24.01.2001
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse eröffnet
Jugendbegegnung anlässlich des Gedenktages für die Opfer
des Nationalsozialismus
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse begrüßt
heute 200 Jugendliche aus Deutschland, Polen und Frankreich, die
sich zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus
(27. Januar) auf Einladung des Bundestages zu einer Begegnung in
Berlin aufhalten. Auf dem Programm der Jugendlichen stehen am
Donnerstag, 25. Januar, u.a. Besuche von Gedenkstätten im Raum
Berlin sowie eine von Iris und Oliver Berben vorgetragene Lesung
des Dialogs "Mama, was ist Auschwitz" (19.30 Uhr, Festsaal des
Berliner Abgeordnetenhauses). Am Freitag, 26. Januar, nehmen die
Jugendlichen an der Gedenkstunde zur Erinnerung an die Opfer des
Nationalsozialismus im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes
(Beginn 13 Uhr) teil und treffen sich anschließend u.a. mit
Bundespräsident Johannes Rau und Bundestagspräsident
Thierse zu einem Gesprächsforum über das Thema: "Was
lehrt uns die Geschichte - Wie können wir heute
Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus entgegentreten?"
(14.30 Uhr, Reichstagsgebäude, Saal der
CDU/CSU-Fraktion).
Bei der Begrüßung der 200 Jugendlichen heute im
Reichstagsgebäude (16 Uhr, Raum 1 S 034) führt
Bundestagspräsident Thierse u.a. aus:
"Vor fünf Jahren erklärte der damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar, an dem 1945 das Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz befreit wurde, zum Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus. Wir gedenken an diesem Tag aller Opfer des Nationalsozialismus. Wir wollen uns zu diesem Anlass einerseits der damaligen Ereignisse erinnern und damit zurückschauen. Wir wollen aber auch und angesichts der aktuellen Problematik des Rechtsextremismus in Deutschland ganz besonders dringend fragen, welche Konsequenzen diese historischen Erfahrungen heute und in Zukunft für uns haben könnten oder sollten.
Darum lädt der Deutsche Bundestag in jedem Jahr Jugendliche aus Deutschland und den Nachbarländern ein, an der Gedenkstunde hier im Hause teilzunehmen und gemeinsam darüber nachzudenken, was uns mit diesem Gedenktag und mit seinem Anliegen verbindet. Mit wem könnten wir dies besser tun, als mit jungen Menschen, die sich wie Sie in Projekten, Initiativen oder Gedenkstätten engagieren. Ich freue mich daher sehr, dass über 200 junge Menschen aus Deutschland und den Nachbarländern unserer Einladung gefolgt sind; und besonders freue mich, dass auch sieben Gäste aus meiner Geburtsstadt Breslau in diesem Jahr dabei sind.
Die Verbrechen des Nationalsozialismus liegen mittlerweile 60 Jahre und mehr zurück. Und dennoch sind sie in vielen unserer politischen Diskussionen präsent; Begegnungen mit den letzten Überlebenden und Zeitzeugen berühren uns ganz unmittelbar. Vielleicht um so mehr, weil wir wissen, dass diese Möglichkeit der persönlichen Begegnung zeitlich begrenzt ist. In einigen Jahren werden an die Opfer des Nationalsozialismus nur noch Bücher, Filme und die stummen Zeugen aus Stein in den ehemaligen Konzentrationslagern erinnern. So einig wir uns sind, dass es notwendig bleibt, an die Opfer und Verbrechen des Nationalsozialismus zu erinnern, so unsicher sind wir, in welcher Form dies geschehen soll. Ich bin sehr gespannt, welche Anregungen und Gedanken Sie uns mit auf den Weg geben.
Je größer der zeitliche Abstand zur Nazi-Diktatur wird, um so größer wird die Notwendigkeit der Aufklärung: was ist damals passiert, was wurde Menschen angetan, warum und wie waren die Verbrechen überhaupt möglich, wer waren die Täter, wer hat geschwiegen oder gejubelt, wer hatte die Kraft und den Willen zu widerstehen? Auf diese Fragen kann es keine letztgültigen Antworten oder Ergebnisse geben, wie bei einer mathematischen Aufgabe. Jede Generation stellt diese Fragen neu und sucht nach möglichen Konsequenzen. Aber unabhängig von unseren unterschiedlichen Erfahrungen als Zeitgenossen oder Nachgeborene können wir die Geschichte nicht verändern oder sie nach aktuellen Absichten hinbiegen - auch wenn Menschen dies immer wieder versuchen. In der DDR habe ich erlebt, wie ein ganzer Staat dies 40 Jahre lang tat, wie das Andenken an die Opfer instrumentalisiert und mißbraucht wurde, um die eigene Parteiherrschaft zu legitimieren.
Um so wichtiger ist es mir daher zu betonen, dass ehrliches Gedenken untrennbar mit kritischer Aufklärung verbunden sein muß. In besonderer Weise wird diese Verbindung an den vielen Gedenkstätten in Deutschland hergestellt. Darum möchten wir Sie morgen zu einem Projekttag an Berliner Gedenkstätten einladen: Sie können dabei nicht nur die vielfältigen historischen Bezüge, sondern auch die ganz unterschiedlichen Formen der Vermittlung und Bildungsarbeit an diesen Orten kennenlernen. Ich bin sicher, daß Ihnen der morgige Vormittag viel Anregung zur gemeinsamen Diskussion geben wird, zumal sich viele von Ihnen ja selbst in Geschichtsprojekten engagieren und somit ihre eigenen Erfahrungen einbringen können.
Wenn ich mit jungen Menschen wie Ihnen über diese Fragen diskutiere, werde ich in den letzten Monaten immer wieder gefragt, ob es nicht wichtiger sei, sich mit der Gegenwart zu beschäftigen. Haben wir überhaupt aus der Geschichte gelernt, wenn es in Deutschland wieder Anschläge auf jüdische Gotteshäuser gibt, wenn Menschen gejagt und geschlagen werden, weil sie "Fremde" sind; wenn in den letzten zehn Jahren mehr als 100 Menschen eben deshalb totgeschlagen wurden?
Ich bin nicht sicher, ob die Geschichte so einfach wie ein Lehrbuch "benutzt" werden kann. Aber eines ist für mich ganz gewiß: wenn wir der Opfer des Nationalsozialismus gedenken, so dürfen wir nicht schweigen, wenn deren Gräber und Gedenkstätten geschändet werden, wenn sich Menschen der Symbole und Parolen der Nazis bedienen, um schließlich deren Werk des Hasses fortzusetzen.
Deshalb war und ist es wichtig, unsere historischen Erinnerungen und Erfahrungen immer wieder in Bezug zu bringen mit der Gegenwart. Darüber lade ich Sie ein, am Freitag im Anschluß an die Gedenkstunde im Deutschen Bundestag mit dem Bundespräsidenten Johannes Rau und anderen Gesprächspartnern zu diskutieren.
Viele von Ihnen engagieren sich in Projekten gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Ich bin daher sehr auf ihre Fragen und Beiträge am Freitag gespannt.
Ich begrüße Sie hier im Reichstagsgebäude, dem Sitz des Deutschen Bundestages, das selbst ein besonderer historischer Ort ist. Sie werden gleich selbst die vielfältigen Spuren und Steine im Hause, und gerade hier in diesem Raum sehen; Spuren, die an den Nationalsozialismus und seine Opfer erinnern.
Die Abgeordneten des Deutsche Bundestages arbeiten hier ganz unmittelbar im Angesicht dieser Geschichte, wir können ihr nicht ausweichen. Und genau das haben wir so gewollt, als wir uns vor fast zehn Jahren entschlossen, den Sitz des gesamtdeutschen Bundestages im Reichstagsgebäude zu nehmen. Wir hätten zwar die Spuren und Steine beseitigen können, aber nicht das Gedächtnis der Völker der Welt. Und in diesem Gedächtnis bleibt der Name Auschwitz das Symbol für die Verbrechen des Nationalsozialismus.
Ich wünsche Ihnen für die nächsten beiden Tage in Berlin gute Gespräche, Einsichten und Begegnungen. Ihr Engagement in vielfältigen Projekten, Initiativen und Gedenkstätten ist für das demokratische Fundament unseres Gemeinwesens und ein tolerantes Miteinander wichtig und letztlich unersetzlich. Sehen Sie Ihre Einladung hier in den Deutschen Bundestag daher auch als Dank und Anerkennung für dieses Engagement."