essay
Chancen für deutsche Silicon Valleys
von Wolfgang Frühwald
Gestern habe ich meinem zehnjährigen Enkel über meine Grundschulzeit erzählt. "Kenne ich", sagte er. "Woher?", meinte ich. "Aus dem Schulmuseum!", antwortete er.
Manchmal höre ich im Halbschlaf noch den Ruf des Kartoffel-Mannes, der mit seinem Pferdefuhrwerk durch die Straßen der Vorstadt zog, in der wir lebten, manchmal träume ich noch davon, barfuß dem einzigen knatternden Auto der Straße (einem DKW) nachzulaufen und den scharfen Geruch des Gemischs zu riechen, das aus seinem Auspuff kam. Die Grunderfahrung des Jahrhunderts, in dem wir herangewachsen sind, war vermutlich nicht die Tötungsindustrie der Lager, des SS-Staates und des Archipel GULAG, nicht das Gemetzel des Dreißigjährigen Krieges der neueren Geschichte, sondern die ungeahnte Beschleunigung aller Erfahrungen des Alltags, das Gefühl, im Zeitstrudel mit fortgerissen zu sein, zehn Jahre wie ein Jahrhundert zu erleben. Diese Erfahrung trägt uns über die Schwelle des 21. Jahrhunderts. Sie ist verbunden mit der wachsenden Komplexität einer Welt, in der alles mit allem verbunden scheint, in der die undurchschaubaren Verschaltungen des menschlichen Gehirns ausgefaltet werden in die Kommunikationsbahnen der einen, vernetzten Welt.
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Die Wissenschaft hat an dieser nochmaligen Beschleunigung unserer Erfahrungen Anteil, die "Verwissenschaftlichung" des Alltagslebens schreitet unaufhaltsam fort. Wir haben im 20. Jahrhundert erstmals die Erde, den Lebensraum des Menschen, von außen gesehen, und die Bilder des zerbrechlichen "blauen Planeten" sind in unser Gedächtnis eingebrannt. Wir haben – in der Beschreibung der Erbsubstanz – das Leben von innen gesehen und gelernt, in seine Funktionen einzugreifen. Wir haben mit der immer stärkeren Verdichtung von Informationen und immer schnelleren elektronischen Rechnern versucht, ein Instrument zu entwickeln, das der Komplexität des Lebens nachzukommen sucht. Schon werden "intelligente Computer" angedacht, die Verbindung von Biomaterial mit der Elektronik soll eine ganz neue Generation von Rechnern hervorbringen.
Die Neurowissenschaften, verbunden mit den Anwendungsbereichen der Mikrobiologie (also der Bio- und Gentechnologie), die Informationswissenschaften, die Nanowissenschaften (technische und biotechnische Arbeiten im Bereich von 10-9 m) scheinen jene Wissenschaftszweige zu sein, denen die Zukunft gehört. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms (also die Entschlüsselung der menschlichen Erbsubstanz, der Gesamtheit aller menschlichen Gene) soll in etwa zehn Jahren abgeschlossen sein. Und schon erscheint das neue Großprojekt des Jahrhunderts am Horizont: "brain mapping", Hirn-Kartierung, genannt, das die Verschaltungen des menschlichen Gehirns, des komplexesten Organs, das wir kennen, zu erforschen sucht. Seine Ergebnisse sind durchaus mit jenen Entdeckungen zu vergleichen, die am Anfang der Moderne standen, als die spanischen und die portugiesischen Eroberer in die Urwälder Südamerikas einzudringen und neue Welten zu "entdecken" begannen. In der "Dekade des Gehirns", die 1999 zu Ende gegangen ist, haben die Neurowissenschaften mehr Erfolge erzielt als in den Jahrhunderten vorher. Mit den großen Tomographen (etwa den PET-Maschinen genannten Positronen-Emissions-Tomographen) ist es zwar nicht möglich, die Inhalte von Gedanken zu lesen, doch die Struktur der Gedanken kann auf dem Computerschirm optisch dargestellt werden. Ob ein Proband stumm zählt oder Sätze bildet, ob er in Bildern oder in Formeln denkt, kann die Maschine sichtbar machen. Die seit mehr als 200 Jahren umrätselten Lokalisationstheorien, das heißt die Lokalisation menschlicher Fähigkeiten in bestimmten miteinander verbundenen Arealen des Gehirns, haben einen gewaltigen Entwicklungsschritt gemacht, weil wir inzwischen einen Teil der Funktionsareale der Großhirnrinde kennen und die Nah- und Fernverbindungen zwischen diesen Arealen auf dem Computer simulieren. Wir wissen, dass die neuronalen Verbindungen "durch genetisch bestimmte Vorgänge im Frühstadium der Entwicklung" entstehen, dass die Verbindungen im Gehirn meist in beiden Richtungen wirken, dass nicht jedes Areal mit jedem verbunden ist, aber auch – dass es im Gehirn keine zentrale Schaltstelle gibt (A. Gierer). Überall beginnen sich die Wissenschaften aus der Gefangenschaft zu lösen, in die uns die rasante Entwicklung der Genetik geführt hat, sie kehren zu systemischen Fragestellungen zurück und werden, nun auf experimentell überprüfter Grundlage, die Wechselwirkungen zwischen genetischer Bestimmung und Umwelt erforschen. Die Neurologie, sagt Thomas Brandt, habe sich bereits jetzt von einem Fach "der interessanten und schwierigen Diagnosen zu einem Fach behandelbarer Erkrankungen des Nervensystems" entwickelt. Dass die Geisteswissenschaften, die um "Gedächtnis", "Erinnerung" und "Vergessen" ein völlig neues, sie endlich wieder verbindendes Wissens-Paradigma entwickeln, dem Geschwindschritt der Erkenntnisexplosion experimenteller Lebens- und Naturwissenschaften vor allem in der Körpergeschichte einen Kontrapunkt gesetzt haben, gehört zu dieser rasanten Entwicklung hinzu.
In Deutschland haben die Neurowissenschaften international nicht nur Anschluss gehalten, sondern gehören weltweit zur Avantgarde der Entwicklung; die Biowissenschaften (und ihre Anwendungsformen) haben den Rückstand gegenüber den USA zwar noch nicht aufgeholt, sind aber auf gutem Wege; die Nanowissenschaften werden inzwischen in zahlreichen Zentren organisiert, im Bereich der Informationstechnologie hält Deutschland einen guten Platz im vorderen Drittel. Wenn es gelingt, die jetzt noch wenig entwickelte Forschungskooperation zwischen der außeruniversitären und der universitären Forschung so zu koordinieren, dass in Deutschland nicht jedes Institut und jede Universität alles zu unternehmen versucht, wenn also die in vielen Bundesländern (mit nachhaltiger Unterstützung des Bundes) begonnene Profilbildung der Forschungslandschaften Erfolg hat, wird die deutsche Forschung im Wettbewerb mit den großen Forschungsregionen der Welt weiter aufholen und einen (auch wirtschaftlich erkennbaren) Spitzenplatz erringen.
Die Hightech-Region zwischen Karlsruhe und Stuttgart zum Beispiel, die Bioregionen um Heidelberg und Göttingen, die Neuroregion um Tübingen und viele andere europäisch und international verflochtene Forschungsregionen sind längst erkennbar. Sie tragen in sich (quantitativ und qualitativ) das Potenzial mehrerer Silicon Valleys – wenn die Koordination gelingt. Die von der Alexander von Humboldt-Stiftung und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst angeleitete internationale Zusammenarbeit zwischen der deutschen Forschung und ihren Partnern in aller Welt trägt längst reiche Frucht. Wenn es gelänge, über die Parteigrenzen hinweg im Deutschen Bundestag ein Bewusstsein dafür zu erzeugen, dass Forschung und Wissenschaft, dass die Begeisterung junger Menschen für die Forschung mit an der Spitze politischer Verantwortung rangieren, bräuchte uns vor dem nahenden Wissens-Zeitalter nicht bange zu sein. Für mich war deshalb die Debatte des Deutschen Bundestages über das Organtransplantationsgesetz (1997) eine Sternstunde des Parlaments. Es geht nicht so sehr um Geld, es geht darum, dem wissenschaftlichen Nachwuchs die Gewissheit zu geben, dass wir dringend viele junge Frauen und Männer brauchen, die Freude an der Forschung haben und darin ihre Lebensaufgabe sehen. Der Aufbau von international verflochtenen Kompetenzregionen in Deutschland ist das Gebot der Stunde, wenn wir den erarbeiteten Vorsprung halten und die aus dem Schatten des neuen Jahrhunderts auftauchenden Forschungsfelder rechtzeitig erschließen wollen.
Prof. Dr. Wolfgang Frühwald
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wurde 1935 geboren. Er heiratete 1958, hat fünf Kinder und zehn Enkelkinder. Der Promotion 1961 folgte 1969 die Habilitation. Seine erste Professur für Neuere Deutsche Literaturgeschichte führte Frühwald 1970 an die Universität Trier-Kaiserslautern. Seit 1974 lehrt er an der Universität München. Hinzu kamen Gastprofessuren an der Indiana-University (Bloomington, USA 1985) und 1999 an der Fakultät für Chemie der Uni Frankfurt am Main. Der Wissenschaftler war außerdem von 1992 bis 1999 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seit November 1999 steht er als Präsident an der Spitze der Alexander von Humboldt-Stiftung. Frühwald hat zahlreiche Arbeiten über die geistliche Prosa des Mittelalters, die Literatur der deutschen Klassik und Romantik, die moderne deutsche Literatur sowie die Wissenschaftsorganisation und -geschichte veröffentlicht. Sein aktuelles Werk "Zeit der Wissenschaft, Forschungskultur an der Schwelle zum 21. Jahrhundert" ist im DuMont Buchverlag (Köln 1997), erschienen.