27.10.1999
Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang
Thierse, anläßlich der Feierstunde zum 50jährigen
Jubiläum des Petitionsausschusses am 27. Oktober 1999 um 17.00
Uhr im Reichstagsgebäude
Es gilt das gesprochene Wort
"Heute feiern wir das 50jährige Jubiläum des
Petitionsausschusses. Am 14. Oktober 1949 konstituierte sich der
Petitionsausschuss der 1. Legislaturperiode des Deutschen
Bundestages. 1975 erhielt der Petitionsausschuß die Stellung
eines Bundestagsausschusses, der in der Verfassung
ausdrücklich genannt, mit eigenen Vollmachten ausgestattet und
dessen Einsetzung zwingend vorgeschrieben ist. Diese starke
verfassunsrechtliche Stellung haben außer dem
Petitionsausschuss noch der Auswärtige Ausschuss und der
Verteidigungsausschuss.
Das Petitionsrecht selbst entwickelte sich bereits zur Zeit der
Stände-Versammlungen noch vor der Französischen
Revolution, als die Bürgerinnen und Bürger einzeln oder
in Gruppen das Recht erhielten, sich direkt an die Volksvertreter
zu wenden. 1884 legte dann die Nationalversammlung in der
Frankfurter Paulskirche den Grundstein für das heute geltende
Petitionsrecht. In § 159 der der Paulskirchenverfassung wurde
jedem Deutschen das Recht zuerkannt, sich mit Bitten und
Beschwerden schriftlich an die Behörden, an die
Volksvertretungen und an den Reichstag zu wenden. Die Weimarer
Verfassung von 1919 verankerte das Petitionsrecht in Artikel 126
als Grundrecht. Das Eingabenrecht wurde während der NS-Zeit
zwar nicht formell abgeschafft. Es spielte in dieser Zeit aber
keine Rolle. 1949 stellte der Parlamentarische Rat dieses elementar
wichtige Recht in seiner alten Bedeutung wieder her und erhob es
darüber hinaus zu einem Grundrecht, das jedem Menschen - nicht
nur den Deutschen - zusteht.
Das Petitionsrecht steht für zwei Besonderheiten: Zum einen
können die Bürger sich unmittelbar, ohne wesentliche
formellen Voraussetzungen und vor allem ohne Kosten an den
Deutschen Bun-destag wenden. Es muß nur schriftlich sein.
Angesichts mancher äußerst komplizierter
Verwaltungsstrukturen und -Hierarchien ist dies eine bemerkenswerte
Besonderheit in unserem Land.
Zum anderen wird im Petitionswesen wirkliche Bürgernähe
zur Po-litik praktiziert. Es sind ja nicht immer
ausschließlich Be-schwerden. Häufig legen die
Bürger aufgrund ihrer Erfahrungen eigene Vorstellungen
über Gesetzesänderungen oder - Neufassungen dar. Der
Gesetzgeber muss über diese Bitten abstimmen. Nicht selten
sind es Anregungen für Gesetzesintitiativen.
Für Parlament und Bundesregierung ist das Petitionswesen
sozusagen "des Volkes Stimme". Hier erfahren sie über dringend
zu lösende Probleme, über konkrete Mißstände
oder über Schwierigkeiten des Einzelnen bei der Umsetzung der
beschlossenen Gesetze. Dem Bürger wiederum wird deutlich, dass
der Staat sich um seine Anliegen kümmert, ja mehr noch: Der
Petent beteiligt sich aktiv am politischen Geschehen.
Die eingereichten Petitionen sind auch immer Barometer für die
Befindlichkeiten und die Probleme in unserem Land gewesen.
Bereits in den beiden ersten Wahlperioden gingen insgesamt rund 60
000 Petitionen beim Deutschen Bundestag ein. Aus ihnen sprachen Not
und Verzweiflung der Kriegsopfer: Ostvertriebene,
Schwerbeschädigte, Umsiedler,
Besatzungsgeschädigte.
Anfang der 50er Jahre konzentrierten sich die Eingaben auf
Ansprüche aus dem Bundesversorgungsgesetz und der
Kriegsopferversorgung, aus Lastenausgleich, Kriegsfolgekosten und
die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts.
In den 80er Jahren bestimmten dann Umwelt- und Naturschutz,
Friedenssicherung, Einrichtung von Frauenhäusern oder der
NATO-Doppelbeschluss die Themenpalette.
Eine wahre "Hoch-Zeit" erlebte der Petitionsausschuss nach der
Einheit Deutschlands. Seitdem pendelt die Zahl der Petitionen
jahrlich bei 20.000.
Rund 40% der Eingaben kamen aus den neuen Bundesländern. Auf
eine Million Bürger aus den neuen Bundesländern entfielen
409 Eingaben, in den alten Bundesländern waren es 214. Seitdem
pendelt die Zahl der Petitionen jährlich bei 20.000.
Dies ist nicht verwunderlich. Denn in Zeiten des Umbruchs sind die
Sorgen und Nöte der Menschen besonders groß, seien es
die gravierenden veränderungen durch die Angleichung an das
beste-hende Rechts- und Gesellschaftssystem der Bundesrepublik
Deutschland, seien es die unterschiedlichen Lebensbedingungen oder
auch die manchmal undurchschaubaren Kompliziertheiten un-seres
Steuerrechts.
Wie politisch sich der Petitionsausschuss gerade in dieser Phase
verstand, zeigen die Worte des damaligen Ausschussvorsitzenden, Dr.
Gero Pfennig (ich zitiere): "Die Arbeit des Petitionsausschusses im
Jahre 1991 war durch die Folgen der Wiedervereiniung
gekennzeichnet. Sowohl die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit als
auch die Konfrontation mit Problemen der Angleichung an das
vorhandene Rechts- und Gesellschaftssystem der Bundesrepublik
Deutschland standen thematisch im Mittelpunkt vieler Eingaben. Jede
dritte Eingabe kam aus den neuen Bundesländern. Aber auch die
Zuschriften aus den alten Bundesländern beschäftigten
sich vielfach mit vereinigungsbedingten Problemen. Der Ausschuss
ist einmal mehr Seismograph der Sorgen und Nöte der
Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland
gewesen...
Im vereinten Deutschland hat das Petitionsrecht eine noch
wichtigere Rolle bekommen. Der Petitionsausschuss ist sich
bewußt, daß die Bürgerinnen und Bürger von
ihm neben allem anderen eine besondere Hilfestellung zur Vollendung
der inneren Einheit erwarten". (Zitat Ende)
Diesen konkreten Ansprüchen und Erwartungen der einzelnen
Petenten veruchen die Abgeordneten des Petitionsausschusses
zusammen mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im
Ausschussdienst und in den Fraktionen immer wieder gerecht zu
werden. Denn die Vollendung der deutschen Einheit gehört nach
wie vor - auch 10 Jahre nach dem Mauerfall - zu den zentralen
politischen aufgaben in Deutschland.
Lassen Sie mich an dieser Stelle im Namen des Deutschen Bundestages
dafür allen, die in den letzten fünf Jahrzehnten im
Petitionsausschuss tätig waren, herzlich danken."