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Feierstunde des Deutschen Bundestages zum Mauerfall
Historisches Geschenk der Ostdeutschen (Joachim Gauck)
In einer Feierstunde hat der Deutsche Bundestag am 9. November den Mut der Bürgerrechtler der DDR gewürdigt, deren Einsatz für Demokratie und Freiheit zehn Jahre zuvor den Fall der Mauer bewirkte. Mit dieser Wendemarke kam damals endgültig ein Prozess in Gang, der ein knappes Jahr später zur deutschen Einheit führte.
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Dem Fall der Mauer waren in der DDR Kundgebungen mit immer mehr Teilnehmern vorausgegangen. Für zusätzlichen Druck auf das SED-Regime sorgten Tausende von DDR-Bürgern, die sich in die Botschaften der Bundesrepublik in Warschau und Prag geflüchtet hatten, um ihre Ausreise in den Westen zu erzwingen.
Am 9. Oktober hatten sich in Leipzig 100.000 zur Montagsdemonstration versammelt. Am 23. Oktober gingen in Leipzig bereits 300.000 auf die Straße, am 4. November demonstrierten in Ost-Berlin eine Million Menschen. Für die DDR-Bürgerrechtler standen vor allem Demokratie, Befreiung und Liberalisierung ganz oben auf dem Forderungskatalog. Für sie sprach im Bundestag Joachim Gauck.
Weitere Redner in der Feierstunde waren neben Bundestagspräsident Wolfgang Thierse als Gastgeber der frühere US-Präsident George Bush, der ehemalige Präsident der Sowjetunion, Michael Gorbatschow, der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und sein Nachfolger Gerhard Schröder. Blickpunkt Bundestag dokumentiert ihre Ansprachen in Auszügen.
Der damalige US-Präsident Bush hatte sich nach dem 9. November an die Spitze derer gestellt, die den Deutschen Mut zur Einheit machten. Er gab dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen Vorrang vor politischen Rücksichtnahmen und war für Bundeskanzler Kohl in diesen Monaten die außenpolitische Hauptstütze.
Zum Verdienst von Gorbatschow gehört es, durch seine Außenpolitik die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung geschaffen zu haben. Er sorgte auch dafür, dass man sich in Moskau und Ost-Berlin in den turbulenten Stunden des 9. November besonnen verhielt. Anders als am 17. Juni 1953 rollten keine Panzer auf.
Der 9. November stellt in der deutschen Geschichte ein besonderes Datum dar: 1918 rief Philipp Scheidemann an diesem Tag vom Fenster des Reichstags die Republik aus, fünf Jahre später versuchte Adolf Hitler mit seinem "Marsch auf die Feldherrnhalle" in München einen Putsch, am 9. November 1938 setzten die Nazis die Synagogen in Deutschland systematisch in Brand und machten mit Terroraktionen gegen jüdische Einrichtungen ihren Vernichtungswillen öffentlich.
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Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident: |
So viele Umarmungen, so viele Verschwisterungen
Heute vor zehn Jahren war das ostdeutsche Volk der Held. Dem Druck des ostdeutschen Volkes mussten die SED-Herrschaften nachgeben. Seine entschlossene Friedfertigkeit und seine grenzenlose Begeisterung bestimmten den Charakter der geschichtlichen Stunde. So viele Umarmungen zwischen den Berlinern West und Ost, so viele Verschwisterungen unter den Deutschen waren nie zuvor und danach. Der Weltbürger und wunderbare Cellist Rostropowitsch kam spontan und spielte - wie heute - vor dem Brandenburger Tor.
Lachend und weinend erlebten wir Berliner ein wahrlich welthistorisches Ereignis: Die gewaltlose Revolution der Menschen hatte zur Öffnung und zum Fall der Mauer geführt, zum Untergang der DDR und zum Ende der Zweiteilung der Welt ...
Alle vier Anlässe des Gedenkens und Erinnerns, die an jedem 9. November zusammenkommen, mahnen uns, wie prekär Demokratie sein kann, wie schnell der Abgrund zwischen Zivilgesellschaft und barbarischer Diktatur überwunden werden kann, wie leicht verspielt werden kann, was wir uns an Menschenwürde und Freiheit erstritten haben und gesichert glauben.
Ich sage das, obwohl ich voller Hoffnung bin, dass deutsche Geschichte endlich einmal gut ausgehen kann. Wir haben die Chance ...
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Joachim Gauck, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR: |
Das Geschenk der Ostdeutschen
Wie spärlich ist in dieser Nation die Tradition von Selbstbestimmung und Freiheitsrevolution! Tatsächlich haben die Ostdeutschen mir ihrer - freilich kurzen - Revolution nicht nur sich selbst, sondern allen Deutschen ein historisches Geschenk gemacht. Wir alle gehören nun zur Familie der Völker, die durch Freiheitsrevolutionen gekennzeichnet sind, und haben für unsere niederländischen, französischen, polnischen und tschechischen Nachbarn ein besseres, vertrauenswürdigeres Gesicht.
Das, liebe Landsleute im Westen, ist das Geschenk der Ostdeutschen an euch. Gerade angesichts unserer 56-jährigen politischen Ohnmacht in Nationalsozialismus und Herrschaftskommunismus erstrahlt der Mut der Widerständigen von 1989 umso heller. Trotz aller Erblasten der Diktaturen können wir euch im Westen nunmehr auf Augenhöhe begegnen - zwar ärmer, aber nicht als Gebrochene und ganz bestimmt nicht als Bettler.
Aber gleichzeitig, liebe Landsleute im Osten, gibt es auch ein Geschenk der Westdeutschen an uns; es ist nicht in erster Linie materiell. Aus Nazi-Untertanen und Nostalgikern der Nachkriegszeit sind Demokraten geworden, wohl auch, weil die Generation der Söhne und Töchter 1968 so unbequem nach Schuld und Verantwortung fragte. Eine zivile Gesellschaft ist entstanden. Mit der Einheit haben auch wir Anteil an diesen Erfahrungen. 40 Jahre Freiheit und Demokratie und Frieden hatte die deutsche Nation in ihrer Geschichte bis dahin noch nicht erlebt.
Die Menschen dieser Nation haben sich also gegenseitig beschenkt. Hoffentlich können wir, wenn wir uns in zehn Jahren erneut hier treffen, dieses Geschenk bewusster und freudiger annehmen.
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Gerhard Schröder, Bundeskanzler: |
Zweite Chance für Deutschland und Europa
Unser Dank und unsere Anerkennung gelten vor allem den Völkern in den heutigen Reformstaaten Ost- und Mitteleuropas. Ihr mutiger Einsatz für Demokratie und Menschenrechte, aber auch ihre Solidarität und Hilfsbereitschaft waren Voraussetzung dafür, dass der Widerstand gegen das SED-System schließlich erfolgreich sein konnte ...
Wir stehen heute in Trauer und in Ehrfurcht vor den Opfern der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik. Der 9. November 1938 steht für das einzige wahrhaft "Tausendjährige" an Hitlers Reich, nämlich unsere unvergängliche Scham und die unvergessliche Schande, welche die Nationalsozialisten und ihre Anhänger über Deutschland und die Welt gebracht haben.
Alle vier Ereignisse des 9. November in diesem Jahrhundert, so hat der Historiker und diesjährige Friedenspreisträger Fritz Stern gesagt, geschahen "in einem europäischen Kontext". Dies gilt natürlich für den 9. November 1938, aber uneingeschränkt auch für den 9. November 1989. Insofern sind die Revolutionstage im Herbst 1989 wirklich der seltene Fall einer "zweiten Chance" für Deutschland und für Europa. Der 9. November 1989 steht für eine realistische Perspektive auf Frieden, Demokratie, Wohlstand und Freiheit, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.
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George Bush, damaliger US-Präsident: |
Nie eine so schwierige Situation
Wenn ich an meine vier Jahre als Präsident der Vereinigten Staaten zurückdenke, gab es viele Momente, in denen ich dachte, es sei sehr schwierig, sehr hart. Operation Wüstensturm war so eine Situation. Aber es gab nie eine so schwierige Situation wie am 9. November 1989 und im Sommer 1989. Da hatten sich die Fluten der Geschichte hin zur Freiheit gewendet. Wir sahen, wie die Welt aus der Geschichte aufwachte. Da lag Wandel in der Luft, und plötzlich, fast über Nacht, war es so, dass die Menschen im Osten und in Mitteleuropa sahen, dass sie diese fremden Herrschaften abschütteln wollten ...
Ich glaube, jeder hier vor dem hohen Haus erinnert sich, wo er
am 9. November vor zehn Jahren war, als er diese unglaublichen
Neuigkeiten hörte. Ich war damals im Oval Office im
Weißen Haus, und Brent Scowcroft, mein Berater für
nationale Sicherheit, kam herein und sagte, es gebe Berichte, dass
die Mauer gefallen sei. Wir gingen in einen kleinen Raum neben dem
Oval Office, schalteten den Fernseher ein und sahen die Berichte
und die fröhlichen, jubilierenden Massen in Berlin. Als ich
die Deutschen aller Altersgruppen sah, wie sie sich vor der Mauer
trafen - die Gefühle, die ich damals hatte, sind schwer zu
beschreiben. Es war ein unglaublicher Anblick, als ob Dali es
gemalt hätte: Die Mauern brachen, und die Freiheit schwappte
über die Mauer.
(vorläufige Übersetzung)
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Michail Gorbatschow, damaliger sowjetischer Präsident: |
Politik, das ist kein Fahrplan
Der Fall der Berliner Mauer war das Ergebnis der tief greifenden Veränderungen in Europa, der Veränderungen des Schicksals der Menschheit. Der Weg zu diesem Fall der Mauer war lang und sehr beschwerlich. Heute, mit einer gewissen historischen Distanz, ist es besser ersichtlich, warum die Mauer gefallen ist. Es mussten entscheidende Veränderungen vor allem in der Sowjetunion stattfinden, um auf den Weg zu Demokratie und Freiheit zu kommen. Es mussten demokratische Veränderungen, Revolutionen in Zentral- und Osteuropa vor sich gehen, bei denen diese Länder ihren freien Willen zum Ausdruck brachten. Zwei Prozesse liefen gleichzeitig ab und haben sich gegenseitig beeinflusst. Die Konfrontation wurde durch Dialog ersetzt und durch Vertrauen; die Völker, die freie Selbstbestimmung erlangt hatten, fingen an aktiv zu werden ...
Es ist für die Deutschen nicht leicht, jeden Schritt der Vereinigung mit neuem Inhalt zu füllen. Aber Politik, das ist kein Fahrplan, das sind Visionen, das sind Leitlinien, das sind Qualen ...
Als ich gestern mit Deutschen gesprochen habe, da sagte ich: Ich
weiß, Sie haben viele Probleme, und es hieß, Ja, Ja. Aber
als ich Ihnen sagte, dann tauschen Sie doch mit unseren russischen
Problemen, da sagen sie, Nein, Nein, Danke. Also: Wir lösen
unsere Probleme, Sie lösen, bitte schön, Ihre. Ich denke,
die Deutschen haben den wesentlichen Weg schon
zurückgelegt.
(vorläufige Übersetzung)
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Helmut Kohl, Bundeskanzler a.D.: |
Geschichte eines Triumphs der Freiheit
Zehn Jahre sind nun seit den bewegenden Bildern vergangen, Bildern der Freude und des Glücks der Deutschen über den Fall der Mauer, über die Beendigung der gewaltsamen Trennung unserer geteilten Nation, Bildern, die von hier aus, von Berlin, um die Welt gingen. Diese Bilder bezeugen, dass die Mehrheit der Deutschen in Ost und West auch nach vier Jahrzehnten nicht bereit war, die Teilung unseres Vaterlandes als endgültiges Urteil der Geschichte hinzunehmen.
Die Bilder erzählen auch die Geschichte eines Triumphs der Freiheit. Möglich wurden diese Bilder nicht zuletzt durch den Mut und die Kraft der Menschen, die sich überall in den Städten und Gemeinden der damaligen DDR gegen die Diktatur erhoben. Sie haben sich nicht durch Drohungen und Gewalt einschüchtern lassen; sie haben friedlich demonstriert, bis Mauer und Diktatur fielen.
Die Männer und Frauen, ob in Leipzig, Ost-Berlin, Dresden oder an einem anderen der vielen Orte der damaligen DDR, traten für die Freiheit, für die Herrschaft des Rechts und für die Achtung der Menschenwürde ein. Diese Sehnsucht nach den uns verbindenden Werten hat sich über Jahrzehnte in den Ländern des ehemaligen Ostblocks erhalten ...
Wir erinnern uns in Dankbarkeit und Anerkennung ... an die vielen Männer und Frauen, an die Bürgerrechtsbewegung, die für Menschenrechte und Demokratie gelebt, gekämpft und gelitten haben. Ihr Mut und ihre Taten sind ein wesentlicher Bestandteil deutscher Geschichte.