 1871 durch seinen "Kulturkampf" gegen den Katholizismus und ab 1878 durch die Sozialistengesetze. Trotz der allseits anerkannten Würde des Hohen Hauses gab es auch mancherlei Zwischenfälle, heftige Beifalls und Mißfallensäußerungen unter den Abgeordneten ebenso wie von der Tribüne, im März 1908 sogar einen mehrtägigen Journalistenstreik wegen einer"Saubengel"-Beleidigung durch einen Abgeordneten.
Abgestimmt wurde normalerweise durch Aufstehen von den Sitzen, noch genauer mit weißen "Ja", roten "Nein" oder blauen "Enthaltungs"Karten und im Ernstfall durch den "Hammelsprung". Zweifellos war Reden und Zuhören anstrengender als heute, da die Akustik des Plenarsaals schwieriger war als im vorherigen Provisorium, so daß Abgeordnete immer wieder das Rednerpult stehend umringten, um besser verstehen zu können. Journalisten und Zuhörer auf den Tribünen hatten noch größere Schwierigkeiten, wenn die Abgeordneten nicht wirklich laut und in Richtung der links und gegenüber dem Präsidium liegenden Pressetribüne sprachen. Erst Anfang 1929 wurde der Plenarsaal mit Mikrofonen, Verstärkern und Großlautsprechern ausgestattet.
Rundfunkübertragungen gab es mit Ausnahme einzelner Feierstunden oder besonders wichtiger Reden bis 1933 nicht. Die erste live und in voller Länge übertragene Rede war die von Reichskanzler Heinrich Brüning am 25. Februar 1932, ab der immerhin aufgezeichnet wurde. Der Ältestenrat des Reichstages verweigerte grundsätzlich seine Zustimmung zu Rundfunkübertragungen und vergab somit vielleicht eine Chance, die Arbeit des Parlaments einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln und damit möglicherweise die Akzeptanz der Demokratie zu erhöhen. Hitler nutzte die Möglichkeiten des Rundfunks nach der "Machtergreifung" schamlos, obwohl die "Volksvertretung" da bereits zum Akklamationsinstrument der Diktatur verkommen war, dem sogenannten "teuersten Gesangverein" der KrollOper, in der nach dem Reichstagsbrand vom 27./28. Februar 1933 getagt wurde.
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Besuch in Berlin: Bundeskanzler Ludwig Erhard am 30. April 1964 im Reichtstagsgebäude, in Begleitung des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt |
Der Reichstag des Kaiserreiches litt unter einem Mangel an parlamentarischen Rechten, vor allem zur Kontrolle der vom Kaiser eingesetzten Regierung. Die Weimarer Republik war geprägt von Parteienvielfalt und ideologischem Gegeneinander und belastet durch wirtschaftliche Probleme und Fehlen breiter demokratischer Gesinnung. Die letzte Plenarsitzung des alten, im Januar 1912 gewählten und infolge des Weltkrieges mit Überdauer amtierenden Reichstags fand am 24. Oktober 1918 statt, dem Monat, in dem der Kaiser im Angesicht der militärischen Niederlage ein Regierungssystem mit parlamentarischer Kontrolle zugestand. Fast ein Jahr sollte vergehen vom Balkon des Reichstags aus hatte Philipp Scheidemann am 9. November die Republik ausgerufen , bis sich am 30. September 1919 die frei gewählten Vertreter des inzwischen souverän gewordenen Volkes wieder an ihrer traditionellen Stätte im WallotBau zu Berlin versammelten. Infolge der Novemberrevolution, in der Arbeiter und Soldatenräte die Macht übernommen hatten und auch im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes ihre Versammlungen abhielten, war die Situation in Berlin bedrohlich. Die am 19. Januar 1919 gewählten 423 Mitglieder der Nationalversammlung unter ihnen erstmals 37 Frauen tagten ab dem 6. Februar 1919 im Nationaltheater zu Weimar. Die Situation in Berlin blieb hier auch nach Rückkehr der Parlamentarier unruhig: Nachdem am 13. Januar 1920 eine Demonstration vor dem Reichstag 42 Tote gefordert hatte, wurde am 20. Mai 1920 ein erstes Bannmeilengesetz verabschiedet.
Bis zum Regierungsantritt Heinrich Brünings im März 1930 sah das Parlament, das inzwischen fast 600 Mitglieder hatte, vierzehn verschiedene Kabinette, die durchschnittlich jeweils nur acht Monate amtierten. Kein einziger Reichstag der Weimarer Republik erlebte das Ende seiner vierjährigen Wahlperiode. Die Arbeit des Plenums wurde noch schwieriger, als die Wahlen im September 1930 den Nationalsozialisten vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise einen großen Zuwachs an Mandaten brachten. Eine der größten Störungen inszenierten die Parteigänger Hitlers bereits am 13. Oktober 1930 anläßlich der ersten Sitzung des neugewählten Reichstages, als die NSDAP-Fraktion geschlossen in Uniform in den Plenarsaal marschierte. Mit Verschärfung der wirtschaftlichen und politischen Krise wurden die Nationalsozialisten 1932 stärkste Fraktion. Bürgerkriegsähnliche Straßenkämpfe zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten gefährdeten die parlamentarische Arbeit und schwappten als Saalschlachten in den Reichstag hinein. Als der Reichstag am 9. Dezember 1932 auf unbestimmte Zeit vertagt wurde, ahnte niemand, daß dies die letzte Sitzung im WallotBau sein würde, bis Willy Brandt am 20. Dezember 1990 als Alterspräsident die erste Sitzung des Deutschen Bundestages nach den gesamtdeutschen Wahlen am 2. Dezember 1990 eröffnete.
In diesen 58 Jahren wurde das Reichstagsgebäude erst nach seinem Umbau ab dem 11. November 1963, dem Tag der Schlüsselübergabe an den Bundestagspräsidenten, wieder für parlamentarische Gremien genutzt. An diesem Tag beispielsweise für eine Sitzung des Ältestenrates und in den folgenden Jahren während der "BerlinWochen" des Bundestages für Ausschußsitzungen, Fraktionsberatungen und Pressekonferenzen. Zwar traten die Bundesversammlungen zur Wahl des Bundespräsidenten 1954, 1959, 1964 und 1969 in Berlin zusammen jedoch nicht im Reichstagsgebäude und seit 1958 regelmäßig begleitet von Protesten der Moskauer und OstBerliner Regierungen wegen angeblicher Verletzung des BerlinStatus der geteilten Stadt. Eine Plenarsitzung des Bundestages fand überhaupt nur einmal statt: Den Teilnehmern ist diese Sitzung am 7. April 1965 in der Kongreßhalle unvergeßlich, weil sie vom ohrenbetäubenden Lärm sowjetischer Tiefflieger gestört wurde. Die Sitzung im Anschluß an den ersten Tag der Deutschen Einheit (3. Oktober 1990) am 4. Oktober 1990 war eine Sitzung der Mitglieder des Deutschen Bundestages, ergänzt um 144 Abgeordnete der aufgelösten Volkskammer aus den neuen Bundesländern.
Das Reichstagsgebäude hat in seiner wechselvollen 105jährigen Geschichte Jahre der schwierigen Parlamentsarbeit im kaiserlichen Obrigkeitsstaat ebenso erlebt wie die Parlamentarisierung der Reichsregierung und der Demokratie der Weimarer Jahre voller Unruhen, es beherbergte jedoch nie die Diktatur des "Dritten Reiches". Der Deutsche Bundestag bringt durch seinen Einzug in das Reichstagsgebäude die positive Tradition der in Bonn begründeten parlamentarischen Demokratie mit.