Rede von Dr. Jürgen Meyer im Europäischen
Konvent
am 05. Dezember 2002
Herr Vorsitzender, liebe Kolleginnen und Kollegen! Dem Dank und der Anerkennung, die viele Redner an Giuliano Amato und seine Arbeitsgruppe ausgesprochen haben, schließe ich mich gerne an.
Das fällt mir um so leichter, weil viele der Vorschläge sich mit Empfehlungen des Deutschen Bundestages decken, die ich hier aus Überzeugung vertrete. Das gilt z.B. für die Einräumung des vollen Haushaltsrechts an das Europäische Parlament nach Aufgabe der Unterscheidung zwischen obligatorischen und nicht obligatorischen Aufgaben, es gilt für die Öffentlichkeit der Gesetzgebung im Rat, es gilt für den Grundsatz der Durchführung von Gesetzen durch die Mitgliedstaaten aus Gründen der Subsidiarität, und es gilt auch für einen Punkt, der im Bericht aus Gründen des Mandates der Arbeitsgruppe in den Anhang III verwiesen wurde, nämlich die Forderung nach doppelter Mehrheit im Rat als ausreichender Grundlage für Mehrheitsentscheidungen, also nach Abschaffung der Stimmengewichtung im Rat, wie sie im Vertrag von Nizza vorgesehen ist.
Gestatten Sie mir bitte drei Anregungen. Die erste bezieht sich auf die Reduzierung der Instrumente. Da erlaube ich mir, verehrter Giuliano Amato, die Anregung, die nichtbindenden Instrumente zu einem einzigen zusammenzufassen, denn die Begründung, dass Empfehlungen sich auf die Zukunft richten und Meinungsäußerungen auf die Vergangenheit, ist in der Wirklichkeit nicht immer durchzuhalten, denn eine gute Empfehlung für die Zukunft stützt sich auch auf Meinungsäußerungen zur Vergangenheit. Deshalb wird die Unterscheidung nicht immer klar möglich sein. Ich schlage vor, einen Oberbegriff für diese nichtbindenden Instrumente etwa als Stellungnahme - das wäre der deutsche Begriff - zu überlegen.
Eine mir wichtigere, zweite Anregung bezieht sich auf den Regelfall der qualifizierten Mehrheit bei Entscheidungen durch Europäisches Parlament und Rat. Auch in diesem Bericht entsteht, wie auch bei den Beratungen in manchen Arbeitsgruppen, der Eindruck, dass die Alternative Einstimmigkeit sei. Nun stimme ich Joschka Fischer und Alain Lamassoure darin zu, dass die Einstimmigkeit eigentlich die Gegenstände, für die sie notwendig ist, zur Bedeutungslosigkeit verurteilt.
Ich bin der Auffassung, dass man überlegen sollte, die qualifizierte Mehrheit in zwei Stufen vorzusehen - wie übrigens auch in dem Vorschlag von Romano Prodi, Vitorino und Barnier -, d.h., dass man ein Quorum für Gegenstände einführt, für die in der Vergangenheit oder nach Auffassung vieler Einstimmigkeit erforderlich war oder noch sein könnte. Das könnte eine Mehrheit in einer Größenordnung zwischen 65 und 75 % sein, sagen wir ca. 70 %, im Rat, bezogen auf die vertretenen Staaten und die vertretene Bevölkerung. Ein solches gesteigertes Quorum könnte vielen den völligen Abschied von der Einstimmigkeit erleichtern und könnte außerdem die Streichung der Stimmengewichtung im Rat leichter machen. Ich finde, dass man das in diesen beiden Zusammenhängen überlegen sollte.
Eine letzte Anregung zu dem interessanten Vorschlag von sunset clauses, also Befristung, der sich im Bericht nur auf delegated acts, in der deutschen Terminologie "Rechtsverordnungen", bezieht. Da bin ich der Auffassung, ein guter Gesetzgeber überlegt bei jedem Gesetz, ob es notwendig oder nicht bzw. nicht mehr notwendig ist. Deshalb schlage ich vor, diesen Gedanken für Gesetze allgemein vorzusehen, damit auch der europäische Gesetzgeber wie der nationale - vor allem, wenn Änderungen von Verhältnissen möglich sind oder wenn die Gesetzesfolgenabschätzung, die ja ganz wichtig ist, schwierig ist - sich vornimmt, nach einer bestimmten Zeit ein Gesetz zu überprüfen und es gegebenenfalls auslaufen zu lassen. Gute Gesetzgeber schützen ihre Bevölkerung vor der Flut von Gesetzen.