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"Ich war froh, dabei zu sein"
Erinnerungen an den 9. November 1989
Vier deutsche Politiker aus vier verschiedenen Parteien: Vera Lengsfeld (CDU), Christel Hanewinckel (SPD), Jürgen Schmieder (F.D.P.), Werner Schulz (Grüne). Sie alle stammen aus der DDR, sie standen vor zehn Jahren auf der Seite derer, die den Mauerfall ermöglichten. Sie alle führte schliesslich ihre politische Laufbahn über die Bürgerrechtsbewegung in den Bundestag. Blickpunkt Bundestag hat sie nach ihren Erinnerungen an den 9. November 1989 befragt.
Es liegt kein Triumph in seiner Stimme, eher eine gewisse Befriedigung, wenn Werner Schulz auf die einstigen Nutzer seines Berliner Abgeordnetenbüros hinweist. In der Luisenstraße 32-34 war bis 1990 die Generalstaatsanwaltschaft der DDR zu Hause. Hier wurden die Anklagen gegen die "subversiven Elemente" vorbereitet, eben gegen jene mutigen DDR-Deutschen, die vor zehn Jahren das SED-Regime zum Einsturz brachten.
Zu ihnen zählte damals auch der Diplom-Ingenieur Schulz aus der DDR-Hauptstadt, wo sich der Informationshunger ostdeutscher Intellektueller noch am ehesten befriedigen ließ. Das Studium hatte Schulz bereits Ende der sechziger Jahre in Blickweite zum Reichstagsgebäude gebracht. Für die Menschen im Osten mahnte der trutzige Bau an die "offene nationale Frage", erinnert sich der frühere DDR-Berliner. Es war die Lage der Institutsgebäude, die den späteren Bereichsleiter Umwelthygiene der Hygieneinspektion Berlin-Lichtenberg des Öfteren in die Hermann-Matern-Straße führte, wie die Luisenstraße zu DDR-Zeiten hieß.
Das heutige Regierungsviertel war damals von Mauern und Sichtblenden geprägt - eine frühe "Verhüllung" des Reichstags nach SED-Konzept. Im geteilten Himmel der Stadt flatterte von Osten sichtbar nur die Deutschlandfahne, die "Vorbotin der parlamentarischen Demokratie", wie der Parlamentarier der Grünen rückblickend seine Empfindungen beschreibt.
Die Allmacht des Mielke-Ministeriums hatte auch Schulz zu spüren bekommen. Mehrfach war er im Sommer 1989 "zugeführt" worden, wie im Sicherheitsapparat die Dauerverhöre Oppositioneller genannt wurden.
So mag man Schulz' innere Unruhe verstehen, als er sich am späten Abend des 9. November unversehens in West-Berlin wiederfand. Er saß gerade in seiner Pankower Wohnung und brütete mit Freunden über dem Programmentwurf des Neuen Forums, da platzte die Nachricht über den Mauerfall hinein. Der unverhoffte Ausflug in den Westen geriet kurz, zu groß war sein Misstrauen, die SED habe in einem letzten Akt der Verzweiflung die Grenzen aufgemacht, um die Opposition loszuwerden, den Protest abzuleiten und die Verhältnisse so wieder in den Griff zu bekommen. Tatsächlich ging an diesem Abend die SED-Diktatur zu Ende; begonnen hatte die politische Karriere des Bürgerrechtlers Werner Schulz aus Berlin.
Vera Lengsfeld wird das historische Datum noch aus einem anderen, sehr persönlichen Grund im Gedächtnis behalten. Die couragierte Frau war an dem Morgen jenes trüben Novembertages in die DDR zurückgekehrt. Anfang 1968 hatte sie das Politbüro offen herausgefordert und auf der offiziellen Liebknecht/Luxemburg-Demonstration ein Plakat mit der Aufschrift "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden" geschwenkt. Die damals 37-jährige Mutter dreier Kinder wird wegen "versuchter Zusammenrottung" verhaftet und nach Großbritannien abgeschoben. Nun steht sie im Grenzbahnhof Berlin-Friedrichstraße und verlangt Einlass. "Auf das öde Alltagsgesicht der DDR war ich nicht vorbereitet", erinnert sie sich zehn Jahre danach. Gleichwohl, es hatte sich einiges verändert. Zeitungen informieren über die aktuelle Luftverschmutzung, der Vorsitzende der neugegründeten Sozialdemokratischen Partei (SDP) der DDR, Ibrahim Böhme, fordert Lengsfeld zum Parteieintritt auf - und dies im Treppenhaus des Berliner Polizeipräsidiums.
Am Abend zeichnet sich für sie ein neuer Lebensabschnitt ab. Zusammen mit Schulz sitzt sie ab März 1990 in der frei gewählten Volkskammer, ab Dezember dann im Bundestag in Bonn. Der eine vertritt das "Neue Forum", Lengsfeld ist für die Grünen der DDR im Parlament. Noch sind die Gemeinsamkeiten groß, aber sechs Jahre später trennen sich die Wege der beiden aus dem "Pankower Friedenskreis". Die wertkonservative Politikerin findet in der CDU eine neue politische Heimat. Als das Parlament im Sommer dieses Jahres von Bonn nach Berlin umzieht, verändert sich für die Abgeordnete Lengsfeld der Fußweg zum Parlament. Was für andere nebensächlich wirken mag, ist für die Ostdeutsche von Bedeutung. Jetzt muss sie am Pariser Platz vorbei - und denkt zurück. "Hier habe ich Ende der sechziger Jahre ,Moskauer Eis' verkauft und heimlich zum Reichstag geblinzelt."
Für den Bundestag des vereinten Deutschlands hatte 1990 auch Christel Hanewinckel kandidiert, eine Pfarrerin aus Halle, die die SDP der DDR mitbegründet hat. Der Nationalen Front aus SED und Blockparteien musste "knallhart etwas entgegengesetzt werden", erläutert sie ihre Beweggründe. "Ich weiß noch, wie ich abends zusammen mit elf Freunden auf den Wäscheboden einer Künstlerin geschlichen bin und aufpassen musste, dass ich nicht verfolgt werde."
Geschickt hatte Hanewinckel schon Anfang der achtziger Jahre an den Grundfesten des Systems gekratzt. Die zahlreichen Gesprächskreise, in denen sich der Unmut über den Wehrunterricht in den Schulen und die Rüstungspolitik artikulierte, wurden kurzerhand zu kirchlichen Gruppen deklariert, denen die evangelische Kirche Räume und damit ein Diskussionsforum zur Verfügung stellte. "Damit lief das gesetzliche Versammlungsverbot ins Leere." Allmählich entsteht ein Netzwerk, bestehend aus der "Umweltbibliothek", den "Frauen für den Frieden", der "ökologischen Arbeitsgruppe" und den "christlichen Medizinern in sozialer Verantwortung". Im Laufe der Jahre formieren sich diese zunächst lockeren Gesprächskreise, werden mutiger, je stärker sich die Staatsmacht in Widersprüche verwickelt. Wie in Berlin-Pankow sind es auch in Halle die gefälschten Kommunalwahlen, die das Fass zum Überlaufen bringen. Die Unzufriedenheit wird noch größer, als die SED die massiven Menschenrechtsverletzungen in Peking rechtfertigt; ausgerechnet auf dem "Platz des Himmlischen Friedens". Unter dem Dach der Kirche wird jetzt in Halle mit der Klagetrommel für die Opfer in Peking getrommelt und gebetet; rund um die Uhr.
Eine Provokation für die SED, die die unerschrockene Pfarrerin zur Abteilung "Inneres" zitiert. Sie solle wieder "richtige Gottesdienste" machen, verlangt die Stasi. Trotz vieler Schikanen muss die Staatsmacht den "Hierbleibern" weichen, Zentimeter um Zentimeter. Eine Ausreise in die Bundesrepublik kam für Hanewinckel nicht in Betracht. "Ich hätte die Gemeinde nie im Stich gelassen." Noch heute wird die SPD-Abgeordnete zornig, wenn sie von der Übersiedlung eines Facharztes in den Westen berichtet. Ihr Sohn musste damals von heute auf morgen auf die Behandlung durch einen spezialisierten Mediziner verzichten.
Im Laufe des Sommers 1989 wird die innenpolitische Lage für das Politbüro immer schwerer beherrschbar. Widerstand regt sich nicht nur außerhalb der "Nationalen Front", längst gärt es auch in den Blockparteien selbst. "In der LDPD war der Freiraum am größten", beschreibt Jürgen Schmieder sieben Jahre Mitgliedschaft in der Liberaldemokratischen Partei. Doch die "angenehme Nische" verliert ihre staatstragende Klammer, als die Widersprüche zwischen Elbe und Oder wachsen - auch für den stellvertretenden Stadtbezirksvorsitzenden in Karl-Marx-Stadt. Längst hatte die örtliche Parteiführung Schmieder kaltgestellt, der im Wendeherbst die Initiative ergreift. Der Mitarbeit im "Neuen Forum" folgt der Parteiaustritt. Bald wird dem Diplom-Ingenieur klar, dass eine Bewegung allein wenig ausrichten kann gegen die Vorherrschaft der SED. Anfang Dezember 1989 gründet der spätere F.D.P.-Bundestagsabgeordnete deshalb mit Freunden die Deutsche Forum Partei (DFP). Ein Schritt, den der Berliner Sprecherrat des "Neuen Forums" mit Argwohn betrachtet. Aber Schmieder will sich nicht aufhalten lassen. Rasch werden Kontakte mit westdeutschen Parteien geknüpft. Ehrengast des Gründungsparteitages Ende Januar 1990 ist die CDU-Politikerin Rita Süssmuth. Schmieder wird zum DFP-Vorsitzenden gewählt und studiert die Wahlprogramme von CDU und FDP. Am Ende gibt ein Gespräch mit dem FDP-Vorsitzenden Otto Graf Lambsdorff den Ausschlag: Die DFP mit ihren etwa 5.000 Mitgliedern schließt sich mit der Ost-FDP und der LDP zum "Bund freier Demokraten" zusammen. Die freigewählte Volkskammer wählt Schmieder zu ihrem stellvertretenden Vorsitzenden. 1994 beendet der heute 47-Jährige seine parlamentarische Karriere. "Ich war froh, dabei zu sein", sagt der Chemnitzer rückblickend.
Jörg Kürschner