16.10.2001
Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang
Thierse, anl. des 50jährigen Gründungsjubiläums der
Deutschen Polizeigewerkschaft im Deutschen Beamtenbund am 16.
Oktober 2001 in Berlin
"In diesen Tagen nach dem 11. September werden uns nun mehr als
sonst die besonderen, hervorragenden Leistungen der Polizei
bewusst, die im Alltag so oft untergehen, so oft als
Selbstverständlichkeit erscheinen. Dass wir die Polizei
für die Wechselfälle des Lebens in Anspruch nehmen, daran
haben wir uns gewöhnt; das ist selbstverständlich.
Genauso selbstverständlich absolvieren viele Polizisten seit
dem 11. September Doppel- und Dreifachschichten, um
öffentliche Gebäude zu schützen, um Bombendrohungen
nachzugehen, um Präsenz zu zeigen und den Menschen - soweit es
geht - mehr Sicherheit zu geben. Unser Sicherheitsbedürfnis
ist nach den furchtbaren Anschlägen gestiegen, weil wir uns
der Risiken bewusster geworden sind. Die aktuelle verschärfte
Sicherheitslage erfordert verstärkten Einsatz im Personen- und
Objektschutz sowie in der Fahndungsarbeit.
Was bedeutet das für die Damen und Herren Polizisten?
Noch mehr als sonst sind sie gefordert, stehen unter Druck und
öffentlicher Beobachtung. Das ist auch eine Last. Denn es
liegt ja nicht in erster Linie Anerkennung darin, sondern
zweifelnde Hoffnung. Reden wir aber nicht nur von Krisenzeiten,
erhöhten Risiken, wachsenden Befürchtungen, reden wir
auch über den Berufsalltag der Polizei: schwere
Verkehrsunfälle, Nachbarschaftsstreit, gewalttätige
Auseinandersetzungen, Suche nach vermissten Kindern, bewaffnete
Raubüberfälle. Polizisten sind meistens die ersten am
Geschehens- oder Tatort. Sie sind zur Stelle und handeln, wo
mancher vor Schrecken starr wird oder am liebsten weglaufen
würde. Sie haben das zu ertragen, was vielen unerträglich
erscheint. Das setzt große Belastbarkeit und
Willensstärke voraus und erklärt die hohen Anforderungen,
die bei der Einstellung in den Polizeidienst gestellt werden. Nicht
jeder kann diesen Beruf ergreifen, gefestigte Persönlichkeiten
sind gefragt.
Ihnen allen, die Sie sich bei der Ausübung Ihres Berufs
mitunter selbst in Gefahr begeben, gebührt unser Dank und
Respekt für Ihre Arbeit und Ihren Einsatz.
Bekannte - beinahe hätte ich gesagt: gewohnte - Formen der
Kriminalität bleiben bestehen; neue kommen hinzu: Banden
agieren heute weltweit und grenzüberschreitend. Die
organisierte Kriminalität bedient sich der neuen
Kommunikationsmittel; Informationen werden nicht mehr per Telefon
weitergegeben, sondern finden sich verschlüsselt auf harmlos
erscheinenden Webseiten, was nicht die einzigen strafbaren Inhalte
des Internets sind.
Die Geldwäsche ist zu Recht wieder im Gespräch und ist
doch nur ein Beispiel für die Wirtschaftskriminalität.
Auch hier ist es die Polizei, die präventive Maßnahmen
zum Schutz der Wirtschaft und Währung und der Bürgerinnen
und Bürger ergreift.
Verstärkt machen rechtsextremistische Gewalttäter von sich reden, treiben ihr Unwesen, indem sie Ausländer, Behinderte, Obdachlose anpöbeln, verprügeln oder gar zu Tode hetzen, Asylantenheime in Brand setzen und jüdische Friedhöfe schänden. Leider sinkt die Zahl dieser Taten noch immer nicht. Wir dürfen uns nichts vormachen: Auch wenn das Thema zur Zeit wieder in den Hintergrund getreten ist, agieren die Rechtsextremisten in unserem Land noch immer mit ihren Parolen und abscheulichen Taten gegen alles, was nicht in ihre engstirnige Weltsicht, in ihre selbst gesetzte Norm passt. Dann wird die Polizei gerufen - ich wäre froh, wenn es weit häufiger und rechtzeitiger geschähe - aber fast schon glücklich, wenn es immer seltener notwendig würde. Stattdessen haben Sie es mit klammheimlichem Einverständnis, mit Verharmlosung aus Angst oder Scham zu tun. Keine guten Voraussetzungen, extremistische Straftäter aus dem Verkehr zu ziehen. Die Polizei ist auf die Zusammenarbeit mit anderen Behörden und auf die Bürgerinnen und Bürgern angewiesen. Niemand muss sich selbst in Gefahr bringen. Ich verlange kein Heldentum von Passanten. Aber dass sie die Polizei zu Hilfe rufen, kann man, muss man von jedem erwarten, der Straftaten beobachtet, rechtsextremistische und andere.
Jetzt haben alle Verständnis für Kontrollen, für
polizeiliche Maßnahmen aller Art. Aber sicher ist auch, dass
die Polizei wieder im Brennpunkt öffentlicher Kritik stehen
wird. Dann schlägt ihr wieder Misstrauen entgegen; die Furcht
vor Kriminellen weicht der Sorge vor staatlicher, polizeilicher
Bevormundung. Der Anlass dafür wird etwas zutiefst
Menschliches sein: ein mehr oder minder großer Fehler, wie
wir ihn alle einmal machen. Polizisten dürfen das nicht.
Ich fürchte, diesen Zwiespalt müssen Sie aushalten. Denn
natürlich befinden Sie sich ständig auf dem schmalen Grat
zwischen Freiheit und Sicherheit, ob man das will oder nicht. Und
ein für alle Zeit und alle Gelegenheiten austariertes
Gleichgewicht zwischen beiden gibt es nicht. Es muss immer wieder
neu bestimmt werden.
Jetzt hat innere Sicherheit Konjunktur und Forderungen nach
drastischen Maßnahmen ebenfalls. Richtig ist, dass wir nach
dem 11. September viel Anlass haben, die Instrumente der
Sicherheit, der Verbrechensbekämpfung, auch des
Katastrophenschutzes zu überprüfen. Aber ich warne vor
einem allgemeinen Bedrohungsszenario, vor hektischen Antworten ohne
Augenmaß, die vor rechtsstaatlichen Grundsätzen keinen
Halt machen. Ich vertraue auf die Polizei und glaube nicht, dass
unsere Bundeswehr ohne weiteres ihre Aufgaben übernehmen
könnte oder sollte. Ich bitte um eine sehr präzise
Debatte solcher Fragen!
Beide, Polizei und Bundeswehr, sind die Institutionen des
staatlichen Gewaltmonopols, sind Pfeiler des Rechtsstaates, sollen
das Gemeinwesen und die Einzelnen schützen, übrigens auch
vor dem Staat. Wenn zum Beispiel laut Bericht einer großen
Wochenzeitschrift (Spiegel v. 15.9.01) in Berlin bis zu 80
Telefonabhörbeschlüsse wegen mangelnder Kapazität
nicht vollzogen werden können, selbst wenn es sich um
Straftaten wie Mord, Totschlag oder Bildung einer kriminellen
Vereinigung handelt, dann sind das Niederlagen bei der
Verbrechensbekämpfung. Wenn das Abhören aber
alltäglich würde, überhand nähme, dann
wäre das eine Niederlage der Freiheit und der
Selbstbestimmung.
Bestehende Vorschriften müssen konsequent angewendet werden,
bevor wir über weitergehende Beschränkungen der Freiheit
diskutieren. Das ist oft leichter gesagt als getan. Zum Beispiel
benötigen wir dann viel mehr Polizeibeamte. Andererseits: zu
viel ist auch ungesund. Was auch immer wir als Beispiel
heranziehen: Der Schutz durch den Staat und der Schutz vor dem
Staat müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander
stehen. Verhältnismäßigkeit ist vertrauensbildend.
Wenn die Öffentlichkeit mehr darüber wüsste, wie
sehr sich die Polizei mit der Schwierigkeit dieses Begriffs
beschäftigt, würden manche Kritiker beruhigt. Die Polizei
weiß, dass sie sich ständig auf dem schmalen Grat
zwischen Freiheit und Sicherheit bewegt.
Die Ausstattung der Polizei, die Gehälter der Polizisten,
Mängel im Training und in der Fortbildung sind Gegenstand
berechtigter Klagen. Wir, die Gesellschaft, brauchen die Polizei,
weil sie Dinge tut, die kaum jemand gerne selbst tut, die er nicht
tun darf und nicht tun kann.
Aber die Polizei ist kein Allheilmittel. Sie hat es mit Übeln
zu tun, deren Wurzeln sie nicht beseitigen kann.
Toleranz und Rücksichtnahme, Gewaltfreiheit, friedliche
Konfliktlösung, Respekt vor dem Anderen stellen sich nicht von
selbst ein.
Bei der Begründung, bei der Stiftung dieser Werte hat die
Polizei jedenfalls keine Hauptrolle. Ein Vorbild kann sie schon
sein. Aber die eigentliche Arbeit haben hier Familie, Kirchen,
Schulen, Vereine, jeder Einzelne. Je weniger diese Mühen
fruchten, desto häufiger brauchen wir Polizei und
Strafjustiz.
Ich widme mich all diesen Problemen hier vor Ihnen, weil es Ihre
Probleme sind. Sie belegen, Polizist ist nicht einfach ein Job. Sie
verdienen nicht nur gute Arbeitsbedingungen, angemessene soziale
Rahmenbedingungen, brauchen nicht nur "innere Einheit"
einschließlich der Überwindung des leidigen, immer noch
existierenden Besoldungsgefälles innerhalb Deutschlands: Nein,
Sie verdienen auch den Dank und die Anerkennung des Deutschen
Bundestages für Ihre schwere Arbeit. Den überbringe ich
gern.
Dank und Anerkennung sowie angemessener gesellschaftlicher Status
stellen sich nicht von selber ein. Man braucht eine
Interessenvertretung. Die Polizeigewerkschaft im Deutschen
Beamtenbund ist eine, die sich bewährt hat. Zum Jubiläum
wünsche ich Ihnen weiterhin viel Erfolg."