15.01.2001
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse dankt für
Ignatz-Bubis-Preis
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erhielt am 15. Januar 2001 bei einer Feierstunde in der Paulskirche in Frankfurt/Main den Ignatz-Bubis-Preis. Der Bundestagspräsident führte in seiner Dankrede u.a. aus:
Es gilt das gesprochene Wort
"Dass ich es gewöhnt bin, Reden zu halten, wissen Sie. Aber die heutige Rede fällt mir besonders schwer. Die Verleihung dieses Preises, verbunden mit diesem Namen, macht eben nicht nur stolz, sondern auch beklommen und verlegen. Lassen Sie mich also zunächst Dank sagen, Dank auch für Ihre Laudatio, sehr verehrter Bischof Lehmann. Ich bin sicher, Ignatz Bubis wäre sehr einverstanden damit gewesen, dass der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz die Laudatio hält bei der Verleihung eines Preises, der dem Andenken und dem Lebenswerk eines Deutschen jüdischen Glaubens gewidmet ist.
Vor wenigen Wochen ist hier in Frankfurt auf Beschluss des Rates eine Brücke nach Ignatz Bubis benannt worden. Dieses Symbol könnte nicht glücklicher gewählt sein. Ignatz Bubis war in der Tat ein Brückenbauer. Er baute Brücken - zwischen den Juden und den nichtjüdischen Deutschen, aber auch weit darüber hinaus. Er engagierte sich für die Minderheiten in der Mehrheitsgesellschaft, förderte die Verständigung zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, zwischen den Generationen, Kulturen und Religionen. Im Ausland, gerade in Israel und den USA, warb er immer wieder für Vertrauen in unsere parlamentarische Demokratie. Wie kaum ein anderer hat er sich für die Erinnerungsarbeit, gegen das Vergessen oder Verdrängen der Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten eingesetzt. Aber der Brückenbauer legte auch Wert darauf, dass die Brücken nicht nur in die Vergangenheit führten. Ihm ging es ebenso um Gegenwart und Zukunft, um die Stärkung unserer Zivilgesellschaft gegen ihre extremistischen Feinde.
Diese Lebensleistung für die Demokratie in Deutschland hat ein Mensch erbracht, der die Schrecken des Nationalsozialismus als Kind und junger Mann am eigenen Leib erfahren hat, der fast seine ganze Familie in den Konzentrationslagern verlor, dessen Vater vor seinen Augen abgeführt und in Treblinka ermordet wurde. Und dennoch sah Bubis das Land, aus dem die Täter stammten, als jenes Land, in dem er nicht nur leben, sondern öffentlich wirken, für das er sich engagieren wollte. Auf dieses Engagement, auf diese unnachahmliche Lebensleistung verpflichtet dieser Preis, ich weiß es.
Ignatz Bubis' bittere, ja resignative Lebensbilanz, kurz vor seinem Tode uns mitgeteilt, ist und bleibt ein Stachel in unserem Fleisch, so sehr ihr damals in der Würdigung seines Lebens widersprochen wurde und so sehr man ihr immer neu widersprechen möchte. Sind wir doch gemeinsam der Überzeugung, dass Deutschland kein rechtsextremistisches Land, dass unsere Demokratie gefestigt und die demokratische Wachsamkeit der Wählerinnen und Wähler beträchtlich ist. Die Lebendigkeit der immer noch wenigen, aber wachsenden jüdischen Gemeinden ist eine Gnade und ein Geschenk, mit der noch vor Jahren nicht gerechnet werden konnte. Es gibt vielfaches bürgerschaftliches Engagement gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit, für Menschenrechte und Toleranz in unserem Land, ein Engagement auch und gerade von jungen Menschen, das viel mehr mediale Aufmerksamkeit verdiente. Unsere politischen, unsere staatlichen Institutionen mögen gelegentlich Kritik herausfordern, aber die Bundesrepublik ist weit, sehr weit entfernt von Weimarer Verhältnissen. Dies gilt trotz und gerade angesichts von Parteispendenaffäre, BSE-Krise, Ministerrücktritten, Reformstreit, vielfacher Unzufriedenheit und Ost-West-Mißhelligkeiten. Wir Deutschen sind staatlich vereinigt und leben in Grenzen, zu denen alle unsere Nachbarn ja gesagt haben, wir leben in Frieden mit unseren Nachbarn. Wann hat es das alles schon einmal gegeben? Das ist ein unverdientes historisches Glück nach diesem vor allem auch durch Deutsche verursachten furchtbaren 20. Jahrhundert. Wir haben also die Chance, dass deutsche Geschichte endlich einmal gut ausgehen kann.
Und trotzdem, wenn ich es recht sehe, sind wir dieses freundlichen, hoffnungsvollen Befindens nicht wirklich sicher. Der Stachel im Fleisch! Haben wir doch im 10. Jahr unserer wiedergewonnenen staatlichen Einheit mit Bestürzung wahrgenommen, was noch und wieder in unserem Lande möglich ist: Intoleranz, Fremdenhass, Antisemitismus, Rechtsextremismus, die sich in mehr und brutaleren Gewalttaten niederschlagen. (Ich muss hier die schlimmen Zahlen nicht nennen.) Haben wir doch begreifen müssen, dass ausländerfeindliche Einstellungen ein Teil des Alltagsbewusstseins vieler Menschen nicht nur, aber vor allen auch im Osten Deutschlands geworden sind. Müssen wir doch begreifen, dass der Rechtsextremismus nicht mehr ein parteipolitisch isolierbares Randphänomen ist, sondern in die Mitte unserer Gesellschaft hineinreicht, man gehe nur in (ostdeutsche) Schulen, man beobachte die Skinheadszene und ihre Musik als ein Ferment der (ostdeutschen) Jugendkultur. Mit Bestürzung werden wir des Ausmaßes moralischer Entwurzelung gewahr: elementarste Regeln menschlichen Zusammenlebens gelten nicht mehr, alltägliche Gewalt nimmt zu, Angst breitet sich aus - an manchen Schulen, in manchen Klein- und Mittelstädten, auf dem "flachen Land". (Ich male hier nicht schwarz, aber ich weiß, wovon ich rede, denn ich bin viel unterwegs.) Erinnern Sie sich an die Meldung vor einigen Monaten über ein Strafverfahren gegen Taxifahrer, die nicht einmal zu ihrem Funktelefon griffen, um die Polizei zu holen, sondern kalt (oder womöglich zustimmend) zusahen, wie vor ihren Augen ein Ausländer fast zu Tode geprügelt wurde? Und - um den Blick zu wechseln - dass wir uns nicht mehr darüber aufregen, es scheinbar gar nicht bemerken, dass wir Gewalt zum wichtigsten Gegenstand unserer abendlichen Fernsehunterhaltung gemacht haben, das will mir auch nicht gerade als Beleg für die Verfeinerung unserer Sitten erscheinen.
Lohnt es sich, in dieser Sache und bei dem Thema überhaupt, an die Zivilgesellschaft zu appellieren? Ich hoffe es, und es ist ja nicht ohne Echo, wie die vergangenen Monate bewiesen haben. Unser Staat, unsere Polizei und Justiz tun jedenfalls mit gewachsenem Problembewusstsein und wachsender Entschlossenheit ihre Pflicht. Der NPD-Verbots-Antrag ist dafür ein Zeichen, ein unübersehbares und notwendiges!
Vor diesem Hintergrund, einem - soll ich sagen "typisch deutschen"? - Zwiespalt von Befund und Befinden, von Chance und Gefährdung, vor diesem Hintergrund debattieren wir in Deutschland seit einigen Monaten über den Begriff "Leitkultur". Und darauf möchte ich etwas ausführlicher eingehen (gewissermaßen in Erinnerung an meinen früheren Beruf, den des Kulturwissenschaftlers).
Lohnt es sich, über "Leitkultur" ernsthaft zu diskutieren? Es geht ja um ein Wort, zu dem sich bisher der rechte und präzise Begriff nicht einstellen will! Auch nach einigen Monaten Diskussion darüber, scheint mir das der Fall. Aber vielleicht ist das Wort ja mit voller Absicht in seiner Ambivalenz gewählt worden. Denn es ging vielleicht nicht nur um einen präzisen Begriff, sondern auch um seine sehr suggestive Konnotation: "Wer zu uns kommt, soll sich gefälligst an uns anpassen!" Das ist ein Satz, dem vermutlich die meisten Deutschen zustimmen, weil er an eine alltägliche Erfahrung von uns allen anknüpft: Wer unsere Wohnung betritt, möge sich so benehmen, dass wir ihn nicht rauswerfen müssen, aus Wut oder Verärgerung über sein Verhalten. Ein sehr suggestiver Satz also, an den sich aus Gründen intellektueller Redlichkeit und politischen Anstandes allerdings eine kleine Frage anschließen müsste: "Woran denn, bitte schön, soll sich da jemand anpassen?" Das ist die eigentliche Frage, um die die Diskussion kreisen müsste. Ich übersetze diese Frage in eine allgemeinere Form: Wieviel Gemeinsamkeit und welche Art von Grundübereinstimmung braucht unsere Gesellschaft, damit sie (möglichst) viel Verschiedenes, (möglichst) viel Verschiedenheit leben und aushalten kann? Als die Frage "Was hält unsere Gesellschaft zusammen?" wird dieses Thema schon seit Jahren heftig debattiert. Was sind die Bindekräfte in einer Gesellschaft, die sich immer stärker differenziert, die geprägt ist durch Individualisierung und Pluralisierung in vielerlei Hinsicht, die - schon um der eigenen ökonomisch-sozialen Vitalität willen - der Zuwanderung bedarf, also mit mehr ethnischen, religiösen, kulturellen Differenzen wird rechnen und leben müssen?
Das ist die vernünftige und eigentlich wichtige Frage, der wir uns zu stellen haben. Davon ist die Frage danach, was wir von denjenigen erwarten, die zu uns kommen, nur der vordergründige, wenn auch nicht unwichtige Teil. Bei deren Beantwortung sind wir uns offensichtlich schnell einig geworden: Die Beherrschung der deutschen Sprache, der Respekt vor Recht und Gesetz und die Anerkennung unserer Verfassung und der in ihr kodifizierten Grundwerte unserer Gesellschaft, der Menschenrechte und Bürgerpflichten in einem demokratischen Staat. Das ist, soweit ich sehe, zwischen den demokratischen Parteien unstrittig, egal ob man das nun Verfassungspatriotismus oder normativen Konsens nennt. Sind wir uns aber auch darin einig, dass dieser normative Konsens nicht in ein ethnisches Projekt, dass der Verfassungspatriotismus nicht ethnisiert werden darf? Dies nämlich wäre ein dramatisch gefährlicher Rückfall in einen Grundfehler der deutschen Geschichte, den die europäischen Juden, den unsere Nachbarn und den wir Deutschen selber im 20. Jahrhundert blutig bezahlt haben!
Aber ist diese Grundübereinstimmung gemeint, wenn man ausdrücklich von Kultur redet, geht Kultur in Verfassungspatriotismus auf? Wenn wir von gesellschaftlichem Zusammenhalt reden, meinen wir offensichtlich mehr. Übrigens auch mehr als jene Beziehungen, die über den Markt hergestellt werden, über Arbeit und Geld. Der gesellschaftliche Zusammenhalt nämlich reduziert sich nicht auf Marktbeziehungen, so wenig wir als Menschen in unseren beiden marktgemäßen Rollen, nämlich Arbeitskraft und Konsument zu sein, aufgehen!
Was übrigens ist an unserem notwendigen, wünschenswerten, gerühmten Verfassungspatriotismus eigentlich deutsch? Ich kann das nicht wirklich sehen. Der normative Konsens, der unsere Gesellschaft politisch trägt und zusammenhält, ist eine Errungenschaft der Verwestlichung Deutschlands nach 1945. Der Historiker Heinrich-August Winkler hat gerade ein zweibändiges Werk zur deutschen Geschichte der letzten 200 Jahre veröffentlicht unter dem programmatischen Titel "Der lange Weg nach Westen". Darin beschreibt Winkler den hochwidersprüchlichen und für uns und unsere Nachbarn so opferreichen Prozess der Entwicklung Deutschlands in die westliche Demokratie hinein, den Prozess der Annahme der Grundwerte der westlichen Zivilisation. Unser normativer Konsens also ist nicht in irgend einer besonderen Weise deutsch, sondern westlich, und das ist gut so!
Dieser Konsens ist gefestigt und, seien wir ehrlich, prekär zugleich. Stachel im Fleisch: Das, mindestens, sollten wir gelernt haben aus unserem Erschrecken über Antisemitismus, Fremdenhass und braune Ideologie in den Köpfen und Taten von Jungen und Alten in Deutschland. Angesichts erneuter Anschläge auf jüdische Einrichtungen müssen wir die Einsicht gewinnen: Die geschichtliche Lehre aus den Erfahrungen des Holocaust hat ein Volk offensichtlich nicht ein für alle Mal gezogen und gelernt; sie muss immer wieder neu, Generation für Generation vermittelt, angeeignet, gelernt werden. Deshalb sind die Debatten über angemessene und für die nachfolgenden Generationen wirksame Formen der Erinnerung, der Vermittlung geschichtlichen Wissens, der Holocaust-Pädagogik notwendig und sinnvoll, so quälend sie manchmal sein mögen. Das schließt den Streit über das Holocaust-Mahnmal, die Topografie des Terrors und das Jüdische Museum in Berlin ein. Und das gilt auch für die Lehren aus der geschichtlichen Erfahrung mit der anderen, sehr anderen Diktatur in Deutschland, dem Kommunismus. Ich habe mir nicht vorstellen wollen, nicht vorstellen können, dass es in Deutschland jemals wieder jene unheilvolle ideologische Kombination von Nationalismus und Sozialismus geben würde.
Wir Demokraten wissen: Diktaturen bekämpft man am besten, bevor sie sich etablieren können - das ist in zweifacher geschichtlicher Lektion auf bittere Weise zu lernen gewesen. Die Demokratie verteidigt man am erfolgreichsten, so lange sie noch nicht in ihren Grundfesten erschüttert ist. Ich zitiere Wilhelm Hennis, den Altmeister der Politischen Wissenschaft in Deutschland: "Kein Regierungssystem ist so sehr von seinen äußeren Bedingungen abhängig, wie das parlamentarische. Es ist die Luxusausgabe der Regierungsformen, von allen das anspruchsvollste. So wie es am leichtesten für Krisen anfällig ist, so ist es unter günstigen Voraussetzungen von allen das leistungsfähigste." Wilhelm Hennis ist nicht zu widersprechen.
Die Demokraten, Politiker wie Bürger, sind deshalb dazu aufgerufen, den demokratischen Grundkonsens immer wieder neu zu stiften. Das Wissen über seinen ungeheuren Wert immer wieder anzubieten, seine Gegner öffentlich zu stellen. Was haben wir schließlich Besseres und Überzeugenderes als das gute Argument und die positive geschichtliche Erfahrung?
Dazu gehört: Der Staat und insbesondere die demokratische Regierungsform sind kein Selbstzweck. Sie sind Mittel zum Zweck. Und wer Systemopposition betreiben oder das ganze System abschaffen will, der sollte sich in dieser Gesellschaft vor der offensiv und selbstbewusst gestellten Frage zu rechtfertigen haben, ob er Garantie der individuellen Freiheit, ob er die Gleichheit vor dem Gesetz, ob er die Freiheit der Meinung und der Religion, der Reise und der Wahl des Berufs, die Koalitions- und Versammlungsfreiheit beschneiden und beseitigen will. Man kann das alles wollen, allerdings nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Und ich will, dass auch in Zukunft die überwältigende Mehrheit der Menschen willens und in der Lage ist, Rückfälle in vordemokratische, deutschtümelnde, fremdenfeindliche, antisemitische Zustände zurückzuweisen und zu verhindern. Das wird um so eher gelingen, wenn das Grundgesetz begriffen und angenommen ist, wenn es bewusst und absichtsvoll von den Bürgern getragen wird.
Demokratie und Parlament und die Gewaltenteilung unseres Grundgesetzes sind keine beliebigen Formalismen, keine autoritären Setzungen, sondern sie sind die Instrumente dieser Gesellschaft, um die Menschenwürde und die individuelle Freiheit zu gewährleisten. Keine andere Staatsform kann das, keine andere will es überhaupt. Wer diese Ziele teilt, muss auch das Instrument bejahen. Nun ist gerade die Freiheit ein besonders gefährdetes Gut. Man erkennt ihren Wert am deutlichsten, sobald man sie verloren hat, sobald sie nicht mehr selbstverständlich ist. Schlimmer noch: Es tut nicht weh, wenn andere ihre Freiheit einbüßen, es tut erst weh, wenn die eigene Freiheit verloren gegangen ist. Eine Gesellschaft aber büßt ihre Freiheit scheibchenweise ein. Sobald sie dem Mitmenschen jüdischen oder islamischen Glaubens, dem ausländisch aussehenden Nachbarn genommen ist, sind die Voraussetzungen geschaffen, auch noch der nächsten und nächsten Gruppe die Freiheit zu nehmen.
Kultur ist aber offensichtlich mehr als normativer Konsens, als Verfassungspatriotismus, als intellektuelle Werte-Übereinstimmung, als das Bewusstsein von der Kostbarkeit und Gefährdung der Freiheit und der Menschenwürde. Sie ist vor allem auch ein Raum der Emotionen, der Artikulation und Affektation unserer Sinne, ist ein Raum des Leiblichen und Symbolischen! Deshalb ist die Frage sinnvoll, wie das, worin wir intellektuell und politisch, also in gewisser Weise abstrakt übereinstimmen, emotional und symbolisch und leiblich als Bindekraft wirksam wird. Dies ist die eigentlich kulturelle Frage bei der durch das Wort "Leitkultur" angestoßenen Debatte.
Eine erste Antwort darauf führt zu einem nur vordergründig konservativen Stichwort. Es geht um den kulturellen Kanon unserer Gesellschaft: Was muss an Bildung, an kulturellem Wissen, an geschichtlicher Erinnerung mindestens vorhanden sein, damit überhaupt so etwas wie Verständigungsprozesse in unserer Gesellschaft möglich sind? Um sich zu verstehen, muss man eine gemeinsame Sprache beherrschen, das heißt aber nicht nur über deren Worte verfügen, sondern auch deren Bedeutungen beherrschen, und die sind nicht gänzlich ohne Geschichte und ohne Kultur zu haben. Die Frage also, was aus Geschichte und kultureller Herkunft wichtig ist für gegenwärtige Verständigungsmöglichkeiten, wird wieder drängender.
Was sollte zum Beispiel mit welchen guten, heute überzeugenden Gründen von den jüdischen und christlichen Traditionen vergegenwärtigt werden, die unser Menschenbild geprägt haben und ebenso die Aufklärung und das Projekt der Moderne? Oder warum und wie sollte ein junger deutscher Staatsbürger ausländischer Herkunft (und etwa islamischer Religion) den Nationalsozialismus und den Holocaust als Teil auch seiner geschichtlichen Herkunft begreifen? Also die Bibel und Luther und Kant und Goethe und das "Tagebuch der Anne Frank"!?
Könnten wir solche Fragen beantworten, ohne uns allzu sehr auf einen starren, gänzlich unbeweglichen, unveränderlichen Kanon zu fixieren, sie vielmehr diskutieren als Fragen unserer Identität, bei der es um ein gelassenes Selbstbewusstsein unserer selbst geht, um eine Identität, die nicht allein und nicht zuvörderst auf die Abgrenzung von Anderem und Anderen angewiesen ist?
Zum Zweiten geht es um emotionale Ausdrucksmöglichkeiten, in denen wir uns wie selbstverständlich, also ohne Zwang und ohne Scham und ohne Zwiespalt als "Gemeinschaft" wiedererkennen können, in denen wir unserer Gemeinsamkeit, dem uns Verbindenden Ausdruck zu geben vermögen. Blicken wir auf unsere Nachbarn. Was treiben z. B. die US-Amerikaner, die, kaum erklingt ihre Nationalhymne, sich erheben und ihre Hand auf ihr Herz legen? Warum wäre uns das (wohl) peinlich, den Amerikanern ist es aber selbstverständlich? Oder die Briten: Mit welcher Selbstverständlichkeit singen sie während des jährlichen Sommerabschlusskonzerts "The Last Night Of The Proms" durchaus imperiale Lieder mit ("Rule Britannia...")? Sie singen leidenschaftlich und zugleich mit einer gewissen ironischen Distanz, so dass ich als ausländischer Zuschauer keinerlei Ängste bekommen muss. Es ließen sich vergleichbare Beobachtungen aus Frankreich oder Italien oder Polen berichten und mit der Frage verbinden: Warum können unsere Nachbarn ihrer kollektiven Identität so emotional Ausdruck verleihen und wir nicht? Warum haben sie kulturelle Traditionen und Formen dafür und wie sollten sie bei uns Deutschen aussehen, wenn wir denn ein Bedürfnis danach empfinden? Dass es dieses Bedürfnis auch bei uns gibt, ist schwerlich zu bestreiten. Ihm nachzukommen fällt uns angesichts unserer durch die Nazis verdorbenen nationalen Geschichte verständlicherweise viel schwerer als unseren Nachbarn. Aber unsere Geschichte lehrt auch: Unbefriedigtes Bedürfnis sucht sich verquere, ja gefährliche Formen seiner Befriedigung. Deshalb sollten wir uns, nachdem wir Deutschen nun staatlich vereinigt sind, dieser Frage neu stellen. Welche Zeichen, welche Symbole, welche Gesten haben wir für unseren Verfassungspatriotismus? Wie können wir den uns verbindenden normativen Konsens auch emotional und sinnlich bildhaft ausdrücken? Von oben angeordnet und kommandiert werden kann und darf dabei nichts. Wie sehr das schiefgehen kann, zeigt die Geschichte der DDR.
In unserem Zusammenhang sei zum Dritten an etwas Vergessenes erinnert: Zu Zeiten der staatlichen Spaltung der Nation war der Begriff der Kulturnation einigermaßen selbstverständlich. Wir Deutschen, so die Überzeugung damals, sind zwar staatlich gespalten, politisch getrennt, aber wir gehören dennoch zusammen und was uns verbindet, das sei die Kultur. Gilt diese Überzeugung nun gar nichts mehr? Wo wir nun eine Staatsnation geworden sind, in Grenzen leben, zu denen alle unsere Nachbarn ja gesagt haben, bedürfen wir nun des Bandes der Kultur gar nicht mehr, ist der Begriff der Kulturnation also überflüssig, gar gefährlich geworden, wie manche in Erinnerung an problematische deutsche Debatten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts behaupten? Ich glaube nicht. Was aber Kulturnation heute sein könnte, darüber sollten wir diskutieren, ohne in alte deutsche Ausgrenzungsmechanismen zurückzufallen.
Und damit bin ich viertens bei dem, was nach meiner Überzeugung die eigentliche und besondere Leistungsfähigkeit der deutschen Kultur ausmacht: In den glücklichen und großen Phasen der deutschen Kulturgeschichte hat unsere Kultur eine besondere Integrationskraft bewiesen; in der Mitte des Kontinents hat Deutschland in immer neuen Anstrengungen und geglückten Symbiosen Einflüsse aus West und Ost, Süd und Nord aufgenommen und sie zu eigener Kultur geformt. Darauf können wir kulturelles Selbstbewusstsein gründen, genau darin, in dieser Leistung hat unser größtes künstlerisches Genie, nämlich Goethe, zu Recht Weltgeltung erlangt. Und diese Integrationsleistung ist ohne das deutsche Judentum, ohne das "jüdische Element" in der deutschen Kultur gar nicht zu denken - Moses Mendelssohn, Heine, Meyerbeer, Liebermann, Adorno: wieviele Namen müsste ich aufzählen. Auf diese Geschichte und Tradition der kulturellen Integration sollten wir heute aufbauen, sie gilt es fortzusetzen. Dies wäre ein Begriff von deutscher Kultur, der nicht der Aus- und Abgrenzung bedarf, der nicht ein Begriff der kulturelless-gelassenen, also europäisch-normalen Umgangs mit der eigenen kulturellen Identität, die sich nicht zurückdrängen und fixieren lässt auf die Ängste des Identitätsverlusts, sondern auf Aufnahmebereitschaft und kulturelle Bereicherungs-Neugier setzt, die Kultur begreift und praktiziert als einen Raum der Verständigung, der Anerkennung, der menschenverträglichen Ungleichzeitigkeit. Wir haben also Stoff genug für eine Kultur- und Identitäts-Debatte, die nicht mit Ängsten spekuliert und auf Vorurteile setzt!
Ich danke fürs Zuhören und ich danke für diesen Stachel im Fleisch, diesen so verpflichtenden Preis."