25.10.2001
Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang
Thierse, anläßlich der Verleihung des
Otto-Brenner-Preises am 25. Oktober 2001 in Berlin
"Es gibt Preisverleihungen, bei denen sich die Jury schwer tut, überhaupt geeignete Kandidaten für die ausgeschriebene Ehrung zu finden. Aber es gibt auch solche, bei denen die Auswahlkommission die oft zitierte Qual der Wahl hat. Erfreulicherweise gehört die heutige Preisverleihung zur letzteren Kategorie. Mehr als 50 Vorschläge sind eingegangen - allesamt Initiativen, die sich im Sinne des Otto-Brenner-Preises 2001 "Jugend für Zivilcourage" engagiert haben.
Der Namensgeber des Preises, Otto Brenner, hat Ausgrenzung und Gewalt selbst erfahren. Er wurde 1933 von den Nationalsozialisten für zwei Jahre inhaftiert, anschließend zeitweise mit Berufsverbot belegt und von der Gestapo fortlaufend überwacht. Diese Erfahrungen haben Otto Brenner motiviert, für einen streitbaren Rechtsstaat einzutreten, der sich seiner Gegner erwehrt, gerade auch der Gefahren durch Rechtsextremisten. Und er ist stets für das eingetreten, was wir heute Zivilcourage nennen. Otto Brenners Engagement in der Gewerkschaft war zugleich bürgerschaftliches Engagement par excellence.
Vor zwei Jahren hatte ich schon die Ehre, die Laudatio auf die ersten Preisträger zu halten. Wie damals will die Otto-Brenner-Stiftung auch in diesem Jahr das demokratische Engagement von Einzelpersonen, Gruppen, Vereinigungen oder Institutionen würdigen, insbesondere den Einsatz für Menschen, die von Rechtsextremisten bedroht wurden.
Was hat sich seit 1999 geändert? Ich wäre froh, ja glücklich, wenn ich von einer sinkenden Zahl rechtsextremistischer Taten berichten könnte. Leider ist das Gegenteil der Fall. Im Verfassungsschutzbericht 2000 sind rund 1000 Gewalttaten mit einem erwiesenen oder zu vermutenden rechtsextremistischen Hintergrund erfasst, gegenüber dem Jahr 1999 ein Anstieg um rund 34 %. Insgesamt ist die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten um fast 60 % auf knapp 16.000 gestiegen.
Die Täter sind oft Schüler, Auszubildende, junge Arbeitslose. Und wir, die Gesellschaft, wir sind jedesmal schockiert, wenn eine solche Tat geschieht. Aber es ist schon etwas erreicht, wenn die Medien dem Problem nicht nur konjunkturelle Aufmerksamkeit wie in den Jahren davor schenken, sondern es nun kontinuierlich und ausführlich beleuchten.
Und damit bin ich bei dem Erfreulichen, bei dem, was sich seit 1999 geändert hat: Das Problembewusstsein in der Öffentlichkeit ist geschärft. Seit 1999 ist die Debatte um Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit, Gewalt in Deutschland verstärkt im Gange - auch wenn das Thema im Moment wegen der aktuellen weltpolitischen Ereignisse in den Hintergrund getreten ist. Aber es gehört nach wie vor auf die politische Tagesordnung, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern Europas. Und gerade für verquere rechtsextremistische Ideologien sind die neu geschürten Feindbilder zwischen Islam und Christen- oder Judentum Wasser auf die Mühlen. Die "braune" Ideologie lebt von Vorurteilen und Hass gegen alles, was fremd ist und gegen jeden, der fremd erscheint. Die Ausgrenzungsmentalität breitet sich oft unauffällig, unterschwellig aus. Wer den latenten Formen rechtsextremen Denkens nicht entgegentritt, wird den manifesten und gewalttätigen Extremismus erst recht nicht in die Schranken weisen können.
Widersprechen und dagegen angehen heißt: die Ursachen zu erkennen. Monokausale Erklärungen verbieten sich. Es geht um ein ganzes Bündel von Ursachen. Ich will sie hier nur stichpunktartig aufzählen, weil sie eigentlich seit langem bekannt sind: Die ökonomische Globalisierung mit den dramatischen Veränderungen, die damit verbunden sind, die Überforderungsängste und Vereinfachungsbedürfnisse vieler Menschen. Die Sorge um die materielle Sicherheit, die Erfahrung von Arbeitslosigkeit, des "Nicht-Gebraucht-werdens" oder auch die Angst davor, die Konkurrenz um Arbeitsplätze, die tiefgreifenden Umbrüche nicht nur in Ostdeutschland mit den Folgen von Verunsicherung und moralisch-ideeller Desorientierung. Und als letztes Stichwort: der bewusste Tabubruch, der den wohl letzten großen gesellschaftlichen Konsens, die eindeutige Absage an die menschenverachtende nationalsozialistische Ideologie, aufkündigt, um zu provozieren.
Widersprechen heißt aber auch, tätig werden. Nur zu analysieren reicht nicht aus, ebenso wenig wie es genügt, gebetsmühlenartig Zivilcourage und Gegenwehr einzufordern, ohne zu sagen, was sie konkret bedeuten, wie sie denn entstehen und gefördert werden.
Ich habe viele Bürgerbriefe erhalten, in denen die Menschen fragen: Was soll ich tun, wenn ich beobachte, wie ein Ausländer beleidigt, angepöbelt oder gar geschlagen wird? Soll ich etwa dazwischen gehen und mich selbst in Gefahr begeben?
Zivilcourage hat nichts mit falsch verstandenem Heldentum zu tun. Niemand muss seine Gesundheit oder sein Leben aufs Spiel setzen. Aber Hilfe zu rufen oder die Polizei zu benachrichtigen, kann man wohl von allen erwarten, die Straftaten beobachten - und das übrigens nicht nur bei rechtsextremistischen Gewalttaten. Leider ist das längst nicht selbstverständlich in unserer Gesellschaft. Ich erinnere an eine Meldung über Taxifahrer, die nicht einmal zum Mobiltelefon griffen, um die Polizei zu rufen, sondern kalt und womöglich zustimmend zusahen, wie vor ihren Augen ein Ausländer fast zu Tode geprügelt wurde. Ein solches Verhalten ist einfach schändlich.
Zivilcourage beweist derjenige, der sich ausländerfeindliche oder antisemitische Witze verbittet, der den Beleidigungen gegen Angehörige anderer Kulturen am Arbeitsplatz oder in der Freizeit entschieden entgegentritt.
Zivilcourage umfaßt ebenso das Eingeständnis öffentlicher Behörden, dass es in ihrer Stadt, in ihrer Gemeinde Rechtsextremismus gibt. Häufig wird aus Furcht vor Image-Schäden, als rechtsextreme Hochburg zu gelten, das Problem einfach totgeschwiegen oder verharmlost. Diese öffentliche Feigheit hat mit dazu geführt, dass rechtsextreme Gruppen sich mancherorts stark genug fühlen, Andersdenkende unter Druck zu setzen. Sie verbreiten so konsequent Angst und Schrecken, dass es viel Mut erfordert, ihnen entgegen zu treten.
Aber es gibt sie - und glücklicherweise immer mehr davon: Bürgerinnen und Bürger, darunter viele Jugendliche, die sich zur Gegenwehr formieren. Ich habe in den vergangenen zwei Jahren viele Orte besucht, mit vielen Jugendlichen gesprochen, die trotz ihrer Angst wieder auf den Marktplatz gehen, die Mehrheiten aktivieren, die ihre ausländischen Mitbürger gegen Pöbeleien, gegen drohende psychische und physische Gewalt verteidigen. Leider sind diese Orte der Gegenwehr weniger bekannt als Guben, Hoyerswerda, Solingen oder Cottbus. Solche Aktivitäten sind - gemessen an den Gesetzen der Medien - zu unspektakulär; gemessen an den Tugenden der Demokratie sind sie beispielhaft und vorbildlich.
Denn der Staat allein, Polizei und Justiz, kann und wird die Täter nicht in die Knie zwingen können. Jeder einzelne trägt Verantwortung, wenn die Rechte und Freiheiten, die unser demokratischer Staat zu sichern hat, gefährdet sind. Unsere Rechte und Freiheiten einzufordern, sie zu leben und sie zu verteidigen, das ist Zivilcourage.
Es gibt kein verantwortungsvolles Handeln ohne Ziel, ohne Überzeugung, ohne Wissen, um was es geht. Auch Zivilcourage wird niemandem bei der Geburt in die Wiege gelegt. Sie entsteht im Elternhaus durch Erziehung, in der Schule, in der Ausbildung, in der engeren und weiteren sozialen Umgebung - auch übrigens durch die Erfahrung, dass man nicht alleine ist. Drei der heutigen Preisträger sind Gruppen, in denen sich Gleichgesinnte engagieren.
Bildung und Erziehung dürfen sich nicht allein auf verbale, auf kognitive Vermittlung von Werten reduzieren. Werte müssen auch vorgelebt werden. Deswegen ist alltägliche moralische Gleichgültigkeit gefährlich. Deswegen ist Gewährung bedrohlich. Zum Beispiel haben wir uns daran gewöhnt, über die Medien alltäglich skandalöse Vorgänge zu konsumieren, ohne dass wir uns davon wirklich betroffen fühlen. Und es ist ein sehr bedenklicher Vorgang, dass Gewalt zum wichtigsten Gegenstand der abendlichen Fernsehunterhaltung geworden ist.
Wie können wir diese Defizite beheben ?
Eine Selbstvergewisserung über unsere demokratischen Werte findet offenbar nicht ausreichend statt. Viel zu lange haben wir übersehen, dass sich diese Werte nicht von alleine in die nächste Generation weiter vermitteln. Sie müssen aber immer wieder erläutert, begründet und vor allem auch vorgelebt werden.
Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht unterscheiden zu können, setzt Lernprozesse voraus. Die Bedeutung von Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt zu erkennen, bedarf der Mitwirkung, des Ausprobierens, der Teilhabe an Gestaltungsprozessen.
Natürlich sind Staat und Politik gefordert, den Sinn und Wert demokratischer Prinzipien zu erklären, zu begründen, zu vermitteln und dafür immer wieder neu zu werben. Aber langfristig geht es um politische Bildungsarbeit, die nur im Verbund von Staat, Elternhaus, Jugendarbeit und Schule zu leisten ist. Nun könnte man annehmen, dass diese Zusammenarbeit selbstverständlich ist - aber weit gefehlt. Alltäglich ist eher der Zustand wechselseitiger Vorwürfe: Lehrer vermissen die Unterstützung des Elternhauses bei ihrem Bildungsauftrag; Schulen werden häufig als "Leerstellen" tituliert; Die Einrichtungen der Jugendarbeit klagen über fehlende finanzielle Mittel. Tatsächlich wird in vielen Städten und Gemeinden mit dem Hinweis auf fehlendes Geld - Jugendarbeit vernachlässigt.
Viele Eltern meinen irrtümlich, die Erziehung im Elternhaus endet mit dem Eintritt in die Schule. Gerade in der Familie, in der Auseinandersetzung wie im Zusammenhalt zwischen Eltern und Kindern wird gewaltfreie, argumentative Auseinandersetzung gelernt - oder eben auch nicht.
Ebenso zentral ist schulische Erziehung. Zwar kann sie seit langem in der Gesellschaft gärende Probleme nicht wirklich und vor allem nicht allein lösen. Aber sie kann präventiv und nachhaltig wirksam die Grundwerte zivilen Zusammenlebens vermitteln. Ob Klassengemeinschaft, Teamarbeit oder Schülervertreterpolitik - hier kann man erfahren, was es heißt, sich argumentativ durchzusetzen, sich zurückzunehmen, eigene Stärken und Schwächen im Vergleich zu anderen wahrzunehmen und anerkannt zu werden.
Es ist Zeit, die Debatte um die Wissensgesellschaft mit der Debatte um Rechtsextremismus zu verknüpfen. So wichtig es ist, mit dem Internet umgehen und komplizierte Wirtschaftsstrukturen durchschauen zu können, so wichtig ist es auch, zu wissen, welche Rechte und Pflichten man in der Demokratie hat, was Toleranz wirklich bedeutet.
Denjenigen, die sich öffentlich für Demokratie engagieren, haben wir den Rücken zu stärken - in der unmittelbaren Begegnung und nicht nur über die Medien. Wir dürfen die Mutigen, die Aufrechten, die Engagierten nicht alleine lassen.
Deshalb ist es besonders ermutigend, dass hier Jugendliche ausgezeichnet werden, die sich mit Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Diskriminierung in unserem Land nicht abfinden wollen und deshalb aktiv geworden sind. Sie tun etwas dagegen: in ihrem gesellschaftlichen Umfeld, in ihrer Schule, in ihrem Betrieb. Sie thematisieren den Rechtsextremismus, diskutieren darüber öffentlich, setzen ihn immer wieder auf die Tagesordnung.
Je mehr Menschen sich so engagieren, desto größer sind die Chancen. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber meine Zuversicht gründet auf positiven Beispielen: Vor zwei Jahren wurde die Stadt Guben bekannt durch die tödliche Hetzjagd auf einen algerischen Asylbewerber. Der Gedenkstein, der an die schreckliche Tat erinnert, wurde in der Folgezeit immer wieder geschändet. In diesem Sommer stand Guben wieder im Mittelpunkt, aber diesmal, weil sich viele Bürger und die dortige Kirchengemeinde mit Erfolg für eine vietnamesische Familie eingesetzt haben, der die Ausweisung drohte. Und das Mahnmal wird inzwischen von Gubener Bürgern gepflegt und geschützt. Das sind gute Nachrichten und Anzeichen dafür, dass der Einsatz Früchte trägt.
Dass die heutige Preisverleihung in der Kulturbrauerei stattfindet, freut mich schon aus dem einfachen Grund, weil die Anreise für mich äußerst kurz war.
Die Kulturbrauerei ist aber auch ein Ort, in der sich politische Geschichte eingeschrieben hat - im Guten wie im Bösen. Hier waren 1942 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter kaserniert. Hier hoffte zu Kriegsende eine Kommandozentrale der "Festung Berlin" in den Brauereikellern auf den Endsieg. Und hier wurden - das ist das traurigste Kapitel der Geschichte - im Hof zahlreiche Anwohner erschossen, nur weil sie weiße Fahnen in ihre Fenster gehängt hatten.
Zur Geschichte der Kulturbrauerei gehören aber auch der zähe Kampf um den Fortbestand nach der Wende und die heutige Nutzung nach der Sanierung. Die Kulturbrauerei ist ein besonderes Forum für kulturelle Annäherung und Auseinandersetzung, ein Ort des Kennenlernens, des Streits, des Abbaus von Vorurteilen, des gemeinsamen Handelns, des kreativen Arbeitens mit Lebensfreude, Witz, Ironie und Selbstbewusstsein - und zwar über tradierte kulturelle, über mentale Grenzen hinweg, ohne sich politisch oder wirtschaftlich vereinnahmen zu lassen. Hier entstand unter anderem auch die Initiative "Pro Toleranz", die sich gegen Rechtsextremismus engagiert.
Dieses Engagement gilt es immer wieder zu ermutigen. Deshalb bin ich hier. Und auch das muss gesagt werden:
Der Otto-Brenner-Preis der IG-Metall ist nur einer von zahllosen Belegen dafür, dass Freiheit und Sicherheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die Grundwerte unserer Zivilisation, die seit dem 11. September angegriffen werden, ohne den DGB und seinen Gewerkschaften in Deutschland unvorstellbar sind. Freie Gesellschaft und freie Gewerkschaften bedingen einander."