01.06.2000
Rede des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse beim 94.
Deutschen Katholikentag in Hamburg
Es gilt das gesprochene Wort
"Für nicht wenige in unserer Gesellschaft ist die Vielfalt der Kulturen völlig normal - aber nur im Ausland. Auf Urlaubsreisen wird die Begegnung mit anderen Kulturkreisen gerne gesucht. Kein Weg ist zu weit, um noch an den entferntesten Punkten unseres Globus für eine, zwei oder drei Wochen einzutauchen in eine fremde Kultur. Die gleichen Bürgerinnen und Bürger tun sich jedoch nicht selten schwer mit der Erfahrung kultureller Andersartigkeit im eigenen Land. Hier sind auch nach fünfzig Jahren freiheitlicher Demokratie in Deutschland viel Fremdheit, viele Bedenken und auch beträchtliche Aversionen zu registrieren. Immer noch fehlt es in Teilen unserer Gesellschaft an Offenheit für die Begegnung mit anderen Kulturen in unserem Land.
Gegen solche Vorbehalte oder auch diffuse Ängste vor einer vermeintlichen ‚Überfremdung' hilft vor allem Aufklärung - nicht nur darüber, dass es abgeschottete ‚Nationalkulturen' nie gegeben hat und in der Welt von heute und morgen erst recht nicht geben kann. Ebenso vermag der Blick zurück verdeutlichen, wie irreführend die unreflektierte Ablehnung fremder Kultureinflüsse ist. Ich erinnere an die Zuwanderer - früher nannte man sie "Gastarbeiter" -, die ab dem Ende der 50er Jahre in die alte Bundesrepublik gekommen sind. Der Zuwanderungsprozess, der damals in Gang gesetzt wurde, und seine Folgen sind für das Thema unseres Podiumsgesprächs sehr aufschlussreich.
Angeworben werden sollten damals Arbeitskräfte - und es kamen Menschen! Menschen aus anderen Kulturkreisen, mit anderen Einstellungen und Erfahrungen, die ihre Familien mitbrachten oder nachholten, Menschen, die die Bindungen an ihre Religion und ihre kulturellen Traditionen nicht aufgaben, als sie die deutsche Grenze überschritten, um bei uns zu arbeiten und unter uns zu leben - zunächst auf Zeit, aber immer häufiger auf Dauer.
Heute sehen wir, welche kulturelle Bereicherung die Zuwanderer aus Griechenland und der Türkei, aus dem damaligen Jugoslawien, aus Italien, Spanien oder Portugal für uns bedeuten. Das Leben in der Bundesrepublik Deutschland wäre viel ärmer ohne sie. Ob wir unser Arbeits- oder Alltagsleben betrachten, den Freizeitbereich, unsere Sprache, Literatur, Kunst oder Musik - in allen diesen Bereichen ist unsere Lebenswelt durch die Zuwanderung vielfältiger und reicher geworden.
Dieses Beispiel lässt zugleich erkennen, vor welch radikale Veränderungen uns die Folgen der ökonomischen Globalisierung in den nächsten Jahren stellen werden. Auch die aktuellen Globalisierungstendenzen setzen keineswegs nur Ideen, Waren und Arbeitskräfte in Bewegung. Vor allem bringen sie Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen in Kontakt. Die Globalisierung rüttelt an alten Gewohnheiten und scheinbar selbstverständlichen Traditionen, konfrontiert uns in immer kürzeren Abständen mit Veränderung. Vor allem bedeutet sie Begegnung mit fremden Lebensweisen und Mentalitäten. Dies hat, wie wir z.T. schon heute spüren, im kulturellen Bereich schwerwiegende Auswirkungen. Unsere künftige Gesellschaft wird viel stärker als bisher vom Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen geprägt sein. Deshalb stellt die Integrationeine der großen Aufgaben am Anfang des neuen Jahrhunderts dar. Darauf müssen wir uns politisch und gesellschaftlich einstellen.
Nachdem dieses Thema viel zu lange ignoriert worden ist, hat die neue Bundesregierung erste wichtige Schritte zur Erleichterung der Integration durchgeführt. Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts war ein Meilenstein auf diesem Weg. Wir werden in diesem Podiumsgespräch erörtern, welche weiteren Schritte und Maßnahmen hier notwendig sind. Wichtige Anstöße zu dieser Frage hat die "Berliner Rede" des Bundespräsidenten gegeben. Johannes Rau hat die aktuelle und künftige gesellschaftliche Brisanz des Themas ‚Einwanderung und Integration' nachdrücklich ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Seitdem wird auch in Gesellschaft und Politik intensiv darüber diskutiert, ob in diesem Zusammenhang ein "Gesetz zur aktiven Förderung der Integration" notwendig und hilfreich sein kann - ohne dass bisher klar wäre, was ein solches Integrationsgesetz im einzelnen regeln soll und kann.
Wir sollten jedoch in der komplexen Frage des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft nicht einseitig auf Gesetzesmaßnahmen setzen - zumal dann nicht, wenn es um Probleme der interkulturellen Begegnung, der wechselseitigen Förderung von Akzeptanz und Toleranz geht. Offenheit für andere Mentalitäten und Lebensweisen, Bereitschaft zu kulturellem Austausch, Einübung von friedlichen Lösungen kulturell bedingter Probleme und Konflikte kann man nicht gesetzlich verordnen.
Das Ziel der gesellschaftlichen Integration bedeutet deshalb vor allem eine Herausforderung für Erziehung und Bildung. Von der Grundschule bis zur Universität, aber auch im gesamten Bereich der politischen Bildungsarbeit muss kulturelle Toleranz ein zentrales Lernziel für alle Mitglieder unserer Bürgergesellschaft sein. Es geht um die Anerkennung kultureller Vielfalt im Innern, um die Förderung der Erkenntnis, dass andere Kulturen unsere eigene Lebenswelt bereichern können. In der zunehmend globalisierten Welt muss niemand mehr in ferne Länder reisen, um andere Kulturen in ihrem Lebensalltag kennenzulernen. Dazu gibt es genug Gelegenheit im eigenen Land: im Nachbarhaus, in der Straßenbahn, am Arbeitsplatz, beim Sport oder beim Einkaufen.
Eine wirkliche Integration darf sich allerdings nicht darauf beschränken, friedlich nebeneinander zu leben. Um Missverständnisse zu vermeiden: angesichts von ausländerfeindlicher Gewalt, die bis zur Hetzjagd auf Ausländer reicht, ist schon das friedliche Nebeneinander nicht wenig. Aber es kann nicht genügen. Vielmehr geht es darum, wie wir miteinander leben, wie wir einander wechselseitig bereichern können.
Integration ist immer eine Aufgabe für beide Seiten, für die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft ebenso wie für Angehörige der Minderheiten. Hier sind die einen ebenso gefordert wie die anderen. Dies verlangt von den Zuwanderern nicht die Aufgabe ihrer religiösen oder kulturellen Bindungen - z.B. an ihre Muttersprache. Aber es erfordert die Bereitschaft, sich mit unserer Kultur - und das heißt vor allem: unserer Sprache - auseinander zusetzen. Wer dauerhaft in Deutschland lebt, wer integriert werden will, muss bereit sein, Deutsch zu lernen.
Integration kann nicht gelingen ohne die Bereitschaft, kulturbedingte Konflikte friedlich zu lösen. Dies verlangt von beiden Seiten Respekt und Toleranz im Umgang mit unterschiedlichen kulturellen Sichtweisen und Maßstäben. Natürlich können damit nicht alle Probleme gelöst werden. Es gibt Konflikte, bei denen kulturelle Gegensätze hart aufeinanderprallen und einvernehmliche Problemlösungen kaum möglich sind. Dies hat der Streit um die muslimische Lehrerin Ferestha Ludin gezeigt. Sie wurde nicht in den Schuldienst des Landes Baden-Württemberg übernommen, weil sie im Unterricht nicht auf das Tragen des Kopftuchs verzichten wollte. Nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart verstößt dies gegen die staatliche Neutralitätsverpflichtung, die auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterstrichen worden ist.
Das Beispiel zeigt, dass solche interkulturell bedingte Konflikte mitunter nur um den Preis der Aufgabe bestimmter kultureller Eigenheiten der einen oder anderen Seite gelöst werden können. Dies unterstreicht die Schwierigkeiten aller Integrationsbemühungen. Integration ist eine Aufgabe, die Respekt vor kulturellen Unterschieden erfordert, aber damit allein nicht immer lösbar sind. Allerdings kann abwägende Toleranz sehr hilfreich sein: hier in Hamburg ist zu Beginn des laufenden Schuljahrs erstmals eine Lehrerin eingestellt worden, die das Kopftuch auch im Unterricht trägt. Der Schulsenatorin und der Schulbehörde war die Eignung der Lehrerin und die Qualität ihres Unterrichts wichtiger.
Toleranz darf jedoch niemals zu völliger Werterelativierung führen. Menschenwürde, Menschenrechte und die Grundwerte unserer Verfassung müssen von allen akzeptiert werden, die Mitglieder unserer Bürgergesellschaft sein wollen. Niemand kann sich auf andere Kulturbezüge berufen, um z. B. das Kindeswohl oder die Gleichberechtigung von Frau und Mann außer Kraft zu setzen.
Ebenfalls sind die Grenzen der Toleranz überschritten, wenn aus Abneigung gegen Angehörige fremder Kulturen zu Hass und Gewalt aufgerufen wird. Den ewig gestrigen, die verblendet immer noch der Illusion einer abgeschotteten ‚nationalen' Kultur nachhängen und diese mit Gewalt gegen Ausländer durchsetzen wollen, gilt es mit aller Härte entgegenzutreten. Solche Formen kultureller Intoleranz darf unsere demokratische Zivilgesellschaft nicht hinnehmen. Hier ist jede Verharmlosung falsch, jedes Verschweigen ein Fehler, jedes Wegsehen unentschuldbar. Deshalb ist die Aktivierung möglichst vieler Mitglieder der zivilen Bürgergesellschaft gegen Ausländerfeindlichkeit und für das Ziel der Integration von entscheidender Bedeutung. Diskriminierung, Verächtlichmachung, Gewalt gegen Ausländer kann jeder entgegentreten, der bei der Fahrt in der Bahn, auf dem Weg zur Schule, am Arbeitsplatz oder in der Freizeit solche Formen kultureller Intoleranz beobachtet.
Die Vielfalt der Kulturen ist in unserem Land also längst noch nicht normal. Wir sollten deshalb gemeinsam darüber nachdenken, wie es gelingen kann, die Akzeptanz kultureller Vielfältigkeit künftig zum Normalfall werden zu lassen.
Für eine neue Offenheit im Umgang mit kultureller Andersartigkeit zu werben, ist in besonderer Weise eine Aufgabe der Kirche. Für uns Christen ist jeder Mensch ein Geschöpf Gottes - unabhängig davon, aus welchem Kulturkreis er stammt und welche religiösen Überzeugungen er vertritt. Deshalb sind Christen aufgerufen, im alltäglichen Leben Zeugnis zu geben für den toleranten Umgang mit anders Denkenden oder anders Gläubigen.
Tatsächlich ermutigen die Kirchen und großen Weltreligionen uns dazu. Der interreligiöse Dialog der Institutionen und Theologen zeigt beispielhaft, dass in der Beschäftigung mit anderen Religionen vor allem Gemeinsames, Verbindendes zu erkennen und wiederzuentdecken ist. Die vergleichende Religionswissenschaft hat eindrucksvoll herausgearbeitet, dass es zwischen den großen Weltreligionen grundlegende Übereinstimmungen gibt. Viel zu lange sind diese von der Betonung der Unterschiede und Gegensätze verdeckt worden. So stimmen z. B. Christentum und Islam überein in der Gleichheit aller Menschen vor Gott, in der Verpflich-tung zu sozialer Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, in der Forderung nach der Bewahrung des Friedens und vor allem in der Toleranz gegenüber anders Gläubigen. Diese Gemeinsamkeiten bewusster zu machen, sollten wir nicht nur hochgelehrten theologischen Debatten überlassen. Es liegt an uns, sie im Alltag spürbar zu machen.
Das Leitwort dieses Katholikentags lautet: "Sein ist die Zeit". Dieses Bibelwort ist keinesfalls als Entlassung der Christen aus der Verantwortung für unsere Welt und Zeit zu verstehen. Im Gegenteil dürfen Christen die uns von Gott gegebene Zeit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Wir haben Aufgaben in dieser Welt zu erfüllen. Deshalb können wir in der zentralen Frage der Integration nicht passive "Zeitgenossen" sein. Vielmehr gilt es, die "Zeichen der Zeit" zu erkennen, jenen Zeittendenzen entschieden entgegenzutreten, die in Richtung kulturelle Intoleranz weisen und uns stattdessen einzusetzen für eine offenere, tolerantere, friedlichere, kulturell vielfältige Welt."