88. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen guten Morgen und gute Beratungen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten können, müssen wir fünf vom Deutschen Bundestag in den Stiftungsrat der neu errichteten Bundesstiftung Baukultur zu entsendende Mitglieder wählen. Von den Fraktionen sind dafür vorgeschlagen: die Kollegin Renate Blank für die Fraktion der CDU/CSU, die Kollegin Petra Weis für die Fraktion der SPD, der Kollege Joachim Günther für die Fraktion der FDP, die Kollegin Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke und die Kollegin Undine Kurth für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Ich höre jedenfalls keinen Widerspruch dazu. Dann sind die genannten Damen und der Kollege Joachim Günther in den Stiftungsrat der Bundesstiftung Baukultur gewählt.
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen teilt mit, dass für den kürzlich aus dem Deutschen Bundestag ausgeschiedenen Kollegen Matthias Berninger die Kollegin Kerstin Andreae ordentliches Mitglied im Beirat der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen werden soll. Sind Sie auch mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die Kollegin Kerstin Andreae in den Beirat der Bundesnetzagentur gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Haltung der Bundesregierung zur Raketenstationierung in den Ländern Osteuropas (siehe 87. Sitzung)
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 27)
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Fahrpersonalgesetzes
- Drucksache 16/4691 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Chancen für Frauen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verbessern
- Drucksache 16/4737 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Zustand der Deutschen Bahn AG vor dem Börsengang
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam Gruß, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rücknahme der Vorbehaltserklärung der Bundesrepublik Deutschland zur Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen
- Drucksache 16/4735 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auswärtiger Ausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bodenschutzrahmenrichtlinie aktiv mitgestalten - Subsidiarität sichern, Verhältnismäßigkeit wahren
- Drucksache 16/4736 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 8, 12 a und 15 werden abgesetzt und der Tagesordnungspunkt 19 b zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 4 beraten. Außerdem ist zum Tagesordnungspunkt 12 b eine Aussprache nicht mehr vorgesehen. Er soll bei den Beratungen ohne Aussprache behandelt werden. Durch die Absetzungen und Verschiebungen ergeben sich Auswirkungen auf die Reihenfolge der Tagesordnungspunkte. Die Tagesordnungspunkte 10, 14, 16 und 18 werden jeweils vorgezogen und nach den Tagesordnungspunkten 7, 9, 11 und 13 aufgerufen.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir nun in die Tagesordnung eintreten, möchte ich darauf hinweisen, dass heute auf den Tag genau vor 175 Jahren Johann Wolfgang von Goethe gestorben ist.
Da in einem beachtlichen Teil des deutschen Feuilletons in den vergangenen Tagen die ausdrückliche Besorgnis geäußert wurde, dass die deutsche Öffentlichkeit davon nicht einmal Kenntnis nimmt, will ich dem durch ausdrückliche Erwähnung entgegentreten.
Für ein anderes ähnlich bedeutendes Ereignis muss man diese Besorgnis nicht haben, aber es verdient ganz gewiss auch Erwähnung: Gestern hat Hans-Dietrich Genscher seinen 80. Geburtstag gefeiert.
Als ich ihm gestern neben meinen persönlichen Glückwünschen die Huldigung des Deutschen Bundestages zu Füßen legen wollte, hat er gemeint, das sei doch vielleicht eher eine Übertreibung. Ich habe in Aussicht gestellt, dass sich der Deutsche Bundestag meiner Einschätzung ganz sicher mit breiter Mehrheit anschließen werde.
- Ich bedanke mich für die prompte Bestätigung und bringe meine Bewunderung vor allen Dingen für die Kolleginnen und Kollegen zum Ausdruck, die es von der gestrigen Veranstaltung rechtzeitig zur heutigen Sitzung geschafft haben.
Damit rufe ich jetzt endlich den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
50. Jahrestag der Römischen Verträge
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll diese Aussprache zwei Stunden dauern. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren für die SPD-Fraktion.
Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie mich meine Rede mit einem Traum beginnen. Es ist Jeremy Rifkins Traum von Europa, der Traum eines Amerikaners. Ich darf zitieren:
Der europäische Traum stellt Gemeinschaftsbeziehungen über individuelle Autonomie, kulturelle Vielfalt über Assimilation, Lebensqualität über die Anhäufung von Reichtum, nachhaltige Entwicklung über unbegrenztes materielles Wachstum, spielerische Entfaltung über ständige Plackerei, universelle Menschenrechte und die Rechte der Natur über Eigentumsrechte und globale Zusammenarbeit über einseitige Machtausübung.
Wenn Rifkin von diesem europäischen Traum spricht, dann meint er nicht, dass es sich um eine irreale Vorstellung handelt, sondern dass dieses Europa, diese EU wirklich traumhaft ist. Mancher von uns mag von ungläubigem Staunen erfasst sein. Mancher mag mitleidig lächeln. Das soll die EU sein? Unser bürokratisches, schwerfälliges Monster, das so weit von den Bürgern entfernt und so wenig durchschaubar ist? Diese EU, die ein großer, aber kalter gemeinsamer Markt ist? Ja, die EU ist mehr als Kohle und Stahl, Agrarsubventionen und Chemikalienrichtlinie.
Der 50. Geburtstag der Römischen Verträge ist Anlass, innezuhalten, um sich der Anfänge zu erinnern, Bilanz zu ziehen und nach vorne zu schauen. Schon im 19. Jahrhundert sahen vereinzelte Visionäre die Zukunft unserer europäischen Nationalstaaten in einem geeinten Europa. Die SPD sprach in ihrem Heidelberger Programm bereits 1925 von der zwingend gewordenen Schaffung einer europäischen Wirtschaftseinheit und der Bildung der Vereinigten Staaten von Europa.
Doch die Schrecken des Ersten Weltkrieges hatten noch nicht ausgereicht, um die Menschen zusammenzuführen. Erst die Barbarei des Nationalsozialismus mit ihren schrecklichen Folgen - Tod und Leid von Millionen Menschen, die Zerstörung altehrwürdiger Städte und hochleistungsfähiger Industrien - schuf die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Die Gründungsväter der europäischen Vereinigung haben teilweise schon während des Zweiten Weltkrieges Ideen entwickelt, wie Europa nach den nationalistischen Verirrungen zu einem neuen Selbstverständnis, zu Sicherheit, Frieden, Freiheit, Mobilität und wirtschaftlichem Wohlstand finden könnte.
Robert Schuman, de Gaulle und Konrad Adenauer haben dann der Versöhnung und der Zusammenarbeit im gemeinsamen Interesse den Vorrang gegeben. Die Anfänge waren schwierig und setzten das politisch Notwendige und Mögliche um. Nach Bildung der Montanunion scheiterte die europäische Verteidigungsgemeinschaft, die in eine politische Gemeinschaft eingebettet sein sollte, am Veto der französischen Nationalversammlung. Dennoch machten die Pragmatiker weiter. Inspiriert von den Europavisionen wurden am 25. März 1957 die Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Euratom unterzeichnet.
War die europäische Integration nur vom wirtschaftlichen Interesse der großen Realisten geprägt? Im Gegenteil: Sehr mutige, weitreichende politische Visionen haben dazu geführt, dass sechs Länder bereit waren, die nationale Souveränität in einigen Bereichen auf die europäische Ebene zu übertragen. Dabei erklärt Jean Monnet die sogenannte Gemeinschaftsmethode folgendermaßen: ?Wir vereinigen keine Staaten, sondern Menschen.“ Manchmal frage ich mich, ob diese Regel Jean Monnets heute vergessen ist.
Da der Fortschritt bekanntlich eine Schnecke ist, lösten sich integrationspolitische Erfolge mit Krisen und Reformversuchen ab. Aber mit der Einheitlichen Europäischen Akte sowie den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza haben sich die Mitgliedstaaten immer stärker integriert und parallel dazu die Gemeinschaft in mehreren Beitrittswellen vergrößert, bis mit den letzten Erweiterungsrunden die Teilung Europas aufgehoben wurde.
Mit dem Aufbegehren der Bürgerinnen und Bürger der Staaten in Mittel- und Osteuropa und dem Zusammenbruch der UdSSR wurde der Eiserne Vorhang niedergerissen. Das mutige Engagement unserer Nachbarn in Mittel- und Osteuropa hat einen außerordentlich großen Beitrag geleistet, die jahrzehntelange Spaltung Europas zu überwinden.
Am 1. Mai 2004 und zuletzt am 1. Januar 2007 haben sich abermals ehemals verfeindete Nationen die Hand gereicht. Ich will diese Gelegenheit nutzen, Hans-Dietrich Genscher zu danken, der in der Tat große Verdienste um die Vereinigung Europas erworben hat, ebenso wie Egon Bahr, der vor wenigen Tagen seinen 85. Geburtstag gefeiert hat und dem ich von dieser Stelle aus alles Gute wünschen möchte.
Ist mit diesen europäischen Fortschritten der europäische Traum Rifkins tatsächlich Wirklichkeit geworden? Der Vereinigung der europäischen Staaten liegt der Paradigmenwechsel zugrunde, dass die Gemeinschaftsbeziehungen im Vordergrund der europäischen Politik stehen, ja dass die Zusammenarbeit mehr Erfolg bringt als die Verfolgung von Einzelinteressen. Dieses Denken ist nicht nur ein Grundelement der bewährten europäischen Sozialsysteme, sondern es prägt das Solidarprinzip in der EU. Es lohnt sich für alle, wenn mithilfe der Kohäsionsfonds den schwächeren Mitgliedstaaten Unterstützung beim Aufholprozess gegeben wird.
Wie steht es mit der Lebensqualität? Ist sie mehr als die von Rifkin genannte Anhäufung von Reichtum? Nun, der Wohlstand gehört zur Lebensqualität dazu. Er ist in allen Mitgliedstaaten gestiegen. Aber Rifkin hat recht: Lebensqualität ist mehr. Sie bedeutet gerechte Verteilung des Reichtums. Sie heißt gleiche Chancen für alle, Zugang zu Dienstleistungen der Daseinsvorsorge sowie zu Bildung und beruflichem Erfolg. Sie beinhaltet wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Teilhabe. Kurz: Es handelt sich um das europäische Gesellschaftsmodell, das gleichzeitig Voraussetzung und Ergebnis des erfolgreichen Integrationsprozesses in der EU ist. Wenn Rifkin von der Nachhaltigkeit anstelle von unbegrenztem materiellem Wachstum in Europa spricht, dann macht er darauf aufmerksam, dass es darum geht, weder auf Kosten bestimmter Gruppen in der Gesellschaft noch auf Kosten der nachwachsenden Generationen noch auf Kosten der natürlichen Ressourcen das Wachstum voranzutreiben. Genau dafür sorgt die EU, wenn sie ihren Mitgliedern vorschreibt, niemanden zu diskriminieren, den Aufbau von Schulden zu begrenzen sowie weder Luft, Wasser und Boden zu belasten noch die Ressourcen zu erschöpfen.
Ich bin froh, dass wir trotz der Vereinheitlichung von Regeln und Industrienormen unsere reiche kulturelle Vielfalt bewahren konnten. Ich gebe Rifkin recht: Nicht Assimilation darf das Ziel der Zusammenarbeit sein. Das Wichtigste ist vielmehr, dass sich eine gemeinsame europäische Identität und nationale, regionale, lokale Identitäten nicht ausschließen.
Zum Reichtum Europas gehören die Werke Goethes, aber auch zum Beispiel die ?Unfrisierten Gedanken“ von Stanislaw Lec oder die Skulpturen von Niki de Saint Phalle.
Die EU ist der Raum, der in besonderer Weise die Einhaltung der universellen Menschenrechte einfordert. Schon in den Römischen Verträgen 1957 wurde die Gleichstellung von Männer und Frauen - gleicher Lohn für gleiche Arbeit - zum gewichtigen Programmpunkt der EU. Die jüngst auch bei uns in nationales Recht umgesetzte Antidiskriminierungsrichtlinie ist Ausfluss dieser Zielstellung.
Menschenrechtliches Engagement genauso wie die Menschenrechtspolitik wurde zum Bezugspunkt für das auswärtige Engagement der EU, die in besonderer Weise Vorbild für viele Regionen in der Welt ist, auch weil sie mithilft, in Konfliktregionen durch multilaterales Engagement demokratische, soziale und wirtschaftliche Strukturen aufzubauen. Ich bin überzeugt, dass der Außenminister und auch mein Kollege Michael Roth auf die Aspekte der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eingehen werden.
Ich will hier darauf aufmerksam machen, dass die EU vor neuen Herausforderungen steht. So erfolgreich die Globalisierung bei der weltweiten Wohlstandssteigerung in der Summe ist, so ungleich ist der Reichtum verteilt. Der Klimawandel ist eine nicht mehr zu übersehende Gefahr, und die Weltgemeinschaft muss sich rasch auf Gegenstrategien verständigen. Es hat sich gezeigt, dass auch Europa durch den Terrorismus verwundbar ist. Regionale Konflikte wie zum Beispiel im Nahen Osten oder in Afrika verlangen nach einer Lösung. Die EU hat die Verantwortung, sich all diesen Herausforderungen zu stellen. Hohe Erwartungen werden an uns gerichtet, übrigens nicht nur von außen, sondern auch von unserer eigenen Bevölkerung. Circa 80 Prozent unserer Bevölkerung erwarten, dass die EU mittels der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Lösungen für die existierenden Probleme findet.
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten aber auch, dass dann, wenn die Nationalstaaten die Probleme nicht mehr lösen können, zum Beispiel wenn es um die Unterschreitung menschenwürdiger sozialer Standards oder Fragen der Nachhaltigkeit geht, die EU den Herausforderungen gerecht wird. Es ist aber auch nicht zu leugnen, dass sich die Bürger fragen, ob die EU derzeit in der Lage ist, die ihr gestellten Aufgaben zu erfüllen. Damit verweisen sie auf eine tatsächlich existierende Reformnotwendigkeit. Mit dem Verfassungsvertrag, der nach dem Vertrag von Nizza entwickelt wurde, sollte der Versuch unternommen werden, genau diese Defizite aufzuarbeiten. Er ist der zurzeit bestmögliche Kompromiss zur zukünftigen Gestaltung der Union, aber wie wir alle wissen, ist die Ratifizierung derzeit blockiert. Der Vertrag würde die Entscheidungsfähigkeit verbessern, die Transparenz erhöhen, die rechtlichen Grundlagen vereinfachen, mehr Demokratie und den Schutz der Grundrechte und der sozialen Rechte ermöglichen. Das ist eine gute Grundlage für die Zukunft der EU. Ich bin überzeugt, dass Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier alles tun werden, damit die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ihrem Auftrag gerecht wird, einen Fahrplan für eine erfolgreiche Verabschiedung eines Verfassungsvertrages vorzulegen.
Die Berliner Erklärung, die an diesem Wochenende unterzeichnet werden soll, wird deshalb nicht nur die Erfolge der EU feiern, sondern sie wird uns auch Mut machen, uns auf der Grundlage der uns verbindenden Werte den Herausforderungen zu stellen und die Union so fortzuentwickeln, dass sie im Einvernehmen mit ihren Bürgerinnen und Bürgern diesen Herausforderungen gerecht wird. Für Jean Monnet bestand die neue Devise 1950 darin - ich zitiere -: ?ein gemeinsames Werk zu vollbringen, nicht um Vorteile auszuhandeln, sondern um unseren eigenen Vorteil im gemeinsamen Vorteil zu suchen.“ Als mutige und verantwortungsvolle Politiker müssen wir uns öfter an diese alte ?neue Devise“ erinnern.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Vorsitzende der FDP-Fraktion Dr. Guido Westerwelle.
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst einmal: Wir feiern am Wochenende einen 50. Geburtstag, nämlich den 50. Geburtstag Europas. Ich meine, das darf der Deutsche Bundestag durchaus mit Freude zum Ausdruck bringen.
Das ist eine wunderbare Angelegenheit. Man darf sagen - das finde ich jedenfalls -: Wenn es Europa nicht gäbe, dann müssten wir es dringend erfinden. Auch dann, wenn Europa nicht mehr als 50 Jahre Frieden bei uns gebracht hätte, hätte es sich schon gelohnt.
Frau Kollegin, ich möchte an das anknüpfen, was Sie zu Recht gesagt haben. Sie haben Egon Bahr erwähnt. Ich denke an Egon Bahr und an viele andere, zum Beispiel an Hans-Dietrich Genscher. Außerdem denke ich an die Generation, die noch erlebt hat, warum Europa einmal aufgebaut und gebaut worden ist. Es ist nämlich keine Selbstverständlichkeit, dass wir auf unserem Kontinent eine so lange Friedensepoche haben. Manche reden über Europa, als wäre es lediglich eine Angelegenheit von Bürokraten. Es ist zunächst einmal eine Angelegenheit der Menschen.
Dass die Menschen sich hier, auf unserem Kontinent, nicht mehr umbringen, das ist auch ein Ergebnis europäischer Friedenspolitik.
Es ist übrigens nicht nur eine Angelegenheit derer, die Europa einmal gegründet haben, also der Generation, die den Krieg noch erlebt hat, sondern auch derjenigen, die der Generation danach angehören, oder auch derjenigen, die heute jung sind. Sie erleben Europa, und sie erleben auch die Freude, die Europa bereitet. Manchen ist gar nicht mehr bewusst, dass es zum Beispiel etwas Besonderes ist, dass man von einem Land in ein anderes reisen kann und nicht stundenlang mit Grenzkontrollen aufgehalten wird, dass man ohne Vorurteile durch Europa reisen kann und dass man in anderen europäischen Ländern auch von Gleichaltrigen - das sage ich den jüngeren Menschen - mit Freude empfangen wird. Das ist alles keine Selbstverständlichkeit.
Diejenigen, die in meinem Alter sind, die also in den 60er-Jahren Kind waren und die in den 70er-Jahren zur Schule gegangen sind, haben zum Beispiel noch erlebt, wie man von der älteren Generation in Frankreich behandelt worden ist, und zwar verständlicherweise. Als ich als Schüler mit dem Zelt in der Bretagne unterwegs gewesen bin, habe ich erlebt, wie eine ältere Dame, deren Mann durch den Krieg und auch uns Deutsche umgebracht worden ist, sich geweigert hat, einen jungen Deutschen zu bedienen; sie brach in Tränen aus. Ich kann nur sagen: Europa ist erfunden worden, damit so etwas nie wieder passiert. Dass die Menschen friedlich zusammenleben, ist in Wahrheit die riesige Errungenschaft unserer Zeit.
Das sind keine Selbstverständlichkeiten. Meiner Meinung nach muss man sich vielmehr vor Augen führen, dass man gegenüber denen, die Europa einmal aufgebaut haben, Dankbarkeit zum Ausdruck bringen sollte. Ich wiederhole: Das ist alles keine Selbstverständlichkeit.
Dass es Schwierigkeiten gibt, das ist doch gar keine Frage. Die Frage ist nur: Ist Europa dafür verantwortlich, dass es mehr Schwierigkeiten gibt, oder ist Europa eher ein Beitrag, auch diese Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen? Wir neigen definitiv zur zweiten Ansicht.
Nehmen wir doch einmal das, was Sie, Frau Kollegin, zu Recht erwähnt haben, nämlich die weltweiten Veränderungen durch die Globalisierung. Wenn es etwas gibt, was eine Antwort auf die mit der Globalisierung verbundenen Fragen ist, dann ist es doch gerade die Europäische Union. Wir haben jetzt einen europäischen Binnenmarkt mit fast 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger geschaffen. Das ist die Reaktion auf die verstärkte Konkurrenz durch die Globalisierung. Das ist eine ökonomische und soziale Chance. Die Wohlstandsfrage, auch für uns Deutsche, ist in Wahrheit: Sind wir bereit, uns mit anderen Ländern zusammenzufinden und einen großen Binnenmarkt zu schaffen?
Das wird keiner allein können.
Mancher hat den Eindruck, die große Konkurrenz sei jetzt der polnische Fliesenleger oder der tschechische Handwerker. Das, was damit verbunden ist, sind in Wahrheit vielmehr Chancen. Ich sage ausdrücklich: Auch die Osterweiterung Europas ist in Wahrheit eine viel größere Chance. Wer meint, dass Deutschland schon durch die Konkurrenz durch osteuropäische Handwerker Schwierigkeiten bekomme, dem ist möglicherweise nicht klar, was durch die Globalisierung etwa aus China oder aus anderen asiatischen Ländern noch auf uns zukommt. Das sind unsere Bewährungsproben; das sind unsere Chancen. Es ist in Wahrheit unsere ökonomische Lebensversicherung, auf die wir als Reaktion auf die Veränderungen in der Welt angewiesen sind.
Es ist eben nicht so, dass Deutschland zuerst Zahlmeister ist - das ist ein gern gepflegtes Vorurteil -; Deutschland ist - bei allem, was auch auszusetzen ist - zuallererst der größte Gewinner der europäischen Einigung einschließlich der Erweiterung der Europäischen Union.
Schließlich müssen wir uns natürlich auch darüber unterhalten - das kann man an einem solchen Tag nur kursorisch tun -, was verändert werden muss, was auch bewegt werden kann, beispielsweise durch die Berliner Erklärung. Ich fände es sehr gut, Herr Bundesaußenminister - ich spreche Sie an, weil Sie heute Vormittag noch das Wort ergreifen werden -, wenn Sie den Deutschen Bundestag an den Überlegungen zur Berliner Erklärung teilhaben ließen. Wenige Stunden vor Verabschiedung der Berliner Erklärung wäre es angemessen, dass Sie uns als Parlament über den Stand der Überlegungen informieren. Es ist eben nicht ein Europa der Regierungschefs, was wir wollen; es ist ein Europa der Völker, und die Volksvertreter sitzen hier.
Ich halte es gleichzeitig für notwendig, dass wir von Ihnen etwas über den europäischen Verfassungsprozess erfahren. Ich habe gar keinen Zweifel daran, dass Sie den wollen, das Beste hier tun und sich entschieden dafür einsetzen. Auch dazu wollen wir mehr wissen, als dass Sie beabsichtigen, einen Fahrplan festzulegen.
Wir müssen doch hier darüber reden: Wollen wir diese Verfassung? Ich vermute, eine riesige Mehrheit im Deutschen Bundestag will eine gemeinsame europäische Verfassung. Wenn wir eine gemeinsame europäische Verfassung wollen, müssen wir uns vor dem Hintergrund der bislang gescheiterten Referenden allmählich auch in diesem Hause darüber unterhalten: Wie soll denn die zu verabschiedende Verfassung aussehen? Soll der alte Vertrag Gegenstand sein? Soll ein neuer Vertrag kommen? Wird der Vertrag abgespeckt? Wird er erweitert? Auch über den Stand dieser Überlegungen sollten Sie mit dem Deutschen Bundestag ins Gespräch kommen, meine sehr geehrten Damen und Herren der Bundesregierung.
Ich möchte die europäische Verfassung natürlich auch deswegen erwähnen, weil wir damit eine hervorragende Chance haben, Defizite, die es gibt, die doch auch jeder sieht, anzugehen. Es hat eine Debatte dazu gegeben, angestoßen nicht nur von dem von mir hochgeschätzten früheren Bundespräsidenten Roman Herzog. Ich teile nicht alles, was er gesagt hat, aber er hat doch ein, wie ich finde, ganz wichtiges Ausrufezeichen gesetzt. Die Frage ist doch: Was ist in einem erweiterten, größeren Europa die demokratische Legitimation der europäischen Entscheidungen? Dafür brauchen wir einen Verfassungsprozess. Das ist notwendig.
Zur Demokratie gehört auch demokratische Kontrolle durch das Volk und durch die Volksvertreter. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Bei mancher europäischen Entscheidung ist diese demokratische Kontrolle so weit verflüchtigt, dass durchaus von einer gewissen Abgehobenheit die Rede sein darf.
Die demokratischen Institutionen in Europa gemeinsam zu verbessern, muss meiner Meinung nach auch im Interesse der Funktionsfähigkeit Europas ein Schwerpunkt unserer Verhandlungen und unserer Überlegungen zum Verfassungsvertrag sein.
Schließlich möchte ich auf eine Sache eingehen, die aus meiner Sicht von großer Bedeutung ist, gewissermaßen zurück zu den Anfängen, zurück zu dem, warum wir alle ja vermutlich begeisterte Europäer sind. Bei allem, was man auch kritisch sehen muss: Es ist letzten Endes ein riesiger Gewinn für uns. Schon dann, wenn man sich wenige Stunden von Europa wegbewegt, weiß man, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist. Wir leben in einem friedlichen, in einem freien Europa. Wir leben alles in allem in einem Europa, das für Rechtsstaatlichkeit vorbildlich in der Welt ist. Wir leben in einem Europa, in dem wir uns wirklich darüber freuen dürfen, dass die Mütter und Väter vor uns dies geschaffen haben.
Aber, meine Damen und Herren, wir stehen natürlich auch vor neuen Herausforderungen. Eine Herausforderung, gerade im Zeichen weltweit neuer Unsicherheiten, ist zum Beispiel die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Ich will hier als Vertreter der liberalen Oppositionsfraktion Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, ausdrücklich sagen: Zu den Worten, die Sie zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bei Ihrer wirklich höchst schwierigen Reise in Polen gefunden haben, gratulieren wir. Sie finden dafür ausdrücklich auch unsere Unterstützung. Wir wollen eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Wir wollen keine Renationalisierung, von wem auch immer. Wir müssen eine Spaltung Europas in der Außen- und Sicherheitspolitik verhindern. Deswegen ist die Raketenstationierung, die dort geplant wird, außerordentlich kritisch zu betrachten.
Spätestens nach dem, was Präsident Putin in München vorgetragen hat - der Kollege Schockenhoff und andere waren dabei und haben das gehört -, weiß man, dass die Gefahr, dass eine neue Rüstungsspirale entsteht, groß ist. Wenn wir eine neue Rüstungsspirale verhindern wollen, muss man die Ausführungen von Präsident Putin ernst nehmen, aber nicht alles annehmen und auch nicht alles übernehmen. Aber ernst nehmen muss man die Dinge, die passieren, weil die meisten Rüstungsspiralen zunächst aus großem Misstrauen entstanden sind. Man denke daran, was in den 80er-Jahren die Rüstungsspirale ausgelöst hat. Die Irrtümer, die damals bei den - mit Verlaub gesagt - Reaganomics eine Rolle gespielt haben, muss man ja in unserer Zeit nicht wiederholen. Das sollten wir an dieser Stelle auch einmal festhalten. Niemals ist etwas eins zu eins vergleichbar, aber gewisse Erinnerungen ruft das schon wach.
Wenn es so ist, dass wir im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft für ein gemeinsames starkes Auftreten Europas in der Welt sorgen wollen, dann ist es schon notwendig - das sage ich mit allem Respekt -, dass die Regierung und die Regierungskoalition selbst bei so einer fundamentalen Friedensfrage einig sind. Es ist schwierig für eine Regierung, eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu verlangen, wenn die Einigkeit schon in der eigenen Regierungskoalition gewisse Grenzen findet. Das habe ich in Anbetracht des schönen Tages diplomatisch formuliert, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Wir haben uns aus unserer Sicht über Europa nicht zu beklagen, ganz im Gegenteil. Dieses Geburtstagsfest sollten wir mit den Bürgerinnen und Bürgern feiern. Für die Bürger in Deutschland war Europa nämlich mit Sicherheit eines der besten Dinge, die passieren konnten.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Rückblick auf 50 Jahre Römische Verträge macht Mut für den Blick nach vorn. 50 Jahre Europäische Union stellen eine Erfolgsgeschichte dar. Die Motive der Gründungsväter waren die Sicherung von Frieden und Sicherheit, von wirtschaftlichem Wohlstand, das Wahrnehmen globaler Verantwortung und nicht zuletzt die Schaffung einer gemeinsamen Identität.
Es war die Bedrohung durch die Sowjetunion mit ihrer expansionistischen Ideologie, gegen die jeder einzelne Staat in Europa zu schwach und zu klein erschien. Daher war die Bildung einer Gemeinschaft in Westeuropa in Verbindung mit der Garantie durch die USA im Rahmen der NATO die existenzielle Grundlage für unsere Sicherheit.
Eng verbunden mit dem Sicherheitsinteresse war von Anfang an die Friedens- und Freiheitsvision. Heute, 50 Jahre später, ist mit der Aufnahme von zwölf mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten die widernatürliche Teilung Europas endgültig überwunden. Das ist der größte Erfolg der Europäischen Union.
In wenigen Wochen des Herbstes 1989 führten die Demonstranten in Budapest, Ostberlin, Leipzig und Prag der EG vor Augen, dass sie für Millionen von Menschen ein Ideal darstellt. Sie war nicht nur ein Raum des wirtschaftlichen Wohlstandes, sondern ein politisches Gebilde, dessen Werte sie teilen wollten und zu dessen Kultur sie sich zugehörig fühlten. Das haben hier bei uns seinerzeit nicht alle erkannt. Dass es der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl erkannt hat, ist seine historische Leistung und war ein Glücksfall für Europa.
Europa erlangte seine Einheit deshalb wieder, weil es von Anfang an auf Freiheit und Demokratie setzte. Aus der Wirtschaftsgemeinschaft wurde eine Sicherheitsunion mit dem Schengensystem, einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und einer gemeinsamen Verteidigung, deren sichtbarster Ausdruck die Battle-Groups als Vorläufer einer europäischen Armee sind.
Natürlich brauchen wir - da teile ich Ihre Auffassung völlig, Herr Westerwelle - in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik mehr gemeinsamen Willen für entschiedenes gemeinsames Handeln. Natürlich muss Europa seine militärischen Fähigkeiten weiter verbessern. Aber schon heute nimmt die Europäische Union nicht nur als eine globale Wirtschaftsmacht, sondern auch als ein wichtiger sicherheitspolitischer Akteur ihre Interessen international erfolgreich wahr. Auch das ist Teil der europäischen Erfolgsgeschichte.
Dazu gehört auch der Euro. Bis zu seiner Einführung wurden durch Spekulationen und Währungsschwankungen Finanz- und Wirtschaftskrisen ausgelöst, gingen Arbeitsplätze verloren, musste die Bundesbank nicht selten massiv intervenieren, entstanden erhebliche volkswirtschaftliche Verluste. Das alles ist heute nicht mehr der Fall. Deswegen war es richtig, die Stabilitätskriterien einzuführen, und deswegen ist es richtig und notwendig, dass wir alles tun, sie wieder dauerhaft einzuhalten.
Meine Damen und Herren, Europa voranbringen zu wollen, bedeutet besondere Verpflichtungen für Deutschland; denn wir sind der größte Staat in der Europäischen Union. Deutsche Europapolitik war immer dann erfolgreich, wenn sie auf einer engen und partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den EU-Staaten und auf einer vertrauensvollen Partnerschaft zwischen Europäern und Amerikanern aufbauen konnte. Beides war immer die Maxime deutscher Außenpolitik.
Deutschland und Frankreich waren der Motor des Einigungsprozesses, und sie müssen und werden es auch weiterhin sein. Wann immer Deutschland und Frankreich sich nicht einig waren, lief nichts in der EU; wenn sie sich einig waren, kam Europa voran.
Das jüngste Beispiel, Frau Bundeskanzlerin, war der letzte EU-Gipfel. Er wurde in dem Moment zum Erfolg für den globalen Umweltschutz, als es Ihnen gelungen ist, Frankreich für die Klimaschutzziele zu gewinnen. Dann lenkten auch andere EU-Partner ein. Das war gut für Europa und gut für den Klimaschutz.
Außerdem ist es für eine erfolgreiche Europapolitik wichtig, die mittleren und kleinen Staaten rechtzeitig zu konsultieren und einzubinden. Das ist bei 26 Partnerstaaten mühsam und schwierig. Aber es ist, wie es diese Bundesregierung beweist, möglich. Nichts ist kontraproduktiver für die EU - auch diese Erfahrung haben wir leider schon gemacht -, als wenn die Großen eine Politik über die Köpfe der mittleren und kleinen Staaten hinweg betreiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um den Weg zum Zusammenwachsen unseres Kontinents zu ebnen, muss Europa vor allem eine Antwort auf die Frage nach seiner eigenen Identität geben. Je größer und unüberschaubarer die EU wird, desto mehr fragen die Menschen: Was macht die Europäische Union aus? Wozu brauchen wir sie? Worin bleibt die Europäische Union im permanenten Wandel sich selbst gleich und von anderen unterscheidbar? Es ist die Frage von uns Europäern nach uns selbst. Die europäische Identität ist das Ergebnis eines Jahrhunderte währenden Kulturprozesses der Differenzierung wie der Vereinheitlichung, bestimmt von der ausgeprägten Vielfalt der Nationen auf engem Raum, der Kreativität ihrer Kulturen und dem Zusammentreffen einer Vielzahl historischer, geografischer und kultureller Besonderheiten: jüdisch-christliche Prägung, Pluralität und Koexistenz der Konfessionen, griechische Philosophie, römisches Recht, Humanismus, Reformation und Aufklärung, Wissenschaft und Technik, Gemeinsamkeiten in Architektur, Musik, Literatur, gemeinsame Geschichte einschließlich der vielen Kriege, die neuzeitlichen Freiheitsbewegungen und die Grundüberzeugung einer sozialen Verantwortung mit dem Aufbau des Sozialstaates in einer sozialen Marktwirtschaft.
Aus dieser Vielfalt ergeben sich Spannungen. Dennoch wollen wir den mit der Globalisierung einhergehenden politischen und kulturellen Wandel erfolgreich gestalten. Dafür sehe ich sechs Aufgaben.
Erstens. Wir müssen wieder deutlicher ins Bewusstsein der Bürger bringen, dass das Handeln der EU nicht nur im Innern, sondern gerade nach außen auf unseren Werten beruht. Unser Eintreten für Frieden, Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit ist für die Ärmsten der Armen, für die bedrohten Völker und Menschen entscheidend. Es ist aber auch für die Wahrung unserer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen in der künftigen weltpolitischen Ordnung von zentraler Bedeutung. Deshalb müssen wir unseren Bürgern deutlich machen, dass unsere EU-Entwicklungshilfe, unsere finanzielle Hilfe für die Palästinenser, unser Einsatz in Afrika oder unser Einsatz in Afghanistan werteorientiertes Handeln ist.
Zweitens. Die EU muss erfolgreich sein. Die Bürger müssen noch mehr als bisher die Erfahrung machen, dass die EU als Ganzes besser als ihre einzelnen Mitgliedstaaten in der Lage ist, länderübergreifende und globale Herausforderungen zu bewältigen. Der Erfolg für den Klimaschutz auf dem letzten EU-Gipfel - ich habe es bereits erwähnt - ist eine solche Erfahrung. Es geht darum, auch im Zeitalter der Globalisierung das Ordnungsprinzip der sozialen Marktwirtschaft zu wahren. Es geht darum, Terrorismus und internationale Kriminalität erfolgreich zu bekämpfen oder mit einer europäischen Energiepolitik, die jetzt beschlossen wurde, im weltweiten Wettbewerb eine bezahlbare Energieversorgung zu sichern.
Drittens. Je größer die Europäische Union wird, desto mehr muss sie sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren. Sie ist nicht zuständig für Fragen, die auf der nationalen oder regionalen Ebene bürgernäher geregelt werden können. Wenn sich dies für den Bürger in der täglichen Praxis widerspiegelt, führt dies auch zur Stärkung der europäischen Identität.
Viertens. Die Verbesserung der Entscheidungsfähigkeit und eine stärkere Differenzierung der EU werden, so paradox dies auf den ersten Blick erscheinen mag, identitätsstiftend wirken. Nur wenn die EU zügig entscheiden und handeln kann, wird sie im globalen Wettbewerb Erfolg haben. Was bewirkt mehr Identität als der gemeinsame Erfolg?
Fünftens. Zur Identität gehört auch eine Klärung der Frage, wo die Grenzen der Europäischen Union liegen. Die im Verfassungsvertrag formulierte Perspektive ?Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, sie gemeinsam zu fördern“ ist eine Antwort. Sie gilt grundsätzlich für alle europäischen Staaten. Es wird aber in jedem Einzelfall im Zusammenhang mit der vollständigen Erfüllung der Beitrittskriterien zu bewerten sein, ob und wieweit die EU aufgrund ihrer inneren Entwicklung die Aufnahme weiterer europäischer Staaten verkraften kann. Nur so werden wir auf die Sorge der Bürger vor Unüberschaubarkeit und Grenzenlosigkeit der Europäischen Union eine überzeugende Antwort geben.
Sechstens. Zur Identität der Europäischen Union gehört nicht zuletzt auch eine emotionale Bindewirkung. Die Öffnung der Grenzen hatte das bewirkt. Die Europaflagge und der Euro leisten einen Beitrag dazu. Ich will dies ausdrücklich erwähnen: Auch Hochtechnologieprojekte bewirken eine emotionale Bindewirkung, wie dies etwa bei der Ariane und trotz aller Diskussionen, die wir zurzeit führen, auch beim Airbus der Fall war. Umso mehr muss es uns darum gehen, dass dies auch bei anderen Projekten gelingt. Ich nenne beispielsweise das Galileo-Projekt, ein Projekt, das uns nicht nur aus technologischen, sondern auch aus politischen Gründen wichtig sein muss und das im Sinne der Selbstbehauptung Europas gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika durchaus identitätsstiftend sein kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zeitalter der Globalisierung ist Europa die Bedingung für unseren Erfolg. Ich habe es eingangs gesagt - die Frau Kollegin Schwall-Düren und der Herr Kollege Westerwelle haben es ebenfalls gesagt -: 50 Jahre Europäische Union sind Grund genug, stolz zu sein, sind Grund genug, nach vorne zu schauen und sich anzustrengen, aber auch Mut zu haben, die vor uns liegenden Aufgaben gemeinsam anzugehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun erhält das Wort der Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Dr. Gregor Gysi.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor 50 Jahren wurden die Römischen Verträge geschlossen und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gebildet. Sie hatte ursprünglich drei Ziele: Erstens wollte man eine gemeinsame ökonomische Stärke - auch gegenüber dem sowjetischen Bereich - herausarbeiten. Man muss sagen: Das ist wohl ganz gut gelungen. Zweitens wollte man nach Faschismus und Zweitem Weltkrieg Deutschland einbinden und in gewisser Hinsicht auch unter Kontrolle nehmen. Auch das - so kann man sagen - ist ganz gut gelungen und heute so vielleicht nicht mehr nötig. Drittens wollte man keine Kriege mehr in Europa, und zwar nicht nur zwischen den Mitgliedsländern, sondern in ganz Europa nicht. Da gibt es eine unangenehme Ausnahme - das muss ich sagen -: Das ist der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Jugoslawien, der nie hätte stattfinden dürfen.
Unklar ist bis heute, ob die EWG, die inzwischen nicht mehr EWG, sondern EU, Europäische Union, heißt, ein Staatenbund oder ein Bundesstaat werden soll. Das wurde nie wirklich ausdiskutiert. Das verunsichert die Leute, weil das Ziel nicht völlig klar ist.
Zum Ende des Kalten Krieges passierte etwas, was hier schon beschrieben worden ist: Osteuropa kam hinzu. Die EU hat jetzt 27 Mitgliedsländer; das ist natürlich eine völlig andere Größe mit anderen Herausforderungen, als wir sie früher hatten. Es gibt seit 1945 positive Veränderungen in Europa - das kann man so sagen -, auf die Guido Westerwelle hingewiesen hat.
Aber wir sind nicht nur eine Wirtschaftsunion. 13 Mitgliedsländer waren damals auch an der Einführung einer Währungsunion beteiligt. Ich möchte daran erinnern, dass wir damals sagten: Euro, so nicht! Dies hieß ja nicht: Euro, nein!
Wir sagten vielmehr: Die Voraussetzungen fehlen,
nämlich eine politische Union, eine Steuerharmonisierung, Mindestlöhne sowie soziale und juristische Mindeststandards für die Bürgerinnen und Bürger. All das war und ist im Kern bis heute nicht vereinbart. Das ist das Problem der Währungsunion.
Ich sage Ihnen auch, warum: Weil dadurch Ängste entstehen. Dadurch lebte der Nationalismus in den Ländern wieder auf, und Parteien, zum Beispiel die NPD, hatten Erfolge, die wir alle hier in Deutschland nicht wollen. Deshalb müssen wir die Europäische Union in unserem gemeinsamen Interesse in Zukunft anders gestalten.
Durch den Maastrichtvertrag und die Lissabonstrategie übernahm man dann die neoliberale Ausrichtung der EU. Ich erinnere daran: Seitdem wird in ganz Europa über Privatisierung diskutiert. Ob es Stromkonzerne oder Verkehrsnetze sind - all das, was mit öffentlicher Daseinsvorsorge zu tun hat, soll Schritt für Schritt privatisiert werden. Das entmündigt die Politik. Im Bewusstsein der Menschen reduziert sich dadurch die Bedeutung der Demokratie. Denn wenn ich oder Sie Bürgermeister sein können, wir beide aber nichts mehr zu entscheiden haben, weil sowieso alles privatisiert ist, dann wird die Wahl für die Leute unwichtiger. Es geht hier also auch um Kernfragen der Demokratie.
Dann zur Deregulierung. Wir führen in Deutschland und auch in Europa seit langer Zeit die Debatte um den Kündigungsschutz. Die Zahl der befristeten Arbeitsverträge hat in Deutschland enorm zugenommen. Über 50-Jährige können immer wieder befristet eingestellt werden. Es ist die Frage: Bringt das den über 50-Jährigen etwas? Es ist dadurch kein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz entstanden. Wissen Sie, was der einzige Unterschied zwischen einem Arbeitnehmer mit einem unbefristeten und einem mit einem befristeten Arbeitsverhältnis ist? Entlassen werden können zwar beide; aber der eine hat Anspruch auf Abfindung und der andere nicht. Es geht nur ums Geld, und zwar zum Nachteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Derzeit gibt es eine Dominanz der Marktkontrolle und immer weniger gesellschaftliche Gestaltung. Dazu passt die Dienstleistungsrichtlinie, die Sie, Herr Westerwelle, wenn ich es richtig verstanden habe, ein bisschen gewürdigt haben. Sie ist ja zum Glück nicht so in Kraft getreten, wie sie ursprünglich geplant war; das muss ich hinzufügen. Sie können doch nicht im Ernst eine Richtlinie anstreben, in der gesagt wird: Rumänische Unternehmen können in Deutschland vollständig zu rumänischen Bedingungen und auch zu rumänischen Löhnen arbeiten. - Damit zerstören Sie den europäischen Integrationsgedanken.
Ich habe davon gesprochen: Es gibt keine Steuerharmonisierung. Nun ist die Frage: Wer setzt hier eigentlich wen unter Druck? Ich darf Ihnen ein Beispiel nennen. Nehmen wir doch einmal die jetzt vom Bundesfinanzminister Steinbrück von der SPD vorgeschlagene Senkung der Körperschaftsteuer. Ich bitte Sie: Der Steuersatz lag mal bei 45 Prozent, dann bei 40 Prozent und jetzt bei 25 Prozent. Nun sagt er: Die Deutsche Bank und andere Kapitalgesellschaften sollen nur noch einen Steuersatz von 15 Prozent zahlen. Im Vergleich dazu haben die drei Länder Frankreich, Großbritannien und USA - ich weiß, die USA sind nicht in der EU; Sie brauchen mich nicht zu korrigieren; ich sage es trotzdem - jeweils Körperschaftsteuersätze von 30 bis 35 Prozent. Wir setzen diese Länder doch unter Druck.
Dort werden Debatten beginnen, und man wird sagen: Die Steuersätze müssen herunter, weil Deutschland seine so senkt.
Nehmen wir die Löhne. Wenn wir etwas machen, dann machen wir es komplett, also immer zu 100 Prozent. In allen europäischen Ländern sind die Löhne in den letzten Jahren gestiegen. Nur in Deutschland sind sie in den letzten acht Jahren um 1 Prozent gesunken, was natürlich auch die Kaufkraft reduziert und damit die mittleren und kleinen Unternehmen schwächt, die auf den Binnenmarkt angewiesen sind.
Wir haben jetzt zwei Krisen: Das eine ist eine Verfassungskrise, und das andere ist eine Krise hinsichtlich der gemeinsamen Außenpolitik.
Die Verfassungskrise ist ganz klar. Es ist ein Entwurf vorgelegt worden, der Aufrüstung und auch ein weltweites militärisches Agieren der EU vorsieht. Das war ursprünglich gar nicht der Gedanke, als die Verträge vor 50 Jahren geschlossen worden sind. Es ist eine neoliberale Ausrichtung enthalten. Es gibt keine sozialen Grundrechte. Es gibt wohl politische Grundrechte, aber keine sozialen Grundrechte. Entsprechende Standards gibt es auch nicht.
Das alles hat dazu geführt, dass die Mehrheit der Französinnen und Franzosen und auch der Niederländerinnen und Niederländer Nein gesagt hat. Was nun? Jetzt wird ständig über Tricks nachgedacht, wie man das ohne Volksentscheid hinkriegt. Das ist doch nicht die Lösung! Wir müssen eine viel kürzere, eine klare, eine die Rechte stärkende Verfassung erarbeiten, alle Mitgliedsländer müssen Volksentscheide durchführen, und überall muss eine Mehrheit Ja sagen.
Dann ist es akzeptiert. Das wäre auch ein demokratischer Fortschritt in Europa.
Wo ist die Krise in der Außenpolitik entstanden? Sie ist ganz klar bei der Frage ?Irak“ entstanden. Großbritannien hat ganz klar Ja gesagt. Deutschland hat Nein gesagt. Später haben wir festgestellt, nur zu 80 Prozent; aber immerhin.
Es ist ein Verdienst. Das hat auch eine eigenständige Außenpolitik im Verhältnis zu den USA begründet. Dann ging die Spaltung durch die gesamte EU. Was soll man denn nun sagen, was die gemeinsame Außenpolitik der Europäischen Union in Bezug auf den Irak ist? Es gibt darauf keine Antwort. Das hat uns diesbezüglich weit zurückgeworfen.
Jetzt kriegen wir - das ist nicht vergleichbar - wieder eine solche Spaltung in Bezug auf die Raketenaufstellung in Polen und Tschechien. Bei dieser Frage denkt und handelt die EU wiederum nicht einheitlich. Ich denke, wir stimmen überein, dass wir eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik brauchen. Dafür muss man eine Menge tun.
Die europäische Integration - das ist ja eine Ausnahme - ist das Einzige, was alle Fraktionen in diesem Haus wollen.
Das ist übrigens etwas, worüber man ernsthaft nachdenken muss. Aber die Frage ist, wie wir sie viel besser hinkriegen. Das Entscheidende ist nicht, ob wir das alle wollen, sondern ob auch eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger das will. Um das zu erreichen, brauchen wir andere, positive Erfahrungen für die Bürgerinnen und Bürger. Das heißt, wir brauchen in der EU mehr Demokratie und weniger Bürokratie. Wir brauchen mehr Steuergerechtigkeit, kein Lohn- und Sozialdumping, sondern mehr soziale Standards und deutlich weniger Arbeitslosigkeit. Wir brauchen mehr ökologische Nachhaltigkeit. Wir brauchen mehr Bildung und Kultur und weltweite Friedenseinsätze, nicht weltweite Kriegseinsätze.
Das muss die EU ausstrahlen.
Wenn wir das hinkriegen, dann hätten auch demokratische Parteien deutlich höhere Chancen und die NPD spielte - wie sie es verdient - eine völlig marginale Rolle. Lassen wir uns die EU nicht kaputtmachen! Aber dazu müssen wir sie ändern, auch von ihren Grundlagen her.
Danke.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre Römische Verträge - das ist eigentlich schon einen Festakt wert. Ich freue mich, dass wir heute hier die Diskussion über ein einzigartiges Projekt von Frieden und Wohlstand und einer fast vollständigen Wiedervereinigung des europäischen Kontinents führen können. Denn noch ist ja nicht ganz Europa auf dieser Ebene zusammen. Wir haben uns befreit von der Bedrohung durch Krieg und Diktaturen. Man kann wirklich sagen: Ein einzigartiger Raum.
Denken wir einmal zurück! Wenn man sich die 70, 80 Jahre vor Unterzeichnung der Römischen Verträge ansieht, dann stellt man fest: 180 000 Tote im Deutsch-Französischen Krieg; 8 Millionen Tote im Ersten Weltkrieg; über 50 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg, von den Vertriebenen ganz zu schweigen. Deshalb war das vor 50 Jahren wirklich ein sehr mutiger Schritt, das einzig Richtige, um die europäischen Staaten miteinander zu versöhnen. Damals war es ein beinahe unfassbarer Schritt, bei dem man sich dachte, das könne eigentlich gar nicht funktionieren: die große Idee von Freiheit und Frieden.
Noch heute wirkt die Europäische Union in den Mitgliedstaaten; das Besondere ist, dass sie heute auch weit darüber hinaus wirkt. Man kann, wenn man es auf Neudeutsch sagen will, formulieren: Die Soft Skills der Europäischen Union verändern nicht nur die nationale Politik, die Wirtschaft und das Rechtssystem, sondern strahlen so weit aus, dass sich Nachbarländer in Europa und über Europa hinaus an uns orientieren. Sie sagen: Diese Art der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Menschenrechte ist Vorbild für uns; dem wollen wir nacheifern.
Da kann man geradezu nur gerührt sein, wenn man sich überlegt, wie zickig wir selber manchmal intern reagieren, wie wir immer wieder - -
- Herr Ramsauer, gut, dass gerade Sie sich beim Stichwort ?zickig“ melden.
Es ist schon beachtlich, wie wir manchmal mit der Europäischen Union umgehen. Wenn wir auf nationaler Ebene einmal nicht weiterwissen, sagen einige - auch Sie, Herr Ramsauer, und Ihr Verein -: Daran ist Europa schuld. Wir haben kaum angenommen, dass wir Europa, die Europäische Union, mit Verve vertreten sollten. Meine Hoffnung ist, dass der heutige Tag vielleicht ein Ausgangspunkt ist, wenn in Zukunft etwas schiefgeht, nicht mehr zu sagen: Das war Europa. Wir sollten vielmehr sagen: Wir in Europa packen es gemeinsam an.
Wir dürfen aber heute nicht nur auf die vielen Regimewechsel, auf das Erfolgsprojekt Europäische Union blicken, sondern müssen an diesem 50. Geburtstag die Europäische Union neu und weiter definieren. Das Ziel der Feierlichkeiten kann und soll nicht nur sein, im Rückblick zu sagen, wie stolz wir doch sein können; vielmehr müssen wir jetzt auch sagen, wie es eigentlich weitergehen soll. Die Berlin-Erklärung muss eines leisten: Sie muss Europa, wie wir es aufbauen wollen, neu definieren. Wir müssen ein neues Kapitel aufschlagen. Warum müssen wir ein neues Kapitel aufschlagen? Weil das große Projekt der Vergangenheit war, Frieden in Europa und darüber hinaus zu schaffen; dieser Teil ist nun getan. Jetzt muss doch die Frage sein: Welche neuen Räume beschreiten wir?
Ich möchte zwei Aspekte nennen.
Erstens: die Entwicklung nach innen. Wir alle wissen, wie viele Zweifel mittlerweile bei einigen vorhanden sind. Die Art und Weise, wie mit den Verfassungsreferenden umgegangen wurde, dass mit Nein abgestimmt wurde, offenbart diese Zweifel noch stärker. Nach innen müssen wir jetzt eines machen: Wir müssen die Europäische Union sozial und ökologisch neu definieren und weiterentwickeln. In der Europäischen Union darf es nicht mehr um kurzfristige Profitinteressen der Wirtschaft gehen; es muss heißen: In den nächsten 50 Jahren bauen wir das soziale und ökologische Europa. Da wollen wir genauso strahlen, wie wir es beim Friedensprojekt Europa tun.
Wir wissen - ich sage das gerade angesichts mancher wirtschaftspolitischer Auseinandersetzungen -, dass Ökologie und Ökonomie nicht zwei getrennte Projekte sind, sondern dass sie zwingend zusammengehören. Die beiden Begriffe haben den Wortstamm ?oikos“ gemeinsam, der die Bedeutungen ?Haus“ und ?Haushaltung“ hat. Europa hat als Global Player die Aufgabe, anderen Staaten zu zeigen, dass Ökologie und Ökonomie zusammengehören, weil es gar nicht anders geht, weil es bei der Ökologie um unsere Existenzfrage und um die Existenzfrage vieler Menschen in anderen Ländern dieser Welt geht.
Zweitens: die Außenpolitik. Wir müssen nach dem Nachkriegsprojekt der europäischen Integration die Herausforderung im Zusammenhang mit dem Thema Klima annehmen, global Frieden stiften, die Globalisierung sozial gestalten und den Hunger in der Welt bekämpfen. Diese Projekte müssen wir angehen. Die Europäische Union muss das Bewusstsein weiterentwickeln, dass sie ein Global Player ist. Wir haben etwas zu exportieren, und zwar nicht nur unsere Industriegüter, sondern die Herrschaft des Rechts, was die Europäische Union wie kein anderer vorgemacht hat. Es geht nicht um die Herrschaft der Stärke, sondern um die Herrschaft des Rechts, niedergeschrieben im Kopenhagener Acquis, über den sich einer nach dem anderen weiterentwickelt. Diese Herrschaft des Rechts müssen wir als Europäische Union zum weltweiten Exportschlager machen. Auch damit schaffen wir mehr soziale Gerechtigkeit.
Ich will an dieser Stelle zwei Punkte ansprechen. Sehen wir uns einmal die jetzigen Mitglieder Europas an. Denken wir an Portugal, das noch bis in die Mitte der 70er-Jahre eine Diktatur war, und an die Mitgliedsstaaten, die in den letzten Jahren hinzugekommen sind und in der Vergangenheit unter Diktaturen lebten. Das ist aber nicht alles. Wir werden beim Beitritt in die Europäische Union weitere Schritte gehen. Ich möchte im Hinblick auf unsere Strahlkraft an dieser Stelle die Türkei nennen; denn ich bin mir in einem sicher: Der Europäischen Union wird es gelingen, mit seinem Exportschlager ?Herrschaft des Rechts“ auch hinsichtlich des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union einen Erfolg zu erzielen.
Darauf freue ich mich, weil das ein neuer Schritt ist, um zu zeigen, dass wir diesen Exportschlager trotz unserer Traditionen auch in ein Land exportieren können, in dem die meisten Menschen dem islamischen Glauben anhängen. Ich glaube, dass es Ziel der EU-Außenpolitik sein muss, diesen Brückenschlag zu wagen. Das muss man auch in einer solch feierlichen Debatte hier sagen. Die Gründe, die für den Beitritt der Türkei in die NATO sprachen, sprechen auch dafür, dass die Türkei, wenn sie die Herrschaft des Rechts umsetzt, Mitglied der Europäischen Union wird. Das ist unser Ziel.
Für die Außenpolitik gilt an dieser Stelle, Frau Merkel und Herr Steinmeier, dass wir gerade beim Thema Raketenabwehr eines zeigen: Wir in Europa lassen uns nicht spalten. Wir haben unsere Vorstellungen über eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die wir weiterentwickeln wollen. Wir haben unsere Vorstellungen darüber, dass der Frieden in der Welt immer nur in einem gemeinsamen Projekt zivil und militärisch fortgesetzt werden kann. Wir werden nicht akzeptieren, dass ein Dritter mitten in Europa, in der Europäischen Union, ein Raketenabwehrsystem baut, ohne in der NATO und ohne mit der Europäischen Union darüber zu diskutieren. Ich fordere Sie auf und bitte Sie, an der Stelle das Selbstbewusstsein zu haben, dieses Thema nicht nur auf die Tagesordnung der NATO, sondern auch auf die europäische Tagesordnung zu setzen.
Wir wollen, dass sich die Europäische Union hinsichtlich der Solidarität intern neu definiert, dass sie zeigt, was Solidarität in Zeiten der Globalisierung sein kann und was der Sozialstaat des 21. Jahrhunderts sein kann.
Ich will noch einen Punkt ansprechen, der in den letzten Tagen in unser aller Munde war. Ich glaube, dass wir eines ganz stark herausarbeiten müssen, nämlich wie die Europäische Union zu einer Art Leuchtturm, Pionier und Vorreiter im Bereich Klimaschutz und Energieversorgung werden kann. Ich sage Ihnen: Gut, wenn Sie in die Berliner Erklärung den Satz schreiben, dass unsere Aufgabe auch der Klimaschutz ist. Wir wollen aber, dass sich die Europäische Union nicht nur den Klimaschutz und die Energieversorgung auf ihre Fahnen schreibt, sondern dass von diesen Feierlichkeiten das Signal ausgeht: Wir definieren die Europäische Union nach 50 Jahren neu. Jetzt geht es darum, einen neuen Raum zu beschreiten, zu sagen, dass jetzt, nach dem großen Friedensprojekt Europäische Union, nach der europäischen Integration ein Projekt gestartet wird, mit dem wir auf sozialer und ökologischer Ebene die Existenzgrundlagen der Bevölkerung sichern. Dies muss wie ein Leuchtfeuer nach außen strahlen.
Für mich gibt es heute eigentlich nur einen Wermutstropfen: Ich hätte mir gewünscht - Herr Steinmeier wird ja gleich reden -, dass wir hier über die Berliner Erklärung diskutiert hätten. Das wäre das Leuchtfeuer der Transparenz gewesen, das die Europäische Union braucht.
Ich will jetzt nicht zu viel Wasser in den Wein gießen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das geht jetzt auch schwer.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das ist mein letzter Satz. - Herr Steinmeier, Frau Bundeskanzlerin, ich möchte, dass von diesen Feierlichkeiten zwei Dinge ausgehen: In Zukunft wird transparent diskutiert, und die Europäische Union hat ein neues Ziel: das ökologische und soziale Europa. Wir wollen dabei andere mitnehmen und auch das zum Exportschlager machen. Dann hat die 50-Jahr-Feier einen Sinn.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter Steinmeier.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist in der Tat nicht zu überhören - wenn ich es richtig sehe, hat das kein einziger Redner heute Morgen bestritten -: Europa wird 50.
Wir haben in den letzten Wochen hier im Parlament häufiger darüber gesprochen. Jetzt ist es so weit: In wenigen Tagen begehen wir den 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge. Ganz zu Recht haben Sie dieses Jubiläum in den Mittelpunkt der heutigen Debatte gestellt.
Was ist das Besondere an diesem Tag? Ein Blick zurück sei erlaubt. Europa 1957: Der Kontinent hatte zwei verheerende Kriege hinter sich; die Menschen waren noch damit beschäftigt, die Trümmer des letzten Krieges abzutragen. Das war die Situation, in der in Rom die Verträge über die Europäischen Gemeinschaften unterzeichnet wurden. Das war im Übrigen der Beginn einer Entwicklung, in der ohne Infragestellung der transatlantischen Partnerschaft die europäische Integration als zweite Säule unserer Identität gewachsen ist. Die Visionen, die den Römischen Verträgen zugrunde lagen, waren erstens Aussöhnung durch Zusammenschluss, zweitens Frieden durch Zusammenarbeit und drittens Wohlstand durch wirtschaftliche Integration.
Die Weitsicht der Gründungsväter - daran haben viele hier und heute erinnert - wird wohl erst aus heutiger Sicht richtig erfasst und ermessen. Vieles, was 1957 wie eine Utopie klang, ist heute in weiten Teilen politische Realität. Europa ist heute ein Kontinent des Friedens, des Wohlstands und der Stabilität. Europäischer Einigungsprozess, das hieß und heißt aus meiner Sicht noch immer vor allem friedliches Miteinander. Vor 50 Jahren gab es wohl kaum etwas, das sich die Menschen sehnlicher gewünscht haben. Heute - Herr Westerwelle hat eben darauf hingewiesen - ist das so selbstverständlich geworden, dass sich junge Menschen etwas anderes gar nicht mehr vorstellen können, und manch Ältere schütteln genau darüber den Kopf.
Europa 1957, das war ein geteilter Kontinent. Heute, 50 Jahre später, ist diese Teilung überwunden. Die Menschen in Mittel- und Osteuropa sind fester Teil unserer Gemeinschaft geworden. Vor allen Dingen war es natürlich ihr Freiheitswille, der das alles möglich gemacht hat.
Ich bin mir sicher, aus dem Blickwinkel vieler Regionen dieser Welt würde das ausreichen, um auf die Frage: ?Ist Europa eine Erfolgsgeschichte?“, die viele Journalisten Ihnen wie mir vor dem Plenarsaal gestellt haben, zu antworten: Ja, schon deshalb ist Europa eine Erfolgsgeschichte. Genau das muss eine der Botschaften sein, die von diesem Jubiläum ausgehen.
Wir sollten uns am 25. März selbstbewusst die Zeit nehmen, uns die Elemente dieses Erfolges noch einmal bewusst zu machen. ?Europäische Union“ bedeutet mehr als nur Frieden und Einheit in Europa; das, was ich eben dargestellt habe. Das heißt auch: ein Binnenmarkt für fast 500 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher. Das heißt: einheitliche Währung in der Eurozone. Das heißt: Reisefreiheit von Lissabon bis nach Helsinki. Das heißt: gemeinsame Handelspolitik für 27 Mitgliedsstaaten. Darin drückt sich doch aus: Nur dann, wenn wir unsere Kräfte bündeln, können wir auf Augenhöhe mit den USA, mit China oder Indien verhandeln.
Das ist aber nicht alles. Europäische Union, das heißt - auch wenn es in diesen Tagen schwerfällt -: eine gemeinsame europäische Außenpolitik, ein gemeinsames Wirken für Frieden und Entwicklung in der ganzen Welt. Nur als Europäische Union sind wir ein Akteur, der auf der internationalen Bühne ernst genommen wird.
Wir sind weltweit der größte internationale Geber von Entwicklungshilfe. Beim Nahostquartett sitzen wir nicht als Deutsche, sondern als Europäische Union am Tisch. Ich glaube, unser internationaler Gestaltungsspielraum ist größer, wenn wir ihn europäisch nutzen. Deshalb müssen wir ihn ausbauen, deshalb brauchen wir eine handlungsfähige Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa.
Damit bin ich noch nicht am Ende. Die Europäische Union ist weit mehr als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum mit einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Zu den Erfolgen der Einigung gehören auch die Prinzipien, auf deren Grundlage wir uns immer wieder neu verständigen: Die Europäische Union gründet sich auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, auf Freiheit und Verantwortung, auf Respekt vor der Vielfalt in Europa, auf Toleranz und natürlich auch auf Solidarität im Umgang miteinander. Die Europäische Union steht heute für ein Gesellschaftsmodell, das - bei aller Verschiedenheit, die es nach wie vor gibt - erst recht von außen immer mehr als europäisches Gesellschaftsmodell begriffen und - das darf ich nach den internationalen Konferenzen, die ich gerade jetzt, während unserer Präsidentschaft, hinter mir habe, sagen - nicht selten bewundert wird. Sie steht für ein Modell der Zusammenarbeit, das inzwischen auch in anderen Regionen der Welt als Vorbild für regionale Kooperation gilt.
Für eines steht Europa, glaube ich, in ganz besonderem Maße: für das Streben nach einer Gesellschaft mit wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit - sicherlich -, aber eben auch mit sozialer und ökologischer Verantwortung; beides ist miteinander verbunden und muss miteinander verbunden bleiben.
Dieses europäische Sozialmodell ist das Bild einer Gesellschaft, in der unternehmerische Freiheit genauso ihren Platz hat wie der Schutz und die Mitwirkungsmöglichkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, einer Gesellschaft, in der sich wirtschaftliche Leistung lohnen muss, zugleich aber auch gesellschaftliche Solidarität eingefordert wird. Das ist die soziale Dimension; das ist eines der Markenzeichen Europas. Diese soziale Dimension weiterzuentwickeln, und zwar unter den Bedingungen der Globalisierung, ist deshalb eine der ganz wichtigen Zukunftsaufgaben, die wir in den Mitgliedstaaten, aber erst recht auf der europäischen Ebene zu bewältigen haben.
Europa ist zusammengewachsen, doch gleichzeitig - Herr Schockenhoff hat darauf hingewiesen - hat sich die Welt in atemberaubendem Tempo verändert. Wir stehen heute natürlich vor ganz anderen Aufgaben, als sie die Gründungsväter der EWG vor einem halben Jahrhundert bewältigen mussten: Die Globalisierung, der Aufstieg neuer Wirtschaftsmächte, das sind sicherlich Herausforderungen für die Wettbewerbsfähigkeit - davon habe ich gesprochen -, vor allem aber Herausforderungen für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Hinzu kommt: Die Folgen des Klimawandels sind unübersehbar geworden. Gleichzeitig müssen wir uns bei all dem auch noch darauf einstellen, dass die natürlichen Energieressourcen knapper und teurer werden; schließlich sind sie endlich. Wachsende Migrationsströme, die Gefahr des Terrorismus, Krisensituationen in viel zu vielen Weltregionen - wie oft müssen wir hier im Hohen Hause darüber sprechen. Das sind die Fragen, auf die wir heute Antworten finden müssen. Ich sage ganz klar: Wir müssen darauf europäische Antworten finden.
Mit anderen Worten: Im lauten Vielklang der globalisierten Welt finden wir Europäer nur Gehör, wenn wir mit einer Stimme sprechen. Wir können unsere Interessen nur dann wirksam vertreten, wenn wir gemeinsam handeln. Ich glaube, genau das erwarten auch die Bürgerinnen und Bürger von einer verantwortlichen Politik in Europa. Mit scheint, ein Teil der europäischen Vertrauenskrise liegt darin begründet, dass die Menschen in den zurückliegenden zwei, drei Jahren das Gefühl hatten, Europa sei eher Teil des Problems als Teil der Lösung. Hier müssen wir gegensteuern.
Wir wollen die Menschen für Europa gewinnen. Wir wollen sie gewinnen, indem wir ihnen zeigen, dass die europäische Integration und die europäische Einigung ihnen auch weiterhin ganz konkrete Vorteile bringen.
Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, dass gerade der letzte Gipfel der Regierungschefs gezeigt und bewiesen hat, dass Europa handeln kann, und zwar auch in den Bereichen, in denen die Menschen mit Recht entschlossenes europäisches Handeln erwarten. Obwohl es keinem Mitgliedstaat leichtgefallen ist - das kann ich Ihnen aus dem Vorbereitungsprozess versichern -, haben sich die Regierungschefs letztlich auf eine sehr ehrgeizige Klima- und Energiepolitik geeinigt. Das macht Mut.
- Ja, Herr Kuhn, ehrgeizige Ziele. - Wir haben nicht nur Anreize für die Innovationsfähigkeit der europäischen Industrie gesetzt. Der Gipfel war aus meiner Sicht auch ein Test für die Zukunftsfähigkeit unserer Zusammenarbeit. Vom Gelingen dieses Gipfels geht ein Signal aus, das über die konkreten Beschlüsse hinausreicht. Es ist ein Signal der Zuversicht: Ja, Europa stellt sich den Aufgaben der Zukunft. Gemeinsam können wir sie meistern.
Das Gemeinsame sollte die weitere Botschaft des kommenden Jubiläums sein. ?Europa gelingt gemeinsam“, das ist das Leitmotiv, wenn sich übermorgen die Staats- und Regierungschefs hier in Berlin treffen werden. Das wird auch der Grundtenor der Berliner Erklärung sein, die aus diesem Anlass verabschiedet werden soll. Denn eines - das muss ich sagen - ist ganz klar: Wir brauchen diese Zuversicht, wir brauchen Mut, wir brauchen Entschlossenheit, und wir brauchen etwas von der visionären Weitsicht der Unterzeichner der Römischen Verträge, wenn wir den Erneuerungsprozess der Europäischen Union in der zweiten Hälfte unserer Präsidentschaft wieder in Gang setzen wollen. Meine feste Überzeugung und die Überzeugung der Bundesregierung ist: Die Union der 27 braucht neue Arbeitsgrundlagen, und zwar in Gestalt der Verfassung. Den Schwung dieses Jahrestages möchten wir dafür nutzen, die Voraussetzungen für den Erneuerungsprozess der Europäischen Union zu schaffen.
Meine Damen und Herren, 50 Jahre EG und EU zeigen: Unsere Vergangenheit liegt in Europa, und - hier stimme ich all meinen Vorrednern zu, die sich so oder sinngemäß ausgedrückt haben - unsere Zukunft erst recht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Markus Löning ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion.
Markus Löning (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst meiner Freude darüber Ausdruck geben, dass die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Europäischen Union hier in Berlin stattfinden und dass Sie, Herr Steinmeier und Frau Bundeskanzlerin, die Staats- und Regierungschefs nach Berlin eingeladen haben. Es gibt wohl keine Stadt in Europa, die aufgrund der Mauer so für die Teilung Europas steht und mit dem Fall der Mauer auch ein Signal für die Überwindung der Teilung gesetzt hat, wie Berlin. Ich glaube, es gibt auch keine Stadt in Europa, die so deutlich macht, wie das neue, moderne Europa aussehen kann, wie Berlin.
Europa lebt in Berlin. Hier treffen sich die jungen Leute, die Künstler, die Studenten, Leute, die hier arbeiten wollen, die an neuen, modernen Entwicklungen und an völkerverbindenden und völkerübergreifenden Beziehungen ohne Vorurteile interessiert sind. Sie arbeiten zusammen und sie studieren und feiern miteinander. Ich finde, das ist richtig. Das brauchen wir nach 50 Jahren EU hier in Berlin.
Herr Steinmeier, Sie haben gerade zum Thema Berliner Erklärung das eine oder andere gesagt und von einem Grundtenor gesprochen. Diese Berliner Erklärung muss ja ein schreckliches Geheimdokument sein.
Noch nicht einmal zwei Tage bevor sie verabschiedet wird, bekommen wir hier etwas davon zu hören.
Wir wünschen Ihnen von Herzen, dass das ein Erfolg wird und dass Sie einen Impuls für die Renovierung der europäischen Spielregeln setzen können; das ist doch selbstverständlich. Eines sage ich hier aber ganz klar und deutlich: Dieses Verfahren der Geheimdiplomatie hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch der Parlamente ist für den Fortgang der Verfassungsdiskussion absolut inakzeptabel.
Es kann nicht sein, dass Regierungen versuchen, hier etwas auszumauscheln, während der Bundestag, der diese Verträge ratifizieren soll, an den Debatten nicht im Geringsten beteiligt wird. Das ist inakzeptabel. Wir werden mit aller Vehemenz einfordern, dass hier über den Verfassungsvertrag berichtet und diskutiert wird.
Sie haben unsere Unterstützung, wenn Sie einen enorm ambitionierten Zeitplan vorlegen; denn eines ist klar: Unsere Partner und die Bürger erwarten von uns Handlungsfähigkeit; das ist oft angesprochen worden. Handlungsfähigkeit heißt, dass wir den Verfassungsprozess endlich zum Abschluss bringen müssen. Wenn wir mit Partnern in Übersee bzw. außerhalb Europas reden, dann kommt doch immer dieselbe Antwort auf die Frage, wie es mit Europa weitergeht: Meine Güte, macht endlich einmal eure Hausaufgaben! Verabschiedet zu Hause endlich eure Spielregeln, damit wir wieder über substanzielle Politik reden können! - Herr Steinmeier, Sie haben unsere volle Unterstützung dafür, dass das schnell über die Bühne geht. Nur so können wir als Europäer letztendlich Handlungsfähigkeit zeigen.
Wir als Liberale erwarten von Ihrer Ratspräsidentschaft, dass Sie Ihre Ziele höher stecken und im Juni nicht nur sagen, dass Sie einen Zeitplan vorlegen. Es muss mehr vorgelegt werden, zum Beispiel ein Mandat für eine Regierungskonferenz. Es muss klargemacht werden, dass dieser Text bis Ende des Jahres unter Dach und Fach sein muss und dass es das Ziel ist, dass die Kommission 2009 nach den neuen Spielregeln ins Amt kommt und das Parlament nach den neuen Spielregeln gewählt werden kann. Das müssen wir doch von uns verlangen; ich verlange diesen Ehrgeiz an dieser Stelle auch von der Bundesregierung.
Ich komme jetzt zu dem, was die Bürger von uns zu Recht erwarten. Sie erwarten von uns, dass wir im Bereich des Binnenmarktes etwas tun. Sie erwarten von uns, dass die Europäische Union etwas tut, was ihnen persönlich in ihrem Leben sichtbare und greifbare Vorteile bringt. Sie erwarten von uns, dass die Europäische Union etwas tut - ich nenne als Beispiel die Roaming-Gebühren -, wodurch ihr tägliches Leben besser und angenehmer gestaltet wird, und nicht, dass wir uns hier über Spielregeln auseinandersetzen.
Ich wünsche der Bundesregierung viel Erfolg am Wochenende. Ich wünsche mir, dass ein Impuls für Europa und für den Verfassungsvertrag gegeben wird und dass wir uns anschließend wieder auf die Substanz europäischer Politik, auf eine EU, die Erfolge für unsere Bürger produziert, konzentrieren können.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Stübgen für die CDU/CSU-Fraktion.
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über die Römischen Verträge ist in den vergangenen Tagen und Wochen viel geschrieben und - auch hier im Parlament - noch viel mehr geredet worden, sicherlich mehr als in den vergangenen 50 Jahren. Ich denke, das ist auch richtig so; denn die Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 50 Jahren war ein gewaltiges historisches Ereignis, von dem wir bis heute profitieren. Es ist gut, dass wir dieses historische Datum am kommenden Wochenende feiern und angemessen würdigen. Aber - darin teile ich zu 100 Prozent die Auffassung der Bundesregierung - uns geht es vor dem Hintergrund der deutschen Ratspräsidentschaft an diesem Wochenende um mehr als das würdige Andenken an die Unterzeichnung der Römischen Verträge. Die Geschichte hat uns immer wieder gezeigt, dass durch zufälliges Zusammentreffen von Sachverhalten und Ereignissen - wenn sie nur mutig und tatkräftig genutzt wurden - bedeutsame Veränderungen begonnen haben, die häufig eine historische Dimension entfaltet haben.
Es ist zunächst ein Zufall, dass das 50-jährige Jubiläum der Römischen Verträge mit der deutschen Ratspräsidentschaft zusammenfällt und deshalb die Feierlichkeiten in Berlin stattfinden, der Stadt, die über Jahrzehnte das Symbol für die Teilung unseres Vaterlandes und ganz Europas war. Wir haben hier vor 17 Jahren die Mauer niedergerissen und damit auf unserem Kontinent und weltweit eine beispiellose Entwicklung ausgelöst. Ich glaube, Berlin ist der richtige Ort, um den festgefahrenen Verfassungsprozess der Europäischen Union wieder in Gang zu bringen.
Von den Römischen Verträgen bis heute hat die Europäische Union immer wieder Höhen und Tiefen erlebt. Wir können uns ebenso an Bilder fröhlicher und jubelnder Menschen erinnern wie an festgefahrene, fast ausweglos erscheinende Situationen. Dennoch - das zeichnet die europäische Politik besonders aus - hat die Europäische Union es immer wieder geschafft, voranzukommen. Sie hat es immer wieder geschafft, die neuen Herausforderungen zu meistern.
Wo stehen wir heute? Sinnbildlich passt vielleicht der Vergleich mit einem etwas stotternden Motor am besten. Wir kommen zwar voran, aber mühselig. Manchmal scheint es, als ob wir stehen bleiben könnten.
Die Berliner Erklärung kann die Initialzündung dafür sein, dass der europäische Motor wieder rundläuft. Allen Widrigkeiten zum Trotz möchte ich eines deutlich herausstellen - ich glaube nicht, dass es in diesem Haus dagegen Widerspruch gibt -: Die Europäische Union ist alles in allem eine Erfolgsgeschichte. Die Europäische Union hat Europa zu einem Kontinent gemacht, auf dem die Menschen in Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand leben können. Die Europäische Union ist das erfolgreichste Friedensprojekt der Weltgeschichte.
Wir in Deutschland sind heute von Freunden und Partnern umgeben. Wir profitieren vom freien Handel in Europa und sichern so bei uns Wohlstand und Arbeitsplätze. Dabei war es gerade in den letzten Jahren eine gewaltige Leistung, die Länder aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa voll in die Europäische Union zu integrieren. Wir sind jetzt eine Gemeinschaft, die 480 Millionen Menschen miteinander verbindet. Dabei ist die von allen Mitgliedstaaten gezeigte Solidarität bei diesem Erweiterungsprozess für mich besonders bemerkenswert. Es liegt klar auf der Hand, dass für uns Deutsche die Integration unserer östlichen Nachbarn im genuinen nationalen Interesse gestanden hat und steht. Aber diesen Erweiterungsprozess haben auch Länder wie Spanien, Portugal und Italien mitgestaltet, die an ihren Außengrenzen weiß Gott andere Probleme haben. Trotzdem haben sie die Osterweiterung mitgestaltet. Das ist ein Beispiel für gelebte Solidarität.
Ich will aktuell erwähnen, dass die Europäische Union mit den Beschlüssen zum Klimaschutz auf dem letzten Europäischen Rat weltweit eine Vorbild- und Führungsfunktion in dieser so wichtigen Menschheitsfrage eingenommen hat. Es liegt jetzt an uns, sie umzusetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union hat sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder dadurch ausgezeichnet, dass sie in schier ausweglosen Situationen und festgefahrenen Verhandlungen neue Wege beschritten hat, um wieder voranzukommen. So war zum Beispiel das Modell der Regierungskonferenzen für den Maastrichter Vertrag ausgesprochen erfolgreich. Die darauf folgenden Regierungskonferenzen zur Vertragsänderung - Amsterdam und Nizza - gestalteten sich allerdings immer schwieriger. Die entscheidenden Fragen, nämlich die institutionellen Reformen, konnten nicht gelöst werden und wurden jeweils verschoben. Spätestens mit dem Vertrag von Nizza wurde klar, dass diese Methode allein nicht mehr ausreichend praktikabel ist.
Wir haben dann in Europa zur Erarbeitung des Grundrechtekatalogs die sogenannte Konventsmethode entwickelt. Diese Methode zeichnet sich durch die Beteiligung aller nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments und aller europäischen Regierungen aus. Sie war bei der Erarbeitung des Grundrechtekatalogs sehr erfolgreich. Für die Erarbeitung des Verfassungsvertrages wurde die Konventsmethode ebenfalls gewählt. Nach langem, zähem Ringen ist durch diesen Verfassungskonvent - wir haben in diesem Haus mehrfach darüber diskutiert und mehrere große Anhörungen dazu durchgeführt - der europäische Verfassungsvertrag als ein gutes, wegweisendes, zukunftsweisendes Dokument erarbeitet worden. Der Verfassungskonvent hat es geschafft, die meisten offenen Fragen, zum Beispiel der notwendigen institutionellen Reformen, zu lösen. Daran sind vorher viele Regierungskonferenzen gescheitert. Die Tatsache, dass bereits 18 Länder den Vertrag ratifiziert haben, ist ein Beleg für die Qualität dieses Entwurfes. Allerdings ist der Prozess durch die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden ins Stocken geraten.
Nun, nach mehr als zwei Jahren Denkpause, wird es allerhöchste Zeit, dass wir wieder handeln. Die Methode der Bundesregierung ist, auf Grundlage der Berliner Erklärung einen Ansatz zur Lösung der Verfassungsfrage für den Europäischen Rat im Juni dieses Jahres zu erarbeiten. So werden die Verhandlungsführer der Regierungschefs unmittelbar nach der feierlichen Unterzeichnung der Berliner Erklärung die notwendigen Beschlüsse für den Rat im Juni vorbereiten. Welcher Name dann über dem Projekt steht, halte ich für zweitrangig. Wenn damit Widerstände überwunden werden können, kann eine neue Begriffsbestimmung sogar hilfreich sein. Wichtig und entscheidend ist, dass die Substanz des vorliegenden Verfassungsvertrages erhalten bleibt. So müssen die Funktionsfähigkeit der europäischen Institutionen verbessert, die Grundrechte eingebunden und die Kompetenzen zwischen Europäischer Union und den Mitgliedstaaten klar aufgeteilt sein. Wenn wir dann schlussendlich dazu kämen, dass der Text des Verfassungsvertrages vor allen Dingen im dritten Teil kürzer und übersichtlicher gestaltet wird, beseitigten wir damit sogar ein Defizit, wozu der Verfassungskonvent nicht in der Lage war.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, allerdings wird die Lösung der Verfassungsfrage durch die Regierungschefs und möglicherweise alle nationalen Parlamente in Europa eines unserer großen Probleme in der gegenwärtigen Europapolitik nicht automatisch beseitigen. Weite Teile der Bevölkerung in Europa stehen der europäischen Integrationspolitik misstrauisch bis ablehnend gegenüber. So haben zum Beispiel in Deutschland laut einer Umfrage des Eurobarometers nur 42 Prozent der Deutschen ein positives Bild von Europa. Woran liegt das? Das liegt sicherlich an der Unübersichtlichkeit der jetzigen europäischen Strukturen und mangelnder Kompetenzabgrenzung zwischen Europa und den Nationalstaaten. Viele Bürger fühlen sich der europäischen Politik ausgeliefert. Sie können nicht die Zusammenhänge europäischer Entscheidungen verstehen, und sie haben erst recht nicht das Gefühl, irgendeinen Einfluss darauf nehmen zu können. Das zeigen uns auch die europaweit beängstigend niedrigen Beteiligungen an Europawahlen.
Wir müssen selbstkritisch feststellen, dass bei der Frage, ob wir genügend Überzeugungsarbeit für dieses Europa geleistet haben, die Bilanz für uns Politiker mangelhaft ist. Wir müssen mehr dafür tun, dass in der Bevölkerung ausreichendes Verständnis dafür geweckt wird, dass der Verfassungsvertrag nicht das Problem, sondern die Lösung vieler Probleme ist.
Es gibt aber auch das objektive Problem der mangelnden Zustimmung der Bevölkerung zu Europa, das wir mit Beschlüssen und Verträgen alleine nicht lösen können. Dafür brauchen wir Zeit. Wir sind jetzt nach einem gigantischen Erweiterungsprozess 27 Mitgliedsländer und 480 Millionen Menschen in dieser neuen Europäischen Union. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die Bürgerinnen und Bürger an diese neue Situation gewöhnen müssen. Hier muss Vertrauen wachsen, dass diese Europäische Union auch weiterhin zukunftsorientiert arbeiten kann. Dazu reichen zwei oder drei Jahre nicht aus.
Es darf deshalb angesichts der schnellen Erweiterungspolitik der vergangenen Jahre, zu der es in der Tat keine Alternative gab, kein einfaches ?Weiter so!“ geben. Unsere Hauptaufgabe liegt jetzt darin, die europäische Einigung zu vertiefen und die Arbeitsfähigkeit der europäischen Institutionen zu verbessern. Genau aus diesem Grund ist der vorliegende Verfassungsvertrag das beste und fortschrittlichste Dokument, das wir gegenwärtig haben.
Ich möchte noch einige Sätze zur Berliner Erklärung sagen. Sie entfaltet - das war durchaus geplant -, schon bevor es sie überhaupt gibt, eine erstaunliche Wirkung. Die Zeitungen sind voll von Veröffentlichungen zu Europa und drucken Sonderbeilagen. Die Menschen beschäftigen sich intensiver mit der Europäischen Union. Es wäre wünschenswert, dass das so bleibt. Die Befassung mit der Berliner Erklärung geht sogar so weit - das konnte ich gestern im Ausschuss hören -, dass die Fraktion Die Linke jetzt schon an einer Berliner Gegenerklärung schreibt.
Ich frage mich allerdings, wogegen, da es die Berliner Erklärung noch gar nicht gibt.
Selbst Ihre Fraktion scheint der Berliner Erklärung eine besondere Bedeutung zuzumessen.
Bei den anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag funktioniert die Arbeitsteilung nach bekanntem Muster. Die Opposition beklagt eine mangelnde parlamentarische Beteiligung, und es wird von Geheimniskrämerei und Geheimdiplomatie gesprochen. Das ist nachvollziehbar. Aber eines ist doch sicher, und das weiß hier jeder von uns: Wenn die Berliner Erklärung von allen nationalen Parlamenten der Europäischen Union diskutiert und beschlossen worden wäre, hätten wir sie wenigstens zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es geht hier auch um Vertrauen. Ich vertraue darauf, dass unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Verhandlungsführer einen guten und zukunftsweisenden Text aushandeln. Dass die Opposition dieses Vertrauen nicht hat wie die Regierungsfraktionen, ist auch verständlich. Aber vielleicht sind auch Sie von dem Text der Berliner Erklärung überrascht, und zwar positiv überrascht.
Sicherlich werden wir in den kommenden Wochen noch viel Gelegenheit haben, uns auch kritisch mit der Auswertung dieses Textes zu beschäftigen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir befinden uns ungefähr in der Mitte der deutschen Ratspräsidentschaft. Schon Monate vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft war die Erwartungshaltung gegenüber Deutschland enorm groß, eine Erwartungshaltung, die mich anfangs beunruhigt hat. Von uns wurde - so kam es mir manchmal vor - schlichtweg erwartet, dass wir in einem halben Jahr alle offenstehenden Probleme der europäischen Politik lösen können.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Einen Satz noch. - Ich glaube aber, wir sollten weniger besorgt, sondern eher stolz sein; denn die große Erwartungshaltung gegenüber der deutschen Ratspräsidentschaft gründet sich darauf, dass man uns etwas zutraut und dass man uns vertraut. Dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen, ist eine Herausforderung für uns alle. Deshalb werden wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Deutschen Bundestag Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Bundesregierung nach allen Kräften unterstützen, zu einem erfolgreichen Abschluss der deutschen Ratspräsidentschaft im Juni dieses Jahres zu kommen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Diether Dehm, Fraktion Die Linke.
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Stübgen, Sie brauchen nicht eifersüchtig zu sein: Wir sind von der Bundesregierung nicht bevorzugt worden; wir haben die Informationen über die Berliner Erklärung aus anderen Quellen in Europa bekommen. Aber sie liegen uns vor; allzu große Überraschungen sind es nicht.
- Ich bitte dann herzlich, diesen Zwischenruf in das Protokoll aufzunehmen. Wir haben diese Informationen im Wege demokratischer Prozesse erhalten. Ich kann nur noch einmal sagen, wenn Sie da ein bisschen eifersüchtig sind: Wir kennen die Berliner Erklärung, überraschend sind die Informationen nicht.
Vorgestern fand in Berlin der Rohstoffkongress des BDI unter Anwesenheit des halben Bundeskabinetts statt. Der Spitzenfunktionär des BDI Herr Grillo appellierte, was die Rohstoffsicherung in Deutschland anbetrifft, an die Wirtschafts-, Sicherheits-, Außen-, Europa- und Entwicklungspolitik. Ich zitiere Herrn Grillo wörtlich:
Der größte Teil der weltweiten Rohstoffförderung findet in ... instabilen Ländern statt. Dies ist an sich schon Grund genug zur Befassung der Außenpolitik mit den Problemen der Rohstoffversorgung.
Und weiter:
China hat inzwischen mit einer Reihe von durch die internationale Gemeinschaft geächteten Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika Allianzen geschlossen und in diesen zum Teil erhebliche Investitionen getätigt - unter anderem im Sudan und in Angola.
Herrn Grillos Interesse an militärischen Aktivitäten der EU im Sudan hat mit Menschenrechten also wenig zu tun.
Die Bundesregierung kommt, so schrieb die ?FAZ“ in ihrer gestrigen Ausgabe, ?dem Wunsch des BDI nach und gründet einen interministeriellen Ausschuss zur Rohstoffpolitik“.
Die Bundeskanzlerin sagte vorgestern beim BDI zum Thema Rohstoffsicherung:
Bei aller Unabhängigkeit zwischen Wirtschaft und Politik müssen wir ... die strategische Herangehensweise
- das sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen -
angesichts des Herangehens anderer Akteure in der Welt neu erlernen.
Nein, Frau Ratspräsidentin, lernen Sie lieber nicht vom BDI und der Bertelsmann-Stiftung: Militäreinsätze für Rohstoffsicherung und Sozialkahlschlag für Konzernchefs.
Ich weiß nicht, wann Sie zuletzt mit Kulturschaffenden gesprochen haben, die für Europa, seine Friedens- und Sozialstaatsidee stehen und damit ein Millionenpublikum begeistern. Wir von der Linken haben es in den letzten Tagen auch wieder getan. Herausgekommen ist die Berliner Gegenerklärung. Ich zitiere daraus:
Die ?Berliner Erklärung“ ... dürfte wohl eher ein ?Berliner Verschweigen“ werden. ... Die französische Ratspräsidentschaft [soll] auf die Verabschiedung des gescheiterten Verfassungsvertrages, diesmal zerlegt in mehrere unübersichtliche Teile und Verträge, drängen. Erhalten wird ... die aufrüstungsfixierte und neoliberale Substanz. Sie soll dann ohne Volksabstimmungen durchgedrückt werden. Selbst in jenen Ländern, die zunächst ... zugestimmt hatten, weiß die Bundesregierung: die Mehrheit ist dahin. Ausgerechnet die Regierung eines Landes, in dem keine Volksabstimmung über den europäischen Verfassungsvertrag vorgesehen ist, versucht, demokratische Referenden anderer Länder auszuhebeln.
Die Kulturschaffenden nennen dies einen kalten Putsch der neoliberalen Eliten
und fordern:
ein Ende der Geheimdiplomatie, europaweite Volksabstimmungen über eine europäische Verfassung, statt Aufrüstungsgebot das Angriffskriegsverbot des Grundgesetzes und der UN-Charta, statt Neoliberalismus im Verfassungsrang die Sozialstaatsregelung unseres Grundgesetzes und die sozialen Menschenrechte der UN-Charta!
Nur so bekommt die EU die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, um aus der Sackgasse der G-8-Globalisierer herauszukommen.
Diese Erklärung haben unter anderem unterschrieben: Daniela Dahn, Schriftstellerin, Katja Ebstein, Sängerin, Professor Dr. Rudolf Hickel, Wirtschaftswissenschaftler, Dr. Manfred Maurenbrecher, Liedermacher, Diether Dehm,
Alexander Ulrich, Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Reinhard Mey, Peter Sodann, Henning Venske, Konstantin Wecker.
Frau Merkel, verhelfen Sie Europa wieder zu seiner Ursprungsidee! Die ist gebaut auf Frieden in der Welt - nicht nur bei uns - und soziale Gerechtigkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Roth für die SPD-Fraktion.
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man vom heutigen Tage und von den nächsten Tagen mit den Feierlichkeiten zum 50. Geburtstag der Römischen Verträge absieht: Unser eigenes Urteil über Europa sollte uns mitunter die Schamesröte ins Gesicht treiben; denn wir haben uns an den vielen Erfolgen offensichtlich sattgesehen. Wir mäkeln herum. Wir sind übellaunig.
Ich sage das vor allem deshalb, weil der Blick von außen auf die Europäische Union oftmals den Traum erkennt, den meine Kollegin Angelica Schwall-Düren beschrieben hat. Überall dort, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wo Hunger herrscht, wo Unfrieden herrscht, dort glaubt man an dieses Europa; dort ist Europa Hoffnung. Man will dazugehören. Man will teilhaben an dieser großen Idee, die uns seit vielen Jahrzehnten begleitet. Das sollten wir uns im politischen Alltag immer wieder vergegenwärtigen, wenn wir anfangen, über das Wider, über die Schwierigkeiten, über die Probleme zu reden.
Selbstverständlich ist die Berliner Erklärung wichtig. Wir sollten denjenigen, die diese Berliner Erklärung zimmern - das ist nicht nur die Bundesregierung -, alles Gute wünschen.
Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt eine ganze Menge über die Berliner Erklärung hinaus zu tun. Wie könnte Europa auch in den kommenden fünf Jahrzehnten gelingen?
Eine Erkenntnis ist: Mut statt Verzagtheit. Die Erklärung von Messina ist heute Morgen schon angesprochen worden. Erinnern wir uns an den 30. August 1954! Damals hat die Assemblée nationale die Europäische Verteidigungsgemeinschaft abgelehnt - ein dramatischer Rückschritt. Es hat damals aber keine Reflexionsphase gegeben. Man hat sich nicht zurückgelehnt und gar nichts mehr gesagt; nein, man hat ganz beherzt die Initiative ergriffen. Mit der Erklärung von Messina ist die Grundlage für das heutige Europa, ist die Grundlage für die Römischen Verträge geschaffen worden. Wir können von unseren Urgroßeltern und Großeltern also zumindest dieses lernen: In der Krise bewähren sich Mut, Ausdauer, Kraft und Überzeugungsfähigkeit.
Ich komme zu einer zweiten Erkenntnis - sie mag sich für den einen oder anderen etwas trivial anhören, aber sie ist nicht selbstverständlich -: Wir alle sind Brüssel. Ich weiß, dass es gerade in bayerischen Bierzelten dazugehört, mal richtig auf Europa draufzuhauen. Da bekommt man ordentlich Applaus. Erst sind die Berliner dran, und dann sind die Europäer in Brüssel dran. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Europa entscheiden nicht Marsmenschen, sondern wir entscheiden.
Die nationalen Regierungen tragen Verantwortung. Der Deutsche Bundestag trägt Verantwortung.
Spätestens seit der zwischen Bundestag und Bundesregierung getroffenen Vereinbarung in Sachen Europa kann niemand von uns mehr herummäkeln, er habe von nichts gewusst, er sei überrannt worden, oder fragen, was denn da schon wieder Blödes entschieden worden sei. Nein, wir sitzen im Boot Europa. Wir gehören dazu. Auch wir sind für die guten, aber auch für manche der schlechten Entscheidungen verantwortlich, die in der Europäischen Union getroffen wurden und getroffen werden.
Ich will eine dritte Erkenntnis hinzufügen: Recht vor Macht. Es hat der Europäischen Union immer gutgetan, dass gerade die großen Mitgliedstaaten respektvoll mit den kleineren Mitgliedstaaten umgehen, dass wir auf Augenhöhe miteinander kommunizieren. Manche der luxemburgischen, belgischen oder niederländischen Initiativen in den vergangenen Jahrzehnten haben Europa mehr vorangebracht, als das durch die großen Mitgliedstaaten, die das stets für sich in Anspruch nehmen, geschehen ist. Diesen Respekt haben die Kleineren verdient. Deutschland ist stets gut damit gefahren, Anwalt der Interessen kleinerer Mitgliedstaaten zu sein.
- Der Gerhard Schröder hat eine ganze Menge gelernt.
Ich finde, er hat das im Großen und Ganzen gut gemacht.
- Frau Künast, auch Sie haben ihn gewählt, nicht nur ich.
Kommen wir zu einer vierten Erkenntnis: Europa bräuchte eigentlich Zeit für Konsolidierung. Das hat der Kollege Stübgen eben schon beschrieben. Ich stimme dem Kollegen im Prinzip zu. Ich frage Sie alle aber: Hat die Welt Zeit? Kann jemand auf Europa Rücksicht nehmen? Können wir einfach sagen: ?Probleme, hört jetzt mal auf, Probleme zu sein; lasst uns mal richtig durchatmen und Kraft tanken; wir brauchen noch ein bisschen Zeit und Muße für uns, und dann können wir die Probleme der Welt lösen“?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Welt wartet nicht auf Europa. Wir müssen das Tempo vielleicht nicht erhöhen, wir müssen aber weiterhin mit großem Tempo dafür sorgen, dass die Probleme der Welt gelöst werden, dass wir Globalisierung menschlich, sozial und demokratisch gestalten. Deswegen können wir den Bürgerinnen und Bürgern auch nicht einreden, dass die Entwicklung in irgendeiner Weise langsamer vonstatten gehen wird. Ich halte das für zwingend, auch wenn das für uns als politisch Verantwortliche mitunter beschwerlich sein mag.
Ich komme zu einer weiteren Erkenntnis: Wer, zu Recht, die europäische Zivilgesellschaft einfordert, der muss auch dafür sorgen, dass sich endlich Parteien, Gewerkschaften und Verbände europäisieren. Das ist für uns alle, die wir in europäischen Parteifamilien zusammenarbeiten, schwierig, weil wir wissen, dass es nicht immer nur nach unserer Nase geht, sondern da unterschiedliche Erwartungshaltungen, Traditionen und auch kulturelle Verbindlichkeiten aufeinanderstoßen. Aber ohne europäische Parteien mit europäischen Spitzenkandidaten, mit europäischem Bewusstsein und demokratischen Verhältnissen innerhalb dieser Parteien kann der Aufbau dieser europäischen Zivilgesellschaft nicht gelingen. Das ist eine Aufgabe, für deren Umsetzung wir alle in unseren eigenen Parteifamilien arbeiten müssen.
Ich komme zu einer weiteren Erkenntnis: Europa lebt von Zuwanderung und Einwanderung. Das wurde in Europa immer als eine ungeheure kulturelle und zivilgesellschaftliche Erfolgsgeschichte wahrgenommen, auch wenn wir das oft hätten besser machen können. Wenn es uns mitunter schon nicht gelingt, Migrantinnen und Migranten verantwortungsvoll zu integrieren, wäre vielleicht eine europäische Identität neben den anderen Identitäten, die wir alle in uns tragen, ein konkretes, möglicherweise auch Erfolg versprechendes Angebot, um das Zusammenleben in unserer Gesellschaft zivil und respektvoll zu gestalten. Auch das wird nicht in der Berliner Erklärung stehen, aber es ist dennoch notwendig.
Es gilt bei uns in Deutschland die Devise: Weniger ist oftmals mehr. Gilt das aber auch für die Europäische Union? Ich befürchte: nein. Die Europäische Union muss in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eher mehr denn weniger Verantwortung übernehmen. Da sollte es uns allen eher um das große Design gehen - klare Ziele, verbindliche Standards - und weniger um die Detailwut, die manchmal auch in Brüssel fröhliche Urständ feiert. Unser Botschafter in London, Wolfgang Ischinger, sagte kürzlich, Legitimität und Glaubwürdigkeit seien die Pfunde der Europäischen Union. Ich stimme ihm zu: Wir haben eine große Verantwortung im Bereich des Klimaschutzes, im Bereich der atomaren Nichtverbreitung und haben die Aufgabe, dass unsere Sicherheitsstrategie, die von ziviler Konfliktprävention ausgeht, zu einem maßgeblichen Exportschlager im globalen Maßstab wird.
Nur, dann müssen wir auch der Europäischen Union die Instrumente in die Hand geben. Wir brauchen mehr gemeinsame Entwicklungszusammenarbeit. Wir brauchen nicht eine europäische Entwicklungspolitik und 27 weitere. Wir brauchen gemeinsame entwicklungspolitische Anstrengungen. Wir brauchen ein Europa, das mit einer Stimme spricht. Wir brauchen perspektivisch sicherlich auch europäische Streitkräfte. Nicht in erster Linie deswegen, weil das Synergieeffekte hervorbringt. Nachdem wir mit den Währungen einen Kernbereich nationaler Souveränität abgegeben haben, verabschieden wir uns perspektivisch auch aus einem weiteren Kernbereich nationaler Souveränität, der maßgeblich für Frieden und Kooperation steht. Wir könnten deutlich machen: Wir wollen die Probleme dieser Welt gemeinsam lösen und gemeinsam zum Frieden in der Welt beitragen.
- Da stimme ich Ihnen zu, Herr van Essen. Die Parlamentsbeteiligung und die parlamentarische Kontrolle des Bundestages sind etwas, worauf wir in der Europäischen Union stolz hinweisen sollten.
Den Schutz von Umwelt, Natur und Klima habe ich schon angesprochen. Auch der Technologietransfer im Bereich der erneuerbaren Energien ist etwas, was für uns in Deutschland von ganz herausragender Bedeutung ist. Bei den Umwelttechnologien sind wir Exportweltmeister. Wenn es der Europäischen Union hier gelingt, anderen Regionen der Welt konkrete Angebote zu unterbreiten, wie man ohne Kernenergie und ohne fossile Energieträger in eine gute, erfolgreiche, prosperierende Zukunft gehen kann, wäre das etwas, worauf wir zu Recht stolz sein können.
Last, but not least will ich das unterstreichen, was auch unser Arbeits- und Sozialminister immer wieder in den Mittelpunkt seiner Bemühungen gerückt hat: gute Arbeit! Faire Arbeitsbedingungen, kein Lohndumping, sondern Löhne, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Familien ernähren, kein Dumping um die niedrigsten Unternehmensteuern, gelebte Solidarität - das ist eine zentrale Herausforderung der Europäischen Union.
Der Wert der gelebten Solidarität ist das, was die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union maßgeblich ausmacht. Auch andere predigen Freiheit; Freiheit ist ein zentraler Begriff unserer Werte. Aber mit Solidarität haben wir einen weiteren Exportschlager gestiftet, der nicht nur in die Europäische Union gehört, sondern auch global gesehen eine Rolle spielen muss.
Es gibt zweifellos Alternativen zu dem, was ich gesagt habe und was der Außenminister und viele Kolleginnen und Kollegen heute hier erklärt haben. Politik ist nie alternativlos. Aber es ist zu hinterfragen, ob es wirklich eine akzeptable Alternative ist, dass wir uns weiter durchwurschteln und meinen, wir könnten mit den Regeln von Nizza die Europäische Union und die Zukunft unserer Mitgliedstaaten gestalten. Ich halte das für eine fahrlässige Strategie. Wer Differenzierung innerhalb der Europäischen Union das Wort redet, muss akzeptieren, dass das ein Auseinanderdriften der Europäischen Union in mehrere Klubs und Gruppen mit sich bringt und damit auch Entsolidarisierung bedeutet.
Möglicherweise steht am Ende einer solchen Diskussion auch die Frage, ob bestimmte Länder noch bereit und in der Lage sein können, Mitglied der Europäischen Union zu sein. Ich wünsche mir nicht, dass sich diese Frage stellt; auch die SPD-Fraktion wünscht sich das nicht. Wir wünschen uns weiterhin eine Europäische Union der Solidarität. Wenn man auf das zurückblickt, was meine und unsere Urgroßeltern und Großeltern geschafft haben, kann man nur sagen: Chapeau! Das ist eine großartige Leistung. Unsere Elterngeneration muss jetzt zeigen, ob sie sich in diese erfolgreiche Tradition zu stellen vermag. Das gilt im Übrigen aber auch für meine Generation.
Vor uns liegt viel Arbeit. Ich wünsche allen, die sich am gemeinsamen, solidarischen Europa mit Engagement beteiligen wollen, alles Gute. Feiern wir am Sonntag ordentlich! Europa hat es verdient.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Rainder Steenblock ist der nächste Redner für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich sind 50 Jahre europäische Integration gerade für uns Grüne, aber auch für uns alle ein gewichtiger Grund zum Feiern. Heute sind sehr viele Verdienste aufgezählt worden, die dieser europäische Integrationsprozess mit sich gebracht hat. Ich würde gerne zu drei Herausforderungen, vor denen wir stehen, etwas sagen. Denn es reicht nicht aus, an diesem Tage nur die Verdienste der Vergangenheit aufzuzählen.
Wenn wir uns als Politikerinnen und Politiker ernst nehmen, dann müssen wir in dieser Situation Antworten auf die Zukunftsfragen finden, vor denen viele Bürgerinnen und Bürger in Europa zurzeit kritisch bis ängstlich stehen. Wenn 44 Prozent der Menschen in Europa sagen, dass sie durch die Europäische Union keine Vorteile sehen, haben sie damit nicht recht. Aber diese Einstellung der Menschen weist auch auf unsere Fehler hin. Es gibt Vermittlungsprobleme, die wir selbst zu verantworten haben. Das hat auch damit etwas zu tun, dass wir an Tagen wie heute - einige Kollegen haben es bereits gesagt - in Festlaune über Europa reden, aber in den Wahlkreisen es viele Kolleginnen und Kollegen nicht schaffen, den Herausforderungen des Populismus zu widerstehen. Anstatt bei bestimmten Themen die Schuld auf Europa zu schieben und in wirklich übler Polemik die Brüsseler Bürokratie anzugreifen, müssen wir es schaffen, kohärent europafreundlich zu argumentieren. Wenn wir es darüber hinaus schaffen, billigem Populismus zu widerstehen, dann kommen wir, was die Vermittlung der Überzeugung angeht, dass Europa ein Erfolg für die Menschen ist, vielleicht ein Stück weiter voran.
Es wird viel über das Thema Schule diskutiert. Die Jugend in Europa ist viel europafreundlicher und offener, als es den Anschein hat. Wenn wir uns aber einmal anschauen, welche Rolle Europa in den deutschen Lehrplänen spielt - das liegt mehr in der Zuständigkeit der Länder denn des Bundes -, dann muss man sagen: Es ist beschämend, dass in vielen Bundesländern das Thema Europa in den Lehrbüchern der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II überhaupt nicht behandelt wird.
Das können wir uns nicht leisten, wenn wir in Europa zusammenleben wollen.
Zu Recht erwarten die Bürgerinnen und Bürger von Europa weniger Bürokratie, mehr Transparenz und mehr Demokratie. Die Verfassung ist ein Ansatz, diese Erwartungen zu erfüllen.
Die Berliner Erklärung, die das krönende Element dieses 50-jährigen Geburtstages sein soll, entstand durch einen Prozess, der leider nicht transparent war und der kontraproduktiv zu dem ist, was wir den Menschen im Rahmen der Verfassungsdebatte eigentlich versprochen haben.
Wenn wir Europa demokratischer und vor allen Dingen transparenter machen wollen, dann brauchen wir öffentliche Debatten. Die Bundesregierung hat leider die Chance versäumt, eine öffentliche Debatte in Europa über den zukünftigen Weg zu ermöglichen.
Das ist bitter; denn diese Chance hätte es gegeben.
Es geht nicht darum, alle europäischen Parlamente zu einer Redaktionskonferenz einzuladen; das ist nicht das Thema. Aber es geht um die Eckpunkte, über die politisch diskutiert werden muss. Die Bürgerinnen und Bürger in Europa haben ein Recht auf Mitgestaltung. Wenn wir ihnen dieses Recht nicht einräumen, dann laufen wir in die Falle von Nizza und damit in die Falle eines handlungsunfähigen Europas hinein. Dann wären wir nicht in der Lage, diese Zukunftsfragen positiv zu beantworten. Deshalb bedauere ich diese Entwicklung.
Wenn wir die Auffassung vertreten, dass Europa nur gemeinsam gelingt - Frau Merkel, das ist ein hervorragendes Motto -, dann müssen sich die Regierungen und die Parlamente anders verhalten. Wie ich heute Morgen gehört habe, soll die Berliner Erklärung mit den Worten ?Wir, die Völker Europas“ beginnen. Dazu sage ich, dass das zynisch ist. Denn es waren die Regierungen Europas und nicht die Völker Europas, die diese Erklärung verfasst haben.
Wir müssen einen Prozess starten, an dessen Endpunkt die Menschen in Europa mehr mitwirken können. Unsere Kritik ist, dass die Bundesregierung diese Chance - leider - verpasst hat. Wenn wir Europa attraktiver machen wollen, dann sollten wir Demokratie und Transparenz ernst nehmen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Thomas Silberhorn, CDU/CSU-Fraktion.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 50 Jahre Römische Verträge sind heute Anlass, auf die Geschichte der europäischen Integration zurückzuschauen. Ich möchte dem noch einen Aspekt hinzufügen, nämlich einen Verweis auf die Staatsmänner Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, die den Mut hatten, aus der Idee der europäischen Einigung ein konkretes Projekt zu machen.
Beginnend mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die aus der Überzeugung entstanden ist, dass man die Produktion von kriegswichtigen Gütern gemeinschaftlich gestalten müsse, wurde der europäische Gedanke mit den Römischen Verträgen um die Idee des Gemeinsamen Marktes erweitert, die uns bis heute beschäftigt. Wir haben 1987 mit der Einheitlichen Europäischen Akte das Ziel der Vollendung des Binnenmarktes verkündet. Wir sind noch heute mit der Vollendung des Binnenmarktes befasst.
Die europäische Integration ist aber von Beginn an nicht nur eine Integration in Wirtschaftsfragen gewesen, sondern hat sich von Anfang an als Wertegemeinschaft verstanden und dies auch gelebt. Die Europäische Union steht für die Beachtung der Menschenrechte, für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Das hat sich beispielsweise darin ausgedrückt, dass die DDR de facto in diesen Gemeinsamen Markt einbezogen worden ist. Ziel dieser Integration ist es nicht gewesen, die Blockbildung zu vertiefen, sondern - im Gegenteil - selbst so stark und attraktiv zu werden, dass die Idee der europäischen Integration auch Anreize für unsere Nachbarn setzt.
Dies ist nach 50 Jahren gelungen.
Die europäische Integration ist die Grundlage für die deutsche Einheit gewesen, die wir 1990 durch den Fall des Eisernen Vorhanges vollenden konnten, und damit für die Überwindung der Teilung unseres Kontinents. Damit hat sich die magnetische Anziehungskraft tatsächlich realisiert, auf die Konrad Adenauer seinerzeit gesetzt hatte.
Meine Damen und Herren, diese Anziehungskraft der Europäischen Union wirkt bis heute ungebrochen auf unsere Nachbarstaaten. Wir stehen durchaus vor vergleichbaren Herausforderungen wie zu Gründungszeiten der Europäischen Gemeinschaften, allerdings nicht in einem europäischen, sondern in einem globalen Maßstab. Es geht darum, dass die Europäische Union in der Sicherheitspolitik als globaler Akteur auftritt. Es geht darum, dass wir eine Weltwirtschaftsordnung unter den Bedingungen des Klimawandels und des Bevölkerungswachstums gestalten. Es geht weiterhin darum, dass wir uns weltweit für die Beachtung der Menschenrechte und die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit einsetzen.
Obwohl diese europäische Integration nach außen so attraktiv wirkt, ist sie nach innen einer Akzeptanzkrise ausgesetzt. Es zeigen sich in unseren Bevölkerungen Ermüdungserscheinungen, die nach meiner Einschätzung durchaus etwas mit der geschichtlichen Entwicklung und den unterschiedlichen Erfahrungswelten unserer Generationen zu tun haben.
Für die Nachkriegsgeneration war die europäische Integration vielfach ein Herzensanliegen. Meine Eltern haben Bekannte, die nach dem Zweiten Weltkrieg die erste deutsch-französische Ehe geschlossen haben. Das war damals der ?Bild“-Zeitung eine Schlagzeile auf Seite 1 wert. Heute ist das alles natürlich bare Selbstverständlichkeit. Vieles von dem, was für die ältere Generation prägend war, ist der jungen Generation keiner Erwähnung mehr wert.
Lassen Sie mich dazu ein weiteres Beispiel nennen. Denken Sie an Schülerinnen und Schüler, die in diesem Jahr in fünfte Klassen bzw. auf weiterführende Schulen kommen. Sie haben ihr Taschengeld immer in Euro bekommen. Das heißt, sie selbst kennen die D-Mark nicht mehr. Das zeigt, wie sich die Wahrnehmung der europäischen Integration in der Generationenfolge verändert. Deswegen ist es wichtig, zu sagen: Europäische Integration ist nichts, was sich vererbt. Die europäische Integration muss vielmehr immer wieder von neuem begründet und mit jeder Generation neu erarbeitet werden.
Heute ist es unsere Aufgabe, Antworten auf Fragen zu finden, die wir in Europa nur gemeinsam lösen können. Aber genauso wichtig ist es, dass wir uns auf diese Fragen beschränken und darauf achten, dass sich die europäischen Institutionen nicht verselbstständigen. Diese Balance zwischen Vielfalt und Einheit zu finden, ist unsere dauerhafte Aufgabe.
Es ist heute schon viel von den gemeinsamen Interessen gesprochen worden, die wir in der Europäischen Union voranbringen müssen. Ich möchte noch den Klimaschutz erwähnen. Der europäische Gipfel am 8. und 9. März dieses Jahres hat für uns in Europa tatsächlich zu einer weltweiten Vorreiterrolle auf diesem Gebiet geführt. Auch beim Thema Energiesicherheit haben wir mit dem Aktionsplan ?Energiepolitik für Europa“ eine Vorreiterrolle eingenommen. Ich möchte mich für das umsichtige und beachtliche Engagement sowohl der Bundeskanzlerin als auch der gesamten Bundesregierung - auch für das des Bundesministers Glos, der hier fachlich zuständig ist und noch anwesend ist - ganz herzlich bedanken.
Wir haben genauso Aufgaben bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Ausgestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik wahrzunehmen. Es geht auch darum, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union im internationalen Maßstab zu steigern. Ich möchte hervorheben, dass in der deutschen Ratspräsidentschaft die Idee eines transatlantischen Marktplatzes neue Dynamik entfalten kann. Der Gipfel zwischen der EU und Amerika im April steht unmittelbar bevor. Das alles sind Initiativen, die die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir auch in Europa mehr Beschäftigung realisieren können.
Europa muss allerdings auch seine Grenzen finden, sowohl in geografischer Hinsicht wie auch in institutioneller Hinsicht. Was die Erweiterungspolitik angeht, müssen wir uns zunächst im Inneren konsolidieren, bevor wir zu weiteren Erweiterungsschritten in der Lage sind. Wir müssen aber auch darauf achten, dass wir diese Erweiterungspolitik nicht nach einem Alles-oder-nichts-Prinzip gestalten, sondern dass wir den Staaten, die enger mit uns kooperieren wollen, realistische und erreichbare Ziele anbieten - das können auch Zwischenschritte sein - auf dem Weg zu einer vollständigen Integration in die Europäische Union.
Es gehört ferner dazu, dass wir die europäische Erweiterungspolitik mit der Nachbarschaftspolitik enger vernetzen. Egal wie weit wir die Europäische Union noch erweitern, es wird - so banal es auch klingen mag - immer noch einen Nachbarn geben. Wir werden also die Aufgabe haben, die europäische Peripherie eng zu vernetzen mit den jeweils benachbarten Staaten. Dabei werden wir darauf achten müssen, dass wir differenzierter vorgehen als bisher. Denn natürlich ist es verständlich, dass wir bei der Ukraine andere Ansätze brauchen als etwa bei den nordafrikanischen Mittelmeer-Anrainerstaaten.
Wir brauchen neben geografischen Grenzen auch eine Begrenzung der Europäischen Union in der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen. Der Europäische Verfassungsvertrag bringt dazu einige Neuerungen, die für uns besonders wichtig sind. Die doppelte Mehrheit beispielsweise würde in der Tat besser als bisher zum Ausdruck bringen, welche Stärke die Mitgliedstaaten in den europäischen Prozess der Meinungsbildung einbringen. Ich möchte darauf hinweisen, dass sich im Zuge der Erweiterungen in 50 Jahren die Verhältnisse grundlegend geändert haben. Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaften waren die großen Mitgliedstaaten in der Überzahl. Deswegen gab es ein besonderes Interesse, dass die kleineren Staaten nicht majorisiert werden. Deswegen hat man ihnen ein besonders starkes Gewicht eingeräumt.
Das hat sich heute völlig umgekehrt. Wir haben jetzt eine Union von 27 Mitgliedstaaten mit vielen kleinen Ländern, sodass wir jetzt mehr darauf achten müssen, dass in der Meinungsbildung auch die Repräsentativität stärker zum Zuge kommt, als das bisher der Fall war. Deswegen ist es richtig, bei Mehrheitsentscheidungen auf die Mehrheit der Staaten und der Bevölkerungen zu achten.
Wir brauchen daneben aber auch eine klare Abgrenzung der Kompetenzen der Europäischen Union. Denn wenn die Ausübung politischer Macht durch solche Verträge an das Recht gebunden wird, dann muss dieses Recht natürlich klar bestimmt sein und darf nicht der beliebigen Auslegung anheimgegeben werden. Deswegen brauchen wir eine klare Abgrenzung der Kompetenzen und eine Beschränkung der Europäischen Union auf ihre Kernkompetenzen.
Wir haben dabei als Bundestag eine wichtige Aufgabe im Rahmen der Subsidiaritätskontrolle, die wir zunehmend bewusster wahrnehmen. Wenn wir darauf zurückblicken, dass wir als Deutscher Bundestag 50 Jahre gebraucht haben, bis wir eine förmliche Vereinbarung mit der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union geschlossen und bis wir uns auf den Weg gemacht haben, in Brüssel ein eigenes Büro einzurichten, dann sehen wir, dass manche Dinge eben eine gewaltige Dauer brauchen und Beharrlichkeit in der Verfolgung unserer Ziele notwendig ist.
Ich möchte anfügen, dass auch die Rückverlagerung von Kompetenzen wieder auf die Agenda der Europäischen Union gesetzt werden sollte. Wir haben dabei mit der Föderalismusreform in Deutschland bereits einen Ansatz gemacht. Wenn ich beispielsweise an die Kompetenz der Europäischen Union zur Harmonisierung des Binnenmarkts denke, könnte ich mir gut vorstellen, dass man das ein bisschen beschränkt und auf unmittelbare Wettbewerbsbeeinträchtigungen konzentriert. Dann wäre viel gewonnen.
Ich begrüße auch, dass die Bundesregierung sich dafür einsetzt, die Verwaltungsaktivitäten der Kommission stärker an politische Vorgaben zu binden, indem wir das Prinzip der Diskontinuität einführen. Ich ergänze das, was ich hier schon vorgetragen habe: Wir müssen auch darüber reden, das Initiativmonopol der Europäischen Kommission aufzubrechen. Dort, wo Initiativen für politisches Handeln unternommen werden können, muss es eine Rückbindung an demokratisch legitimierte Vertreter geben.
Unser Ziel muss sein, dass wir das Vertrauen der Bevölkerung - gerade das Vertrauen der jungen Generation - in die europäische Integration neu gewinnen. Dazu müssen wir auf die Herausforderungen der Globalisierung Antwort geben. Wir müssen die Grenzen der Europäischen Union bestimmen, in geografischer und institutioneller Hinsicht. Wir müssen uns auch zu unseren gemeinsamen Werten bekennen.
Wenn wir den Blick nicht nur nach innen richten - -
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Ich komme zu meinem letzten Absatz.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nein, keinen Absatz mehr. Einen Satz noch!
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Wenn wir den Blick nicht nur nach innen richten, sondern auch von außen auf die Europäische Union schauen, dann stellen wir fest: Während sich im Blick von innen die Vielfalt der Europäischen Union eröffnet, zeigt sich von außen die Einheit. Beides müssen wir bewahren. Die ewige Herausforderung der Europäischen Union wird es sein, eine Balance zwischen Vielfalt und Einheit zu finden.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c und 19 b auf:
4. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Kornelia Möller, Katja Kipping, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Resultate und gesellschaftliche Auswirkungen der Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt - Hartz-Gesetze -, insbesondere von Hartz IV
- Drucksachen 16/2211, 16/4210 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue effiziente Strukturen in der Arbeitsverwaltung - Auflösung der Bundesagentur für Arbeit
- Drucksache 16/2684 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia Möller, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verlängern
- Drucksache 16/3538 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
19. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Kunert, Roland Claus, Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Freigabe der im Bundeshaushalt einbehaltenen Mittel der Arbeitsmarktpolitik für das Jahr 2007
- Drucksache 16/4749 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Zur Großen Anfrage der Fraktion Die Linke liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke, das Wort.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat umfangreich Antwort auf eine Große Anfrage der Fraktion Die Linke zur Lage derjenigen in Deutschland, die Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger sind, gegeben. Die Aussprache lässt nur in geringem Umfang Raum, auf diese Antworten einzugehen.
Ich beginne mit zwei Zeitungsmeldungen. Heute meldet die ?Berliner Zeitung“:
Preise steigen schneller als die Löhne
Bruttoverdienste nahmen 2006 nur um 0,7 Prozent zu
Die ?Süddeutsche Zeitung“ eröffnet mit der Überschrift:
Mehr Arbeitsplätze in DAX-Konzernen
Unternehmen verdienen so gut wie nie zuvor / Konjunktur treibt besonders die Gewinne der Banken
Wahrscheinlich ist die große Mehrheit der Auffassung, dass diese Meldungen wenig miteinander zu tun haben, oder man vertritt die Auffassung, dass das Kürzen von Arbeitslosengeld und der Druck auf die Arbeitslosen dazu geführt haben, dass die Konjunktur in Deutschland angezogen hat. Diesbezüglich möchte ich eine Antwort der Bundesregierung zitieren. Frage 13 der Großen Anfrage lautete:
Welche Auswirkungen haben die Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt nach Auffassung der Bundesregierung auf die Verhandlungsposition der Gewerkschaften in Tarifauseinandersetzungen sowie auf das System der betrieblichen Mitbestimmung unter besonderer Berücksichtigung von angedrohtem Arbeitsplatzabbau und angekündigten Produktionsverlagerungen ins Ausland sowie im Zusammenhang mit Arbeitgeberforderungen nach unbezahlter Erhöhung der Arbeitszeit, unbezahlten Überstunden und Lohnverzicht?
Die Antwort der Bundesregierung ist ganz schlicht. Sie lautet:
Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse darüber vor, ob die Gesetze für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt die Verhandlungspositionen der Gewerkschaften und Betriebsräte beeinflusst haben.
Da bleibt einem wirklich die Spucke weg.
Man stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung in den letzten Monaten jemals Gespräche mit Betriebsräten oder Gewerkschaften geführt hat. Bei jedem Gespräch hört man, dass Hartz IV die Verhandlungsposition der Betriebsräte und der Gewerkschaften massiv untergraben und unterminiert hat. Die Bundesregierung sagt aber, dass ihr ?keine Erkenntnisse“ vorliegen. So kann man nicht über die Köpfe der Menschen in Deutschland hinweg regieren; so kann man nicht antworten.
Die Wahrheit ist, dass das ständige Herabsinken der Löhne in Deutschland ein Ergebnis der verfehlten Politik der Regierungen der letzten Jahre ist.
Die Rutschbahn, die eröffnet worden ist, hat Namen. Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind dafür verantwortlich.
Auf der einen Seite ist Hartz IV zu nennen: der Zwang, Beschäftigung, die deutlich unter dem Durchschnittsniveau bezahlt ist, anzunehmen. Es ist doch klar, dass dies ein Anreiz für Unternehmerinnen und Unternehmer ist, Arbeitsplätze anzubieten, die deutlich unter dem Durchschnittsniveau entlohnt werden. Sie müssen die Folgen Ihrer Handlungen bedenken, wenn Sie hier Gesetze beschließen!
Auf der anderen Seite ist die Leiharbeit zu nennen. Wenn Sie zulassen, dass immer mehr Betriebe in immer größerem Umfang Leiharbeiter einstellen, die deutlich geringer als die Beschäftigten der Stammbelegschaft bezahlt werden, schaffen Sie einen zweiten Mechanismus, um die Löhne in Deutschland immer weiter nach unten zu bringen. Hartz IV und Leiharbeit sind zusammen Ursachen dafür, dass die Reallöhne in Deutschland immer weiter absinken.
- Das hängt zusammen, verehrte Frau Kollegin Nahles: Wenn man die Arbeitnehmerposition systematisch, Zug um Zug, schwächt, dann rutschen die Löhne. Nehmen Sie das doch bitte zur Kenntnis! Ich erzähle doch keine Fabel.
Die nächste Maßnahme, die die Löhne ins Rutschen bringt, ist die Scheinselbstständigkeit. Auch hier gibt es ausreichend Anhaltspunkte. Kollege Gysi hat bereits die europäische Dimension dieses Problems im Hinblick auf die Bolkestein-Richtlinie angesprochen.
Die letzte Station ist die permanente Verweigerung der Mehrheit dieses Hauses, im Gegensatz zu allen anderen europäischen Staaten eine untere Grenze zu ziehen, also einen gesetzlichen Mindestlohn zu schaffen.
Diese vier gravierenden Fehlentscheidungen in der Arbeitsmarktpolitik führen dazu, dass die Löhne immer weiter nach unten rutschen.
Es ist gut, dass eine Diskussion darüber eingesetzt hat, ob dieser Prozess so weitergehen kann. Es ist nicht gut, dass Sie bei solchen Debatten immer die Wahrheit, die Fakten ignorieren und von Ihren eigenen Versäumnissen ablenken. Es ist wirklich der Gipfel - das möchte ich einmal sagen; vielleicht dämmert Ihnen etwas, wenn ich Ihnen dies mitteile -, dass heute der Betriebsratsvorsitzende und sein Stellvertreter eines großen Betriebes an der Saar das Parteibuch zurückgegeben haben. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können solcherlei Politik nicht mehr verstehen.
Sie ziehen ihre Konsequenzen. Das ist die unausweichliche Folge solcher Fehlentscheidungen.
Nun komme ich zur zweiten Frage - Frage 15 der Großen Anfrage -, die ich ansprechen wollte:
In welchem Zusammenhang steht nach Ansicht der Bundesregierung die Zunahme von prekärer oder atypischer Beschäftigung - bei gleichzeitigem Rückgang sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse …?
Auch dazu sagt die Bundesregierung:
Eine belastbare Aussage über mögliche Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der beiden Beschäftigungstypen ist nicht möglich.
Da fragt man sich, wo diejenigen, die diese Antwort geschrieben haben, eigentlich leben. Es wird ernsthaft behauptet, dass es nichts miteinander zu tun habe, wenn man das Tor zu ungesicherten, prekären Arbeitsverhältnissen aufstößt und gleichzeitig die Zahl der sozialversicherungspflichtigen, regulären Arbeitsplätze zurückgeht. Die Wahrheit ist das Gegenteil. Je mehr man die Möglichkeit geschaffen hat, ungesicherte, prekäre Arbeitsverhältnisse einzurichten, umso mehr geht die Zahl der normalen Arbeitsplätze in Deutschland zurück. Das ist eine völlige Fehlentwicklung und eine Konsequenz Ihrer Arbeitsmarktpolitik.
Dies ist für uns auch ein Abbau der Demokratie; ich möchte das aufgrund der Knappheit meiner Redezeit nur kurz ansprechen. Niemand hat dies deutlicher gemacht als der große französische Soziologe Pierre Bourdieu. Er wies darauf hin, welche Konsequenzen es für die Menschen hat, wenn sie am Monatsende nicht wissen, ob sie noch genug Geld haben, um zu Aldi zu gehen und Lebensmittel zu kaufen. Er wies darauf hin, welche Konsequenzen es für die Menschen hat, wenn sie am Monatsende die Miete nicht zahlen können. Er wies darauf hin, welche Konsequenzen es für die Menschen hat, wenn sie nur damit beschäftigt sind, sich zu fragen, ob sie die Strom- und Gasrechnung bezahlen können. Seine Schlussfolgerung war, dass diese Menschen die Zukunft nicht mehr planen können und ihnen damit die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verwehrt ist.
Deshalb müssten Zahlen wie die, die heute vom DIW veröffentlicht worden sind, dass die Einkommensarmut in Deutschland in den letzten Jahren von 12 auf 17 Prozent angestiegen ist und dass sich die Einkommensarmut bei 10 Prozent der Bevölkerung verfestigt hat, Sie erschüttern und dazu bringen, Ihre Handlungen zu überdenken und Ihre Politik zu revidieren.
Es ist gut, dass eine Fraktion - ich spreche jetzt die Grünen an - zu der Einsicht gelangt ist, dass Hartz IV vielleicht doch eine gravierende Fehlentscheidung war und dass man Hartz IV reformieren sollte. Ich begrüße diese Diskussion ausdrücklich. Ich begrüße auch die Diskussionen in der CDU/CSU, die darauf hinauslaufen, dass man die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht systematisch enteignen kann. Ich sage noch einmal: Es ist ein Skandal, wenn ein älterer Arbeitnehmer 60 000 Euro in die Arbeitslosenkasse eingezahlt hat und im Fall der Arbeitslosigkeit nur 10 000 Euro zurückbekommt. Korrigieren Sie endlich diese Enteignung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer!
Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, Hartz IV ist eine gravierende Fehlentscheidung, die zur Rückentwicklung der Reallöhne führt. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen für viele Menschen in Deutschland ist eine Konsequenz Ihrer verfehlten Politik.
- Zum Zuruf von Ihnen in der ersten Reihe: Wenn immer mehr Betriebsräte das SPD-Parteibuch zurückgeben, dann geschieht es Ihnen recht. Sie ziehen damit die Konsequenzen aus Ihrer verfehlten Politik.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Kollege Gerald Weiß.
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gehe jetzt nicht auf den gesamten linkspopulistischen Exkurs ein, den Herr Lafontaine hier veranstaltet hat.
Er sprach vom Faktenignorieren; da hat ein Fachmann gesprochen.
Ich will mich auf den Antrag der Linken, der hier vorliegt, konzentrieren: ?Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verlängern“. Diesen hat Herr Lafontaine in einem Teilaspekt angesprochen. Das ist ein klassisches Beispiel dafür, wie man grundlegende Wirkungen, Wechselwirkungen und Fakten in einer Volkswirtschaft ignorieren kann und eine Volkswirtschaft, eine Gesellschaft kaputtmachen kann, was zu beweisen ist. Dieser Antrag ist im doppelten Sinne verantwortungslose Politik,
frei nach Shakespeares ?Wie es euch gefällt“: ein Sammelsurium populistischer Ohrwürmer, die Sie durch die Halle treiben, ein Fesselballon, losgelöst von allen Fakten, Wirkungen und Wechselwirkungen.
Ich nehme als Erstes Ihre Kernforderung. Wenn der Anspruch auf Arbeitslosengeld I mit jedem Beitragsjahr um einen Monat wachsen soll, dann ist das, Herr Lafontaine, im Ergebnis ein Programm zur Zerstörung der Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wer länger einzahlt, der soll auch länger ALG I erhalten - das hört sich gut an, das ist ein Gedanke, der der Union sehr vertraut und nahe ist.
Man kann dieses Prinzip aber ins Groteske verkehren: 30 Jahre Beitrag - 30 Monate ALG I, 35 Jahre Beitrag - 35 Monate ALG I, 40 Beitragsjahre - 40 Monate ALG I.
Das wäre doch ein verlockendes Angebot für die großen Konzerne in unserem Land, um ihre Leute wieder mithilfe der Mittel aus den öffentlichen Kassen in den Vorruhestand zu schicken.
Herr Lafontaine, können Sie denn nicht aus den Fehlern lernen? Das, was Sie veranstalten wollen, wäre ein neues, gigantisches Vorruhestandsprogramm, von den Beitragszahlern bezahlt.
Vor diesem Unfug wird die Mehrheit des Hauses Sie bewahren. Das, was Sie hier vorschlagen, wird nicht Wirklichkeit werden. Die Große Koalition will exakt das Gegenteil:
Wir wollen mehr Chancen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und nicht weniger Chancen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wir wissen, dass wir bei der Gestaltung der Bezugsdauer - innerhalb der Union haben wir uns über diesen Aspekt ganz schön gestritten - auf einem schmalen Grat zwischen Frühverrentungsanreizen, die wir nicht wollen, und Leistungsgerechtigkeit gehen. Mit Ihrem Antrag verfallen Sie in den alten Fehler der Betonung der Frühverrentungsanreize. Diesen Fehler dürfen wir aber nicht noch einmal machen. Davor müssen wir diese Gesellschaft bewahren.
Der zweite Baustein, der bei einem linkspopulistischen Potpourri nicht fehlen darf: das Zumutbarkeitsprinzip. Sie wollen Dämme gegen Bildungsbereitschaft und Mobilität. Das sind Dämme für starres Besitzstandsdenken in dieser Volkswirtschaft und in dieser Gesellschaft.
Ich glaube, dass die Zumutbarkeitskriterien, die jetzt im Gesetz stehen, angemessen sind. Ich glaube, Sie sind nicht in der Lage, sich sachlich damit auseinanderzusetzen. Sie wollen bei den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie bei den Arbeitslosen auf die ganz billige Tour punkten.
Für deren Befindlichkeiten und Situation haben wir Verständnis. Wir haben auch Verständnis für die Beitragszahler. Wenn jemand zumutbare Arbeit ablehnt, müssen andere dafür bezahlen, nämlich die Beitragszahler. Wir haben ein solidarisches System. Wenn zumutbare Arbeit abgelehnt wird, müssen die Beitragszahler solidarisch dafür einstehen. Daher brauchen wir eine vernünftige Balance zwischen den Interessen und Belangen der betroffenen Arbeitslosen und Arbeitnehmer, die wir ernst nehmen, und den Interessen der Beitragszahler. Das muss in einem Gleichgewicht sein. Wir sehen dieses Gleichgewicht.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Möller von der Fraktion Die Linke?
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Ja.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Bitte.
Kornelia Möller (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass Widersprüche keine aufschiebende Wirkung mehr haben? Ist Ihnen ferner bekannt, dass arbeitslose Menschen in Arbeit gebracht werden, die sie aufgrund ihrer körperlichen Verfasstheit nicht ausüben können, wenn sie nicht Gesundheitsschäden davontragen wollen, diese Menschen diese Arbeit aber so lange ausüben müssen, bis über den Widerspruch entschieden ist?
Sie sagen dann: ?Jeder muss zumutbare Arbeit annehmen“. Doch das trifft nicht. Denn die Menschen müssen an dem Punkt auch nicht zumutbare Arbeit annehmen, wenn sie ihren Anspruch nicht verlieren wollen. Das heißt, in der Realität - Sie müssen sich einmal anschauen, wie die Praxis aussieht - werden sie gezwungen, Arbeiten auszuführen, die sie aufgrund ihrer körperlichen Verfasstheit nicht machen können.
Darauf hätte ich gern eine Antwort.
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Die können Sie haben. Im Gesetz steht: Von niemandem kann die Aufnahme einer Arbeit verlangt werden, durch die er in irgendeiner Hinsicht überfordert ist, besonders natürlich in gesundheitlich-körperlicher Hinsicht. Ein Blick ins Gesetz hätte Sie belehrt; Sie hätten sich die Antwort ganz einfach erschließen können. - Vielen Dank, Sie dürfen sich setzen.
Noch einmal: Wir meinen die Zumutbarkeitskriterien wie heute gefasst - sie sind bei der Hartz-Reform nur geringfügig, im Sinne von Klarstellungen, verändert worden - sind in einer vertretbaren Balance zwischen den Interessen der Arbeitslosen und den Interessen der beitragszahlenden Arbeitnehmer.
Ich will noch etwas zum Baustein Übergangsregelung, dem befristeten Zuschlag nach dem Bezug von Arbeitslosengeld I, sagen. Wir wissen, dass denjenigen, deren Bezug von Arbeitslosengeld I ausläuft, befristet ein Zuschlag gezahlt wird, der dann abgestuft wird. Sie wollen hier höhere Leistungen, Sie wollen längere Bezugsdauern usw.
Ich glaube, dass die Regelung, wie sie heute ist, dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit entspricht. Es ist ja diskutiert worden, diesen Zuschlag abzuschaffen. Ich glaube, das wäre nicht gerecht: Wir dürfen denjenigen, der oft sehr lange gearbeitet hat und dann den bitteren Weg der Arbeitslosigkeit und des Bezugs von Arbeitslosengeld I geht, beim Übergang zum Arbeitslosengeld II nicht so stellen wie den Kiosksteher, der sich sein Leben lang nicht für Arbeit interessiert hat. Wir müssen deshalb an diesem Übergangsgeld als Ausdruck der Leistungsgerechtigkeit festhalten.
Das, was Sie zur Mindestabsicherung sagen, bewegt sich, das wissen Sie selbst, zwischen Rosstäuscherei und Hochstapelei und illusorischen Vorstellungen. Sie verkaufen diesen Aspekt als etwas revolutionär Neues; doch im Wesentlichen - das wissen Sie - wollen Sie ein paar Bezugszeiten verändern. Sie gaukeln den Leuten etwas vor. Die Mindestabsicherung, glaubt der Normalsterbliche, ist wertdefiniert, das ist eine gewisse Mindestleistung, unabhängig von dem Arbeitseinkommen, das man vorher hatte, und von der Versicherungsleistung, die man vorher hatte. Im Grunde wollen Sie hier graduelle Veränderungen. Über die kann man möglicherweise reden - sofern wir dem Beitragszahler weitere Lasten zumuten können und wollen. Aber da sehen wir eine deutliche Grenze. Wir wollen den Beitragszahler nach Möglichkeit entlasten. Deshalb treten wir auch dafür ein, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag noch einmal, so weit wie irgend machbar, abzusenken.
Das beste Konjunkturprogramm, das man sich vorstellen kann, Herr Lafontaine, sind nicht irgendwelche staatlichen, großen Veranstaltungen, sondern das sind die Stärkung der Kaufkraft der Arbeitnehmer
und die Begrenzung der Lohnnebenkosten der Unternehmer durch das Absenken von Sozialversicherungsbeiträgen, wo immer das möglich ist.
Diesen Weg müssen wir gehen und nicht den Weg, den Sie uns hier aufzeigen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
Dirk Niebel (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist - das muss man nach wie vor feststellen - der richtige Schritt gewesen. Es war völlig unverständlich, dass wir als wohl einziger Staat der Welt für den gleichen Lebenssachverhalt - dass man sich von der eigenen Tätigkeit nicht ernähren kann - zwei unterschiedliche steuerfinanzierte Transferleistungen vorgehalten haben. Das war nicht nur unsinnig. Das war auch teuer - zum Thema ?teuer“ komme ich noch - und für die betroffenen Menschen entwürdigend. Denn sehr viele Arbeitslosenhilfeempfänger haben gleichzeitig auch Sozialhilfe als ergänzende Leistung zum Lebensunterhalt bekommen. Diese Personen mussten sich im Hinblick auf ihre intimsten wirtschaftlichen Daten vor zwei wildfremden Behörden praktisch entkleiden. Das war unwürdig. Deswegen war die Zusammenlegung vom Grundsatz her völlig richtig.
Nichtsdestotrotz bin ich immer noch der Ansicht, man hätte es anders machen können. Es gibt die unterschiedlichsten Stilblüten, die man sich wirklich kaum vorstellen kann.
So hat zum Beispiel ein kommunaler Träger der Hilfe eine Wohnung einer kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, die zu groß war, dadurch ?passend“ gemacht, dass ein Zimmer in der Wohnung abgeschlossen wurde. So einen Schwachsinn muss man sich erst einmal einfallen lassen.
Ein zweites Beispiel: Ein Partner in einer Bedarfsgemeinschaft, der sich in einem dauerhaften Beschäftigungsverhältnis befand, wurde aufgefordert, dieses zu beenden, um in einem befristeten Beschäftigungsverhältnis eine Tätigkeit mit einem höheren Stundenlohn aufzunehmen, um dadurch kurzzeitig den Bedarf der Gemeinschaft zu decken. Auch das ist dämlich hoch zehn.
Dennoch bleibt die Zusammenführung grundsätzlich richtig.
Wer allerdings glaubt, er könne, indem er aus zwei Behörden drei Behörden macht, Geld einsparen und damit die Schaffung zusätzlicher Krippenplätze finanzieren, der ist schlichtweg nicht in der Lebenswirklichkeit angekommen.
Wer aus zwei Behörden drei Behörden macht, kann mit Sicherheit nicht Geld einsparen, sondern wird stets mehr Kosten haben. Deswegen haben wir von vornherein die einheitliche Trägerschaft auf kommunaler Ebene gefordert. Das ist, wie die Fakten belegen, nach wie vor richtig.
Dieser Schritt ist nicht nur effizienter, sondern dadurch wird auch verhindert, dass es zu Stilblüten der eben genannten Art kommt.
Wenn der Main-Kinzig-Kreis als Optionskommune
- ja, der dortige Landrat ist von der SPD - vor den hessischen Sozialgerichten das Recht einklagen muss, auf die Stellendaten der Bundesagentur zugreifen zu dürfen, und dies sogar mit der Androhung von Beugehaft für den Anstaltsleiter in Nürnberg, Herrn Weise, verbunden wird, dann frage ich mich wirklich, in welcher Republik wir eigentlich leben.
Jeder, der vermitteln kann, sollte dies tun dürfen und demzufolge auch Zugriff auf die Stellendaten haben. Das zeigt wieder einmal, wie richtig es wäre, die Betreuung der Arbeitslosen in einer Hand zu bündeln.
Diese Bündelung in einer Hand macht nach unserem Dafürhalten nur dort Sinn, wo die Menschen und die Arbeitsplätze sind: vor Ort auf kommunaler Ebene.
Aus diesem Grund, Herr Kollege Brandner, sind wir nach wie vor der festen Überzeugung: Weil die Bundesagentur als Mammutbehörde in ihrer jetzigen Struktur nicht reformierbar ist, ist der beste Weg, um zu einer besseren Betreuung von Arbeitsuchenden und Arbeitgebern zu kommen, der Akt der Auflösung der Bundesagentur für Arbeit.
Herr Brandner - das sage ich Ihnen, damit auch Sie das irgendwann einmal verstehen -, die Auflösung der Bundesagentur bedeutet, dass es diese Behörde eine juristische Sekunde lang nicht gibt. Das hat unheimlich viele Vorteile. Eine Behörde, die es nicht gibt, hat keine internen Verwaltungsvorschriften, deren Anwendung die Arbeitszeit mehr als in Anspruch nehmen würde, sondern sie ist an das Gesetz gebunden. Man kann zwar die eine oder andere neue Vorschrift erlassen, aber man braucht bei Weitem nicht mehr den Umfang von Vorschriften, den es gegenwärtig gibt.
Eine Behörde, die es nicht gibt, hat keine drittelparitätische Selbstverwaltung, in deren Rahmen Arbeitgeberfunktionäre, Gewerkschaftsfunktionäre und diejenigen, die ihre öffentlichen Hände meistens in den Taschen der Bürger haben, die Arbeitsmarktpolitik undemokratisch auskungeln.
- Lieber Herr Brandner, Ihr sozialdemokratischer Kollege, der ehemalige Arbeitsminister Ehrenberg, hat damals gesagt: Wer immer in den Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit gewählt wird, nimmt nach kurzer Zeit den gleichen drittelparitätischen schafsähnlichen Gesichtsausdruck an.
Dort wird das Geld anderer Leute auf eine Art und Weise verwaltet, die zur Folge hat, dass die Arbeitsuchenden keine Integrationschancen haben und die Arbeitgeber nicht die passenden Arbeitskräfte bekommen.
Herr Brandner, da schon der Kollege Lafontaine die Betriebsräte im Zusammenhang mit den Hartz-Reformen erwähnt hat - das war ein ganz besonderes Bonmot -,
möchte ich auf einen weiteren entscheidenden Vorteil der Auflösung einer Behörde hinweisen. Eine solche Auflösung bedeutet, dass die Personalräte nicht mehr jede vernünftige Veränderung blockieren und sich nicht mehr jede Mitwirkungsmöglichkeit wie auf einem arabischen Basar teuer erkaufen können. Nach der Auflösung der Behörde kann man für eine vernünftige Personalstruktur sorgen, indem man das Personal der Aufgabe folgen lässt: mit Änderungskündigungen, Versetzungen und gesetzlichen Betriebsübergängen. Den richtigen Weg, wie man eine vernünftige Struktur schaffen kann, haben wir in unserem Antrag auf Schaffung effizienter Strukturen in der Arbeitsverwaltung sehr dezidiert beschrieben.
Meine Damen und Herren, es ist tatsächlich richtig, dass die Arbeitslosenversicherung eine Ausfallbürgschaft für einen klar begrenzten Suchzeitraum ist, in dem der Lebensstandard abgesichert werden soll. Man kann trefflich darüber streiten, wann dieser Suchzeitraum beendet sein muss und wann nicht.
Der Kollege Weiß hat sehr genau beschrieben, wie eine lange Arbeitslosengeldbezugsdauer auf Frühverrentungen und auf die Initiative wirkt, wieder eine Tätigkeit aufzunehmen, wo sich doch die Leistung, die man bezieht, an dem letzten Nettogehalt orientiert, das mit der Dauer der Arbeitslosigkeit in der Regel nur geringer erzielt werden kann. Deswegen geht es bei der Frage der Gerechtigkeit nicht darum, ob man einen Monat länger oder kürzer Arbeitslosengeld I bezieht.
Die Frage, die sich den Menschen unter dem Stichwort Gerechtigkeit unmittelbar stellt, lautet, was passiert, wenn der Bezug des Arbeitslosengeldes wann auch immer zu Ende ist. Wird dann die gesamte Lebensleistung eines Menschen zur Disposition gestellt? Wird derjenige, der gearbeitet und vorgesorgt, also das getan hat, was Politiker zu Recht von ihm fordern, schlechter gestellt als derjenige, der vielleicht niemals Eigenvorsorge betrieben hat - ob er es nicht konnte oder nicht wollte, sei völlig dahingestellt -, sondern der das Geld, das er zur Verfügung hatte, auch ausgegeben hat? Hier stellt sich die Gerechtigkeitsfrage.
Deswegen glaube ich ernsthaft, dass wir zwar vielleicht darüber reden müssen, was nach Auslaufen des Bezuges von Arbeitslosengeld mit der erarbeiteten Lebensleistung geschieht, aber wir sollten mit Sicherheit nicht den Fehler begehen, bei der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I als Regelsatz eine Rolle rückwärts zu machen. Nach unserem Konzept - wir fordern die Auflösung der Bundesagentur - ist das auch gar nicht nötig, weil wir die Arbeitslosenversicherung über den Regeltarif hinaus nach dem Äquivalenzprinzip gestalten. Dabei kann jeder seinen eigenen Anspruch auf Absicherung über Wahltarife gewährleisten und gestalten.
Das ist eine freiheitliche Lösung, mit der den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben wird, bei voller sozialer Absicherung in einem solidarischen System dafür zu sorgen, dass ihre individuellen Sicherheitsbedürfnisse ebenso Berücksichtigung finden.
Deswegen kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass Sie unserem Antrag nicht zustimmen, und ich freue mich auf Ihre Zustimmung.
Vielen herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd Andres das Wort.
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was ich hier in der Hand halte, sind die Drucksachen, die wir heute beraten.
Darunter befindet sich eine Große Anfrage der Linken mit 125 Fragen. Die Drucksache umfasst 73 Seiten.
Allen, die sich für die Probleme der Arbeitsmarktreform und der Arbeitsmarktentwicklung interessieren, empfehle ich diese Drucksache sehr.
Sie gewinnt ihren Gehalt durch die Antworten der Bundesregierung und nicht durch die Fragen der Linken.
Dass Oskar Lafontaine eine Frage daraus zitiert hat, ändert auch nichts daran. Mit ihm beschäftige ich mich gleich noch.
Ich will erst einmal etwas zu Herrn Niebel sagen: Ich kenne überhaupt niemand anderen, der mit einer solchen Häme und Gehässigkeit seinen eigenen Arbeitgeber in den Debatten hier immer niedermacht. Man muss nämlich wissen, dass für Herrn Niebel bei der Bundesagentur für Arbeit noch ein Arbeitsplatz freigehalten wird. Man kann sich natürlich die Frage stellen, ob das Zitat von Herbert Ehrenberg auch auf ihn zutrifft und er hier längst einen schafsgesichtigen Eindruck macht.
Ich empfehle Herrn Niebel wirklich, dass er sich einmal vorstellt - er hat hier rhetorisch gefordert, man solle sich einmal eine Behörde vorstellen, die es nicht gibt -, dass es für seine Vorstellungen keine politische Mehrheit gibt. Das ist genug Antwort. Deshalb brauchen wir uns mit Ihnen nicht mehr auseinanderzusetzen. Wir werden die BA nicht auflösen, und es wird die logische Sekunde nicht geben.
Deswegen ist Ihre Drucksache damit ganz schlicht und ergreifend erledigt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Nein, er kann hinterher eine Kurzintervention machen. Er hat ja gerade geredet. Jetzt rede ich meinen Teil.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch mehr als die Antworten auf die Große Anfrage und noch deutlichere Antworten liefert ein Blick auf die Fakten. Da halte ich es in der Tat mit Oskar Lafontaine. Wer sich nämlich die Situation auf dem Arbeitsmarkt anschaut und den Februar 2007 mit dem Februar des Vorjahres vergleicht, der kann Folgendes feststellen: 826 000 Arbeitslose weniger, 535 000 Erwerbstätige und davon 452 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr, Rückgang der Zahl der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die sich im Rechtskreis des SGB II befinden, Rückgang der Zahl der Bedarfsgemeinschaften.
Das ist eine rundherum ziemlich positive Entwicklung. Ich sage und füge hinzu: Dies hat auch mit den Arbeitsmarktreformen zu tun, die wir in den letzten Jahren hier mühsam durchgesetzt haben. Jetzt entfalten sie ihre Wirkungen.
Ich finde, die Bilanz kann sich sehen lassen.
Die Wende auf dem Arbeitsmarkt hat längst stattgefunden, auch wenn Sie sie in Ihrem Entschließungsantrag - diesem Papier in grün - noch fordern. Ich finde, Sie haben den Startschuss nicht gehört, sondern längst verpennt.
Wir haben die Arbeitsmarktpolitik mithilfe der Grünen kräftig umgekrempelt. Mein Blick fällt gerade auf die Kollegin Thea Dückert, die bei den ganzen Arbeitsmarktreformen hervorragend mitgearbeitet hat.
Ich finde, dass sich das, was wir in der Arbeitsmarktpolitik erreicht haben, durchaus sehen lassen kann.
Ich komme zum nächsten Punkt. Herr Lafontaine, Sie sind für mich in sozialpolitischen Debatten - und nicht nur darin - nicht besonders glaubwürdig. Ich kann mich nämlich an alte Diskussionen mit Ihnen erinnern. Bei der Regelung der geringfügigen Beschäftigung habe ich mich seinerzeit häufiger mit den Beispielen der Firma Wagner-Pizza und anderer aus dem Saarland beschäftigen müssen.
Ich will Ihre Frage mit einer rhetorischen Frage erwidern. Sie haben gefragt, wie jemand behandelt wird, der 40 Jahre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat. Die Arbeitslosenversicherung ist eine Risikoversicherung. Was machen wir mit dem, der sein Leben lang Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat, ohne arbeitslos zu werden? Sollen ihm am Ende seines Erwerbsleben seine Beiträge zurückgezahlt werden, oder wie hätten sie es gerne?
Ihr Beispiel aus der Praxis macht deutlich, dass Sie keine Ahnung von den Tatbeständen haben.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lafontaine?
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Nein. Er hatte schon Redezeit. Er kann sich zu einer Kurzintervention melden.
Die gute Entwicklung erfasst nicht nur die Arbeitslosen, die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten, sondern auch die Langzeitarbeitslosen profitieren. Es gibt kräftig Bewegung im System. Ich sage ausdrücklich: Fördern und fordern zahlt sich richtig aus.
Wir stempeln die Menschen nicht mehr als arbeitslos ab, sondern helfen ihnen zurück in Arbeit. Wir bieten ihnen eine Perspektive und organisieren Teilhabe.
Das gilt ganz besonders für die Gruppen, die es am Arbeitsmarkt schwerer haben. Das bedeutet für jeden Einzelfall mehr Chancen, Perspektiven und Teilhabe. Darum geht es uns in der Arbeitsmarktpolitik.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Möller?
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Die Dame kann sich ebenfalls zu einer Kurzintervention melden. Das können nach meiner Rede alle machen.
Wir haben mit den Reformen am Arbeitsmarkt systematisch eine Grundkonzeption durchgesetzt, die nichts mit dem Fürsorgestaat zu tun hat, der im Sozialhilfesystem über viele Jahre hinweg nach dem Motto ?Wir zahlen den Leuten den Unterhalt; ansonsten sollen sie uns möglichst in Ruhe lassen“ gehandelt hat, sondern bei der es um den aktivierenden Sozialstaat geht.
Ich füge hinzu: Wir arbeiten Stück für Stück den Koalitionsvertrag ab. Wir fördern mit insgesamt 25 Milliarden Euro Investitionen und steigern somit die inländische Nachfrage. Wir senken die Lohnnebenkosten und stärken mit der Steuerreform die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Das sind konkrete Ergebnisse und Maßnahmen, die sich auch mit Großen Anfragen nicht wegdiskutieren lassen.
In Ihren Fragen kommt ein völlig falsches Grundverständnis von Sozialpolitik und aktivierender Arbeitsmarktpolitik zum Ausdruck. Ich empfehle Ihnen dringend, den Aufschwung zu nutzen, um in der Arbeitsmarktpolitik weiter voranzukommen, und eine andere Grundeinstellung einzunehmen, um für mehr Beschäftigung zu sorgen.
Über die Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld ist bereits gesprochen worden. Ich will aber eines ausdrücklich in Erinnerung rufen: Bis zum Jahre 1984 gab es in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich ein Jahr Arbeitslosengeld. Herr Blüm und die christlich-liberale Koalition haben unter bestimmten Zwängen die Bezugsdauer systematisch verlängert.
Arbeitslosengeld kann jetzt ein Jahr bzw. von über 55-Jährigen 18 Monate bezogen werden. Das halten wir für richtig. Wir denken nicht daran, zu der alten Regelung zurückzukehren. Denken Sie daran, wie beispielsweise große Unternehmen mit dieser Regelung umgegangen sind: Die Zahlung des Arbeitslosengeldes wurde dazu genutzt, um wunderbare Übergänge zur Frühverrentung oder Ähnlichem zu schaffen.
Wir halten die bestehende Regelung für richtig und vernünftig in dem Sinne, Menschen eher in Arbeit zu bringen, als sie länger in Arbeitslosigkeit zu halten.
Ich will einige Punkte aus dem Entschließungsantrag, diesem grünen Papier, ansprechen. Ich kann genauso wenig wie meine Vorredner auf die gesamte Große Anfrage eingehen, aber ich will ein schönes Argument aufgreifen. Sie kommen immer wieder - gestern hat es im Ausschuss und in der Fragestunde eine Rolle gespielt und auch jetzt ist es wieder Thema - auf die Widerspruchsverfahren zu sprechen. Ich möchte Sie auf Folgendes aufmerksam machen: Sie müssen die Widerspruchsverfahren zur Zahl der Leistungsbezieher bzw. der Personen, die das System umfasst, in Beziehung setzen.
- Sie werden es nicht glauben, aber selbst ich habe gemerkt, dass es zugenommen hat. Herzlichen Dank!
Aber wir haben die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ganz bewusst auch deswegen gemacht, weil wir die verdeckte Armut in diesem Lande aufdecken wollten. Das haben wir mit dem neuen System geschafft.
Es stimmt, dass wir nun ungefähr 500 000 Personen mehr - es ist noch strittig, ob es vielleicht nur 400 000 sind - im neuen System haben als vorher bei Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe zusammen.
Das System hat bewirkt, dass verdeckte Armut aufgedeckt wurde. Nun arbeiten wir die Zahlen Stück für Stück ab. Wir haben deutliche Erfolge und das ist auch gut so. Vergleichen Sie beispielsweise die Quote der Widerspruchsverfahren betreffend das Arbeitslosengeld II mit der betreffend die Arbeitslosenhilfe. Das waren im Jahre 2006 hochgerecht 9,8 Prozent im Vergleich zu 9,6 Prozent bei der Arbeitslosenhilfe im Jahre 2004; das ist keine wirkliche Steigerung. Mit Ihrer Großen Anfrage haben Sie Alarm geschlagen. Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Sie machen Politik und fordern alle Menschen auf, Widerspruch einzulegen, wenn es irgendwie möglich ist. Anschließend legen Sie Anträge vor, in denen Sie auf die hohe Zahl der Widerspruchsverfahren verweisen, und behaupten, da müsse etwas faul sein. Sie müssen sich schon für die richtige Melodie entscheiden.
Ich könnte jetzt Ihren wunderbaren Entschließungsantrag Punkt für Punkt auseinandernehmen, aber nur so viel: Gemessen an der Zahl der Leistungsbezieher befinden wir uns voll im Rahmen. Angesichts dessen, dass wir ein völlig neues Rechtssystem aufgebaut haben, nämlich das Arbeitslosengeld II, ist es nicht erstaunlich, dass es in der Anfangs- und Aufbauphase eine größere Zahl von Widersprüchen gab. Es gab sicherlich Unsicherheiten. Die Zahlen sind aber in Ordnung. Ich bitte Sie daher zur Kenntnis zu nehmen, dass das System nun läuft, dass es sich langsam settelt und dass wir alles daran setzen, Stück für Stück die Effizienz in diesem System zu verbessern. Sie können sich Ihre Melodie von den Widersprüchen und den Klageverfahren sonst wohin stecken. Mich beeindruckt das nicht besonders, genauso wenig wie die Fachleute, die sich damit auseinandersetzen.
Damit komme ich zum letzten Punkt. Wir haben in unserer Antwort auf Ihre Große Anfrage die Auswirkungen aller Arbeitsmarktreformen aufgezeigt, die wir durchgeführt haben. Wir haben es geschafft, die Bundesagentur für Arbeit deutlich umzubauen. Wir haben für sehr viel mehr Effizienz gesorgt. Das hat sich kostengünstig ausgewirkt und hat uns die Möglichkeit gegeben, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag abzusenken.
Wir haben immer dafür gekämpft, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber bei den Lohnnebenkosten zu entlasten.
Das haben wir geschafft, weil das System effizienter geworden ist, weil wir besser geworden sind, weil die Vermittlungsgeschwindigkeit höher geworden ist und weil mehr Menschen in Arbeit gekommen sind. Wir werden genau an diesem Weg unerschütterlich festhalten und es vorantreiben. Ob das den Linken gefällt oder nicht, ist dabei völlig egal.
Ich empfehle Ihnen, darüber nachzudenken, wie man das System verbessern kann, anstatt eine Linie zu verfolgen, die von vornherein nur auf eine Ablehnung des Systems hinausläuft. Ich sage Ihnen: Sie haben den Schuss nicht gehört. Der Zug ist abgefahren. Es bleibt bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Das ist gut für dieses Land. Vielleicht gewöhnen Sie sich daran.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nachdem Kollege Andres so freimütig zu Kurzinterventionen eingeladen hat, gibt es nun drei davon hintereinander. Zuerst kommt der Kollege Niebel, dann Kollege Lafontaine und Kollegin Möller.
- Mein Vorschlag ist, dass alle drei Kurzinterventionen nacheinander gestellt werden und dass Sie dann etwas länger Zeit zur Erwiderung haben.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun Herr Niebel.
Dirk Niebel (FDP):
Der Genosse Staatssekretär hat im Parlament die Menschen beschimpft und keine Zwischenfragen zugelassen. Das sagt einiges über seinen Mannesmut aus.
Aber die arrogante, oberlehrerhafte Art dieses Staatssekretärs zeigt natürlich, dass es politisch völlig richtig war, dass wir bei den Haushaltsberatungen die Streichung exakt dieser Stelle gefordert haben.
Nichtsdestotrotz wollen wir zur Sachlichkeit zurückkehren, Herr Kollege Staatssekretär.
Die Bundesagentur für Arbeit hatte im letzten Jahr einen eigenen Haushalt von ungefähr 53 Milliarden Euro. Das ist fast zwei Mal so viel wie der Staatshaushalt der Schweiz. Sie war mit diesen Mitteln, die von den Beitragszahlern aufgebracht wurden - die Steuermittel kommen noch hinzu -, bei ungefähr einem Drittel aller Beschäftigungsaufnahmen beteiligt.
Ohne jedwede Art von Schaum vor dem Mund muss man ganz klar feststellen: Mitteleinsatz und Ergebnis stehen in keinem ausgewogenen Verhältnis zueinander.
Die FDP ist der festen Überzeugung, dass wir mit möglichst vielen privatwirtschaftlichen Elementen eine staatliche Arbeitsvermittlung organisieren müssen, auch im Wettbewerb mit Privaten, aber eine staatliche Arbeitsvermittlung, weil es immer Regionen, Menschen und Branchen geben wird, die nicht in der Lage sind, attraktiv für einen privaten Vermittler zu sein. Es ist eine Aufgabe der Daseinsvorsorge des Staates, auch diesen Menschen ein Angebot zu machen.
Weil vor dem Hintergrund dessen, was die Bundesagentur in der Vergangenheit nicht konnte und heute immer noch nicht kann, früher oder später ein öffentlich-rechtliches Arbeitsvermittlungssystem zu Recht infrage gestellt werden würde, muss man die Bundesagentur zukunftsfähig aufstellen. Das kann man nur, indem man tatsächlich radikale Veränderungen durchführt. Diese kriegen Sie angesichts der internen Strukturen nur dann hin, wenn Sie mit dem Mittel der Auflösung der Behörde diese juristische Sekunde nutzen, um die Aufgaben neu zu ordnen, das Personal den Aufgaben folgen zu lassen und dadurch die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass staatliche Arbeitsvermittler überhaupt erst einmal in die Lage versetzt werden, erfolgreich arbeiten zu können. Das können sie nämlich, weil Sie so herumgemurkst haben, heute nicht.
Wir fordern völlig zu Recht die Einführung von marktgerecht ausgestalteten Vermittlungsgutscheinen. Bei dem, was Sie gemacht haben, geht es nur um die Frage, ob jemand kürzer oder länger arbeitslos ist. Für die Vermittlung bedarf es etwas mehr, als nur die Dauer der Arbeitslosigkeit festzustellen. Es bedarf eines umfassenden Bildes des Menschen, den man integrieren will, und eines umfassenden Bildes der Stelle, die man besetzen will. Wenn ich dem Arbeitssuchenden mit einem marktgerecht ausgestalteten Vermittlungsgutschein Nachfragemacht gebe, und zwar vom ersten Tag der Arbeitslosigkeit an, dann geht er mit seinem Gutschein zu dem Vermittler seines Vertrauens. Das kann der private sein, das kann aber auch der staatliche sein. Der muss sich zumindest in den erfolgsabhängigen Lohnkomponenten refinanzieren. Was meinen Sie, welche Veränderungsbereitschaft das intern mit sich bringt, zu Strukturen zu kommen, die es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Agentur ermöglichen, überhaupt erst einmal erfolgreich sein zu dürfen. Das sollten Sie bedenken. Wenn Sie weniger arrogant und weniger bräsig wären, sondern die Anträge der Opposition lesen würden, dann wüssten Sie auch, was wir beantragen, und könnten sachgerecht mit uns diskutieren.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile Kollegen Oskar Lafontaine das Wort zu seiner Kurzintervention.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Zwei Redner haben sich gegen die Verlängerung der Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewandt. Dazu möchte ich mich zunächst äußern. Es war der Kollege Weiß, wenn ich es recht in Erinnerung habe, der gesagt hat: Wir möchten die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor dieser Fehlentwicklung bewahren. - Was bringt Sie, Herr Kollege Weiß, eigentlich dazu, zu sagen, Sie möchten die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor einer Fehlentwicklung bewahren, die die große Mehrheit der Bevölkerung wünscht? Glauben Sie tatsächlich, Sie hätten so viel mehr Einblick in die Lebenszusammenhänge der Menschen und so viel mehr Kenntnisse der Lebensbedingungen älterer Arbeitsloser?
- Ja, so arrogant und dumm sind Sie. Das muss man wirklich sagen.
Glauben Sie wirklich, Sie als Nichtarbeitsloser und nicht von diesem Schicksal Betroffener hätten mehr Einsicht in diese Lebensbedingungen?
Deshalb möchte ich Ihnen sagen: Der Vorwurf des Populismus, der bei solchen Forderungen immer wieder erhoben wird - Populismus kommt auch aus Ihren Reihen; ich erinnere nur an die Forderung, das Arbeitslosengeld I länger zu zahlen -, ist letztendlich anmaßende Dummheit, weil man immer wieder glaubt, man wisse besser als die Mehrheit der Menschen, was ihnen nutzt und frommt. Schminken Sie sich eine solche Selbstgerechtigkeit ab, Herr Kollege Weiß! Das wollte ich Ihnen hier in aller Klarheit einmal sagen.
Nun hat der Kollege Andres gesagt, beim Arbeitslosengeld I könne man die Bezugsdauer nicht verlängern, weil sich dann die Frage stelle, wie derjenige behandelt werden solle, der nie arbeitslos werde. Dann müsse dieser, so haben Sie insinuiert, nach unserer Auffassung sein gesamtes Geld zurückbekommen. Das sind logische Fehlschlüsse, die hier gezogen werden. Wenn wir verlangen, für ältere Arbeitslose länger Arbeitslosengeld zu zahlen, dann heißt es, die Arbeitslosenversicherung sei keine Sparkasse. Wer behauptet denn, dass diese eine Sparkasse sei? Wer sagt denn, dass jeder das aus einer Versicherung zurückerhält, was er eingezahlt hat? Eine solche Forderung ist niemals erhoben worden.
Das zweite Argument ist, das sei nun einmal eine Versicherung, und damit sei es logischerweise so. Dazu möchte ich Ihnen sagen: Nennen Sie mir doch eine Autoversicherung, in die jemand 60 000 Euro einbezahlt hat und von der er im Schadensfall nur 10 000 Euro zurückbekommt? Oder nennen Sie mir eine Feuerversicherung, in die jemand 600 000 Euro einbezahlt hat und von der er im Schadensfall nur 100 000 Euro zurückbekommt? Ist Ihnen nicht klar, dass im Schadensfall eine Leistung erbracht werden muss, die mit der Summe, die der Betreffende eingezahlt hat, um sich gegen die Risiken des Lebens zu versichern, noch irgendetwas zu tun haben muss?
Ihre permanente Weigerung, das einzusehen, ist schlicht und einfach nicht akzeptabel. Sie enteignen ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in doppelter Form: Im Schadensfall bekommen sie noch nicht einmal einen Bruchteil dessen zurück, was sie eingezahlt haben, und sie werden noch gezwungen, ihre Ersparnisse zu opfern. Das ist einfach ein gesellschaftlicher Skandal.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollege Lafontaine, ich bitte Sie sehr herzlich, Vorwürfe in der Weise zu vermeiden, dass Sie jemand anderen hier im Hause schlicht ?dumm“ nennen. In der Kombination mit dem Vorwurf der Arroganz schlägt das dann auf Sie selbst zurück.
Ich bitte sehr darum, bei aller Schärfe der Auseinandersetzung in der Sache persönliche Angriffe zu vermeiden. Sie helfen niemandem.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt Kollegin Kornelia Möller.
Kornelia Möller (DIE LINKE):
Herr Präsident! Erstens. Herr Andres, Sie haben darauf hingewiesen, dass die Reformen am Arbeitsmarkt greifen. Sie haben nicht darauf hingewiesen, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen nicht gesunken ist. In Frage 80 unserer Großen Anfrage haben wir Sie gefragt, welche Schlussfolgerungen die Bundesregierung aus der Tatsache zieht, dass die Hartz-Reform an der großen Differenz in der Arbeitslosenquote zwischen alten und neuen Bundesländern - rund 8 Prozent Arbeitslosigkeit im Westen und 18 bis 20 Prozent im Osten - nichts geändert hat. Sie haben uns darauf geantwortet, dass nicht zu erwarten war, dass diese Reformen im Osten genauso greifen wie im Westen. Gilt also das, was Sie hier gesagt haben, nur für den Westen?
Zweitens. Wir haben uns gestern im Ausschuss darüber unterhalten, dass die Fehlerhaftigkeit der Bescheide auch daran liegt, dass die Zahl der Sachbearbeiter immer noch zu niedrig ist, dass die Anzahl der Betreuer von Erwachsenen nicht groß genug ist und dass es Probleme hinsichtlich der Schulungen gibt. Ich finde es sehr interessant, dass Sie das zwar gestern im Ausschuss zugegeben haben, dass Sie sich heute hier im Parlament aber etwas populistischer äußern.
Drittens. Herr Weiß, ich finde es stigmatisierend und unerträglich, arbeitslose Menschen als ?Kiosksteher“ zu diffamieren.
Ich muss vor dem, wie mir scheint, sehr großen Zynismus gegenüber arbeitslosen Menschen warnen, der sich hier nicht nur in Ihrer Fraktion, sondern auch in einigen anderen breitmacht.
Ich kann Ihnen sagen: Das wird diesen Menschen nicht gerecht; Sie diffamieren Menschen. Das macht sehr deutlich, wes Geistes Kind Sie sind.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort zur Entgegnung erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Andres.
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Zu Herrn Niebel möchte ich sagen: So wie er für seinen Antrag keine Mehrheit bekommen hat, so bekommt er auch keine Mehrheit für die Abschaffung der Parlamentarischen Staatssekretäre. Um meinen Mannesmut mache ich mir keine Sorgen; auch Sie müssen sich darum keine Sorgen machen.
Ich will auf das, was Sie zur Bundesagentur für Arbeit gesagt haben, eingehen. Die Bundesagentur hat seit 2001 einen ganz schwierigen Reformprozess durchgemacht. Ich glaube, dass die Bundesagentur mittlerweile außerordentlich gut aufgestellt ist und dass dort viele Menschen einen guten Job machen.
Das muss ausdrücklich einmal erwähnt werden.
Meine Reaktion bezog sich nur auf Ihr Zitat. Ich will hier feststellen: In vielen Ihrer Reden sind Sie mit Häme und Abstand über die Bundesagentur hergezogen.
Ich finde, das ist für jemanden, der aus genau dieser Organisation kommt - Sie haben dort als Arbeitsvermittler gearbeitet -, nicht angemessen. Das will ich Ihnen noch einmal sagen.
Zum Kollegen Lafontaine will ich einfach nur sagen: Die Arbeitslosenversicherung ist eine Risikoversicherung und keine Ansparversicherung. Selbstverständlich gilt das Prinzip der Beitragsäquivalenz.
Als Beispiel - lesen Sie es noch einmal nach! - haben Sie die Autoversicherung herangezogen und gesagt: Er hat 60 000 Euro eingezahlt, ihm wird aber nur ein Schaden von 10 000 Euro bezahlt. Wissen Sie, was das Problem ist? Das Problem ist, dass die Arbeitslosigkeit abgesichert wird, und zwar für Ältere in einer anderen Art und Weise als für Jüngere. Unter 55-Jährige erhalten ein Jahr lang Leistungen, über 55-Jährige 18 Monate.
Dass man über Jahre hinweg darauf gesetzt hat, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes immer weiter zu verlängern und damit die Probleme entsprechend zu verschieben, halten wir nicht für richtig.
Wir haben die Zahldauer verkürzt. Wir halten diese Verkürzung für richtig. Wir sind der Auffassung, dass wir alle Hebel in Bewegung setzen müssen, um Ältere wieder schneller in den Erwerbsprozess zu bekommen.
Damit möchte ich eine Antwort auf die Kollegin Möller geben, die in Ihre Kurzintervention natürlich wieder alles hineingepackt hat.
Frau Möller, ich bin ziemlich stolz auf die Entwicklung. Sie brauchen sich nur die Zahlen anzuschauen. Wir haben allein im Monat Februar über 10 000 über 55-Jährige in Arbeit vermittelt. Ich finde, dass das Sinn macht. Das ist richtig toll. Das widerlegt auch die Position, Ältere bekämen bei uns überhaupt nichts mehr. Ich weiß natürlich, dass das ein Prozess ist. Ich könnte Ihnen jetzt ganz viele Zahlen dazu vortragen, wie das bei Älteren und bei Jüngeren ist.
Ich komme jedenfalls zu dem Ergebnis - ich sage Ihnen das ganz ernsthaft -: Die Arbeitsmarktreformen waren notwendig, und die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war überfällig. Es war richtig, dass wir das gemacht haben. Es macht Sinn, unsere Sozialsysteme so umzubauen, dass der Versuch unternommen wird, die Menschen zu aktivieren, anstatt sie passiv im Leistungsbezug zu halten. Die frühere Systematik war weitgehend darauf ausgelegt, Menschen lange passiv im Leistungsbezug zu halten. Das wollen wir nicht mehr. Deswegen organisieren wir das um.
Ich sage Ihnen: Die Reformen auf dem Arbeitsmarkt waren erfolgreich. Sie wirken, und sie werden Gott sei Dank auch weiter wirken, weil wir mit entsprechender Mehrheit daran arbeiten, sie noch mehr zu verbessern.
Schönen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Zu einer Antwort auf die Kurzintervention von Oskar Lafontaine erteile ich Kollegen Gerald Weiß das Wort.
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Herr Kollege Lafontaine, Sie sind gescheit. Das waren Sie in allen Phasen Ihres Lebens, auch den liberaleren Phasen Ihres Lebens. Deshalb haben Sie mich richtig verstanden. Sie haben mich aber falsch zitiert, und zwar wider besseres Wissen falsch zitiert. Das ist sehr unredlich. Deshalb will ich Ihnen noch einmal sagen, was ich dargelegt habe.
Man kann natürlich über die Gestaltung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I diskutieren.
Man kann der Auffassung sein, das ist jetzt gut und gerecht geregelt. Man kann auch der Auffassung sein, wir sollten dem Element der Beitragsjahre ein stärkeres Gewicht geben, insbesondere für diejenigen, die länger versichert sind. Darüber kann man diskutieren. Ich habe gesagt: Man darf das Prinzip aber nicht ins Groteske überdehnen.
Sie schlagen vor, demjenigen mit 30 Beitragsjahren 30 Monate ALG I zu geben, demjenigen mit 40 Beitragsjahren 40 Monate. Dem 60-Jährigen wollen Sie ohne entsprechende Beitragsjahre 30 Monate ALG I gewähren. In der Wirkung - Sie sind gescheit genug, das zu erkennen - wäre das ein gigantisches Vorruhestandsprogramm. Das würde für die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Druck bedeuten. Sie würden in ihren Betrieben von Tag zu Tag höheren Pressionen ausgesetzt, ihren Arbeitsplatz zu räumen. Mit Beitragsgeldern Arbeitsplätze freimachen, das darf es nicht geben.
Deshalb ist das, was Sie vorschlagen, falsch. Sie haben das, was ich gesagt habe, falsch zitiert.
Sie, Frau Möller, haben es nicht verstanden. Ich habe die Arbeitslosen selbstverständlich nicht diffamiert.
Ich habe von dem bitteren Weg derer geredet, die aus dem ALG-I-Bezug in den ALG-II-Bezug kommen. Ich habe gesagt: Da müssen wir aus dem Gesichtspunkt der Leistungsgerechtigkeit heraus für die Lebensleistung - zum Teil setzen sie ihre gesamten Vermögensreserven ein - wenigstens übergangsweise einen Zuschlag gewähren - ich verteidige einen solchen Zuschlag, was nicht alle tun -; wir dürfen sie nicht so stellen wie die Kiosksteher, die von Arbeit nichts wissen wollen. Ich mache schon einen Unterschied, auch in der notwendigen Solidarität, je nachdem, ob es um Leute geht, die ein Leben lang Beiträge geleistet haben, oder um Leute, die nie etwas schaffen wollten. Die Differenzierung mache ich allerdings.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegin Brigitte Pothmer, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem, was ich gerade erlebt habe, habe ich das Gefühl, hier geht es weniger um die Beantwortung der Großen Anfrage als um Hahnenkämpfe.
Es geht auch weniger um Mannesmut als um männliche Rechthaberei.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Es wäre, wie ich finde, zu viel Aufwand für die Erstellung von 73 Seiten Text betrieben worden, wenn diese nur dazu dienten, Ihnen eine Plattform für das Austragen Ihrer Kämpfe zu geben.
Ich würde jetzt gerne zur Sache zurückkehren.
Herr Lafontaine, wir haben nie bestritten - um das einmal deutlich zu sagen -, dass die Hartz-Gesetze, und zwar von Beginn an, mit Fehlern behaftet waren. Diese hat uns nämlich die schwarz-gelbe Mehrheit im Bundesrat eingebrockt.
Nichtsdestotrotz enthalten die Hartz-Gesetze aber richtige Gedanken. Es war richtig, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen,
weil das die Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger deutlich besser stellt und sie nicht länger auf dem arbeitsmarktpolitischen Abstellgleis belässt.
Es war richtig, den Zugang zum Arbeitslosengeld II diskriminierungsfrei zu gestalten und damit verdeckte Armut abzubauen. Es war auch richtig, den Sozialstaat in eine aktivierende Richtung umzugestalten.
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Noch nie in der Geschichte gab es eine so große Vielfalt und Flexibilität bei der Förderung von Beschäftigung, wie jetzt im SGB II vorgesehen. Das Problem ist, dass diese Möglichkeiten in der Praxis leider zu wenig genutzt werden.
Ein noch größeres Problem, lieber Herr Weiß, besteht in dem, was die Koalition aus diesen Ansätzen gemacht hat. Das stellt tatsächlich ein großes Problem dar. Sie haben die Reform, die sehr fein ausbalanciert war, zerrupft und verbogen.
Die Maßnahmen, die als Hilfe für die Menschen gedacht waren, empfinden die Betroffenen inzwischen als Bedrohung. Die Harmonie zwischen Fördern und Fordern haben Sie leider zerstört. Sie haben den Missklang von Diskriminierung und Drangsalierung angestimmt.
Damit haben Sie die Akzeptanz der gesamten Reform gefährdet, Herr Weiß. Dass da eine ganze Menge falsch läuft, können Sie, wenn Sie sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen, doch auch nicht leugnen.
Wir sind von einem individuellen Fallmanagement - das haben wir damals versprochen - weit entfernt. Eingliederungsvereinbarungen bestehen da, wo es sie überhaupt gibt, aus standardisierten Formularen. Statt einer gezielten Integrationsarbeit gibt es immer noch - da hat Herr Niebel doch nicht ganz unrecht - bürokratisches Verwaltungshandeln. Mangelhafte Software, vorgegebene Standardinstrumente, Statistiknachweise und Controllingverfahren bestimmen den Alltag in den Agenturen. Davor können auch Sie die Augen nicht verschließen.
Deswegen müssen Sie sich für eine positive Weiterentwicklung in einigen ganz grundsätzlichen Punkten von Hartz IV einsetzen.
Wir müssen über eine Anpassung der Leistungshöhe insoweit reden, als die eingetretenen Kostensteigerungen eingerechnet werden müssen.
Natürlich müssen die gestiegenen Gesundheitskosten und Energiepreise berücksichtigt werden. Sie können die Mehrwertsteuer nicht einfach erhöhen und dann den Hartz-IV-Empfängern sagen: Seht zu, wie ihr damit fertig werdet. Der Satz ist dafür einfach zu eng berechnet.
Wir wissen inzwischen auch, dass Kinder und Jugendliche über den für sie vorgesehenen Regelsatz hinaus noch Sachleistungen benötigen. Es kann nicht hingenommen werden, dass Kinder von Hartz-IV-Empfängern massenhaft von Schulmahlzeiten abgemeldet werden, nicht mehr an Sportveranstaltungen teilnehmen, nicht zur Musikschule gehen und Bibliotheken nicht benutzen können. Wenn wir das hinnehmen und nicht ändern, wird uns das teuer zu stehen kommen.
Die derzeitige Prüfung der Arbeitsbereitschaft läuft in eine falsche Richtung. Sie haben inzwischen eine Misstrauenskultur geschaffen, die zur Schikanierung von Arbeitslosen und nicht selten zu sinnloser Beschäftigung führt. Das können Sie nicht wollen, weil Sie damit die Würde von Arbeitslosen verletzen und Ihr eigenes Projekt diskreditieren. Auch das muss geändert werden.
Wenn wir eine Förderung erreichen wollen, die dem Einzelnen tatsächlich gerecht wird, dann brauchen wir eine konsequente Dezentralisierung des SGB II. Dann müssen wir den Argen, zu denen wir stehen, mehr Freiheiten geben. Sie müssen die vollständige Hoheit über ihr Personal und ihr Budget haben.
Sie müssen endlich eine eigene ?Firma“ werden, wenn sie den Aufgaben gerecht werden wollen.
Außerdem müssen wir das Fördern in den Mittelpunkt stellen. In der Antwort auf die Große Anfrage wird mehrfach darauf hingewiesen, dass die Hartz-Gesetze keine Arbeit schaffen. Abgesehen davon, Herr Andres, dass das bei Herrn Clement in der letzten Legislaturperiode immer etwas anders geklungen hat, haben Sie damit recht. Aber diese Arbeitsmarktreform soll die Menschen fit machen für die vorhandenen Arbeitsplätze. Das geschieht jedoch gänzlich ungenügend. Allein aufgrund des Konjunkturaufschwungs wird die Langzeitarbeitslosigkeit nicht abgebaut. Es ist eine schlichte Propaganda, wenn Sie sagen, die Langzeitarbeitslosigkeit gehe zurück. In den letzten drei Monaten ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen sogar noch einmal um 50 000 angestiegen. Das sind die wahren Zahlen.
Wenn die Langzeitarbeitslosigkeit abgebaut werden soll, dann ist es natürlich gänzlich falsch, dass Sie jetzt bei den Integrationsmitteln 1 Milliarde Euro gestrichen haben, statt sie der Förderung zur Verfügung zu stellen. Es ist auch gänzlich falsch, dass Sie sich in einem so großen Umfang auf die 1-Euro-Jobs konzentrieren. Es muss sehr viel mehr in Bildung und Ausbildung investiert werden; denn zwei Drittel der Arbeitslosen sind Geringqualifizierte. Die Politik, die Sie betreiben, ist gerade in Bezug auf die Jugendlichen eine richtige Katastrophe. Wenn nur 85 000 Jugendliche unter 25 Jahren tatsächlich ihre Arbeitslosigkeit beenden, indem sie eine schulische oder betriebliche Ausbildung beginnen, und fast 250 000 unter 25-Jährige in 1-Euro-Jobs verharren, dann läuft hier doch etwas falsch.
Wenn wir das nicht ändern, dann werden wir diese Menschen ein Leben lang alimentieren müssen - Menschen, die wir aber brauchen und die auch in die sozialen Sicherungssysteme einzahlen sollen.
Nein, der Aufschwung wird das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit nicht lösen. Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie am Ende dieses Aufschwungs eine höhere Sockelarbeitslosigkeit haben als zu Beginn.
Die ?Süddeutsche Zeitung“ hat es Ihnen in einem Kommentar ziemlich gut, wie ich finde, ins Stammbuch geschrieben: Wenn es ins Haus hineinregnet, löst schönes Wetter das Problem nur vorübergehend; wenn Sie dauerhaft im Trockenen sitzen wollen, müssen Sie das Dach schon reparieren, solange die Sonne scheint. Aber das scheint Ihnen etwas zu anstrengend zu sein. Sie legen die Hände in den Schoß, beklatschen den Aufschwung und verwalten ihn lediglich. Das ist zu wenig. Damit lösen Sie die Probleme nicht.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Karl Schiewerling, CDU/CSU-Fraktion.
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Pothmer, es ist schön, dass Sie anwesend sind. Die letzte Aktuelle Stunde haben Sie leider verpasst. Ich glaube, dadurch ist dem Parlament einiges entgangen.
Ich halte es für problematisch, wie Sie das, was wir im Rahmen des Systems SGB II weiterentwickelt haben, herunterputzen. Was Sie sagen, stimmt nicht; denn wir haben die nötigen Konsequenzen aus dem, was noch nicht funktionierte, gezogen und mithilfe des SGB-II-Fortentwicklungsgesetzes das lernende System SGB II verbessert, womit wir den betroffenen Menschen helfen. Auch Sie wissen das ganz genau.
Das SGB II ist seit etwas mehr als zwei Jahren in Kraft. Mit der Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeitsuchende haben wir einen richtigen Weg eingeschlagen. Ich bin froh, dass dies von den meisten Mitgliedern des Hohen Hauses - nicht nur von Mitgliedern der beiden Regierungsfraktionen, sondern auch von Mitgliedern der Grünen und der FDP - auch nach zwei Jahren noch genauso gesehen wird.
Ich finde es gut, dass wir diesen Weg eingeschlagen haben. Dieser neue Weg hat alle Beteiligten viel Kraft gekostet; das ist keine Frage. Er hat zwangsläufig zu neuen Erfahrungen geführt und wird immer noch mehr neue Erfahrungen bringen. Das SGB II ist und bleibt ein lernendes System, das sich der jeweils neuen Situation anpassen muss. Es erfordert wie kaum ein anderes soziales System individuelle Lösungen.
Mit dem Prinzip des Forderns und Förderns sind wir auf dem richtigen Weg. Dieses Grundprinzip des Zweiten Sozialgesetzbuches besagt, dass Menschen ohne Arbeit ihren Lebensunterhalt möglichst rasch wieder aus eigener Kraft bestreiten sollen. Schließlich wollen wir Menschen in Arbeit bringen und sie damit aus dem Leistungsbezug und der staatlichen Förderung herausnehmen. Ziel der Grundsicherung ist es unter anderem auch, den Menschen eine materielle Sicherung zu geben. Es ist eben ein System der Grundsicherung und kein System, in dem die Menschen auf Dauer verbleiben sollen.
Das SGB II macht entgegen allen Äußerungen, die wir gerade von der Fraktion Die Linke immer wieder hören, nicht arm. Es fängt Menschen auf, fördert und fordert. Das geht allerdings nur, wenn sich alle Beteiligten in diesem System engagieren.
Das Ziel der Grundsicherung ist die schnelle und passgenaue Integration der Betroffenen in den Arbeitsmarkt. Der Erfolg hängt vom Arbeitsmarkt ab, aber auch von den Betroffenen selbst und dem engagierten Zusammenwirken aller Beteiligten.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll von der Linksfraktion?
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Ich gestatte keine Zwischenfrage. Die Kollegin kann im Anschluss eine Kurzintervention machen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Wir wollen jetzt nicht den Brauch einführen, dass Redner zu einer Kurzintervention einladen.
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Gut. Dann gestatte ich diese eine Zwischenfrage.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Herr Kollege, Sie haben eben das Prinzip des Forderns und Förderns erwähnt. Ich möchte Sie daher fragen, wie Sie sich denjenigen Menschen gegenüber verhalten, die arbeitslos sind, deren Partnerinnen bzw. Partner aber, mit denen sie in der von Ihnen konstruierten Bedarfsgemeinschaft leben, Ihrer Meinung nach ausreichend verdienen und die somit keine Leistungen beziehen. Zum großen Teil fallen diese Menschen aus jeglicher Förderung heraus. Ihnen werden Angebote zur Weiterbildung verweigert. Ihnen werden auch keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen angeboten. Davon sind 90 Prozent dieser Menschen betroffen; die meisten unter ihnen sind Frauen. Wie passt das zu Ihrem Prinzip des Förderns?
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Sie haben zwei Punkte angesprochen. Der erste Punkt umfasst den Leistungsbezug im Rahmen des SGB II. In der Tat ist die Situation der Bedarfsgemeinschaft die Grundlage für den Leistungsbezug. Wenn die Bedarfsgemeinschaft finanziell in der Lage ist, den Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu finanzieren, dann braucht und darf der Staat keine Unterstützung zu geben. Das ist richtig. Genau das ist das Prinzip des SGB II.
Der zweite Punkt. Frauen, die sich arbeitslos melden, aber keine SGB-II-Mittel bekommen - nach Ihrer Aussage handelt es sich ja meistens um Frauen -, stehen dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung. Ich kann diesen Menschen nur raten, die Vermittlungsmöglichkeiten des Arbeitsamtes zu nutzen. Die örtlichen Agenturen sind beweglicher, als Sie denken.
Wie gesagt, das Ziel der Grundsicherung ist die schnelle und passgenaue Integration der Betroffenen in den Arbeitsmarkt. Der Erfolg hängt natürlich von der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ab. Da sind wir auf einem guten Weg. Ich halte es auch heute Morgen für notwendig, klarzumachen: Der Aufschwung, den wir zurzeit haben, hat auch zum Abbau der Arbeitslosigkeit beigetragen.
Wir haben - das dürfen wir nicht übersehen - 520 000 Arbeitslose weniger, die vorher Arbeitslosengeld I bekommen haben. Wir haben 306 000 Arbeitslose weniger, die vorher Arbeitslosengeld II bezogen haben. Ich halte das für eine bedeutende, gute, wegweisende und sinnvolle Entwicklung.
Bei all dem, über was wir im Zusammenhang mit dem SGB-II-Bereich diskutieren, ist es zwingend notwendig, nicht so zu tun, als hätten wir es mit einem statischen System zu tun. Das oberste Ziel muss sein, Leute zu vermitteln. Das geht nur, wenn die Konjunktur entsprechend anspringt. Dann werden auch Arbeitsplätze geschaffen. Hier sind wir auf einem guten Weg.
Ich will nicht verheimlichen, dass mir die jetzige Entwicklung nicht ausreicht. Aber es gibt eine andere Zahl, die Mut macht. Bei der Bundesagentur sind 800 000 offene Stellen gemeldet. Wenn wir den Wirtschaftsforschungsinstituten und den Einrichtungen der Wirtschaft glauben, dann kommen noch einmal so viele nicht gemeldete Stellen hinzu, sodass wir in Deutschland zurzeit etwa 1,6 Millionen offene, nicht besetzte Stellen haben. Ich möchte, dass ein Großteil dieser Stellen von Arbeitslosen, auch von Langzeitarbeitslosen, besetzt wird.
Das verlangt Qualifizierung und Fördern; das ist wichtig. Ich glaube, dass wir im Sinne aller Beteiligten kein Interesse daran haben können, dass Erwerbslose in unserem Land diese Stellen nicht erhalten und wir zuvörderst auf Zuwanderung schielen.
Wir müssen nach vorne schauen. Natürlich können und müssen wir die Arbeitsabläufe vor Ort verbessern. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich es für wichtig halte, dass das SGB II vor Ort kundennah und dezentral umgesetzt wird. Es bleibt abzuwarten, wie das Bundesverfassungsgericht die Organisationsform der Arbeitsgemeinschaften bewerten wird. Aber wir müssen den regionalen Trägern auch den Freiraum zugestehen, neue Wege auszuprobieren, nach neuen Wegen und Möglichkeiten zu suchen. Das müssen engagierte Mitarbeiter vor Ort auch tun. Dazu brauchen wir Flexibilität und Entscheidungsfreiheit.
Schon heute lässt das SGB II solche Möglichkeiten zu. Mit unkonventionellen Mitteln kann man Menschen helfen, aus der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit herauszukommen. Das beweisen innovative Projekte, wie wir das in Sachsen-Anhalt erleben - Stichwort: Bürgerarbeit in Bad Schmiedeberg. Das erleben wir zurzeit in Essen, wo es ein Bürgerjahr und Bürgerarbeit gibt - mit, wie ich meine, wegweisenden, neuen Impulsen. Diese Projekte zeigen, dass man mit Mut und Kreativität Menschen in Arbeit bringen kann.
Deshalb fordere ich, den Verantwortlichen vor Ort mehr Entscheidungsfreiheit einzuräumen. Es ist ausreichend, mit den regionalen Trägern eine Zielvereinbarung festzulegen, innerhalb der sie frei entscheiden können, wie und mit welchen Mitteln sie die Menschen in Arbeit bringen, wenn denn die vorher vereinbarten Ziele erreicht werden. Diese Ziele müssen auf die jeweilige regionale Struktur abgestimmt werden.
Die Arbeitsvermittlung muss mit anderen Bereichen verknüpft werden. Wir haben bei den Langzeitarbeitslosen eine in der Tat verfestigte Struktur. Deren Zahl wird auf 2,6 Millionen geschätzt. Davon sind 600 000 alleinerziehende Frauen, die eine besondere Förderung benötigen; auch davor verschließen wir die Augen nicht. Es gibt auch diejenigen, die in der dritten Generation von Sozialhilfe leben. Hier helfen keine üblichen Arbeitsmarktinstrumente, sondern nur individuelle Ansätze. Wir haben diejenigen mit Migrationshintergrund, die ebenfalls einer besonderen Förderung und Forderung bedürfen. Rund 2 Millionen Arbeitslose - auch das ist die Wahrheit - haben keinen Schul- oder Berufsabschluss. Auch dem wollen und müssen wir entgegenwirken.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Haben Sie die Zeit für die Zwischenfrage, die gestellt worden ist, abgerechnet?
Ich glaube, dies wurde nicht berücksichtigt, Herr Präsident.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Die Zeit wurde berücksichtigt.
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Ich komme jetzt zum Ende.
Wir brauchen den Kombilohn. Wir brauchen einen dritten Arbeitsmarkt für diejenigen Menschen, die ohne Unterstützung nicht zurechtkommen, weil sie behindert sind.
Das Ziel des SGB II ist, dass möglichst viele Menschen das SGB II nicht in Anspruch nehmen müssen. Das Ziel des SGB II ist, dass Menschen in Arbeit kommen. Dafür wollen wir uns weiter einsetzen. Im Übrigen gibt es zum System des SGB II keine ernst zu nehmende Alternative.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nichts hören, nichts sehen, nichts wissen wollen. So verhält sich die Bundesregierung, wenn es um die soziale Bilanz von Hartz IV geht. Sie wissen eben nicht, wie viele behinderte Menschen zu einem Umzug gezwungen wurden. Sie wissen nicht, wie viele Menschen aus Angst vor Hartz IV in die Frühverrentung geflüchtet sind. Sie haben noch nicht einmal eine Zusammenstellung aller verfassungsrechtlichen Bedenken.
Besonders schockierend finde ich aber, Herr Andres, dass Sie noch nicht einmal in Erfahrung bringen wollen, wie sich Hartz IV auf die Gesundheit und die Bildungsmöglichkeiten der betroffenen Kinder auswirkt. Das nenne ich wirklich skandalös!
Dabei gibt es bereits erste Untersuchungen, die deutlich machen, wie verheerend die soziale Bilanz von Hartz IV ist. 1-Euro-Jobs verdrängen reguläre Beschäftigungsverhältnisse. Die gesamtgesellschaftliche Armutsquote ist um 1 Prozent gestiegen. Bei den Sozialgerichten wächst der Klageberg. Der Stapel an Klagen, der täglich beim Landessozialgericht eingeht, ist bis zu vier Meter hoch. Ein Viertel der Arbeitslosenhilfebezieher von früher hat den Leistungsanspruch komplett verloren.
Doch mehr als alle Zahlen und Untersuchungen belegen Schicksale, wie verheerend die Bilanz ist. Sie erinnern sich noch an den Dresdner, der als 1-Euro-Jobber im Winter Unkraut jäten musste. Sie, Herr Andres, versprachen zu helfen. Mit einem haben Sie offensichtlich nicht gerechnet:
Der Mann hat Sie gehört, wollte Sie beim Wort nehmen und hat versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Irgendwann sagte er zu mir in der Bürgersprechstunde: Ich kann es mir gar nicht leisten, so oft in Berlin anzurufen, wie sich der Staatssekretär verleugnen lässt.
Seitdem hat der Mann alles Mögliche unternommen, um einen Job zu finden.
Er hat sogar fünf Tage auf dem Bau kostenlos zur Probe gearbeitet, ohne dafür auch nur einen Cent zu bekommen. Das Ende vom Lied war, dass man ihn wieder zurück in Hartz IV geschickt hat. Und um noch einen draufzusetzen: Als der Mann dann wenigstens die Fahrtkosten abrechnen wollte, sagte man ihm, dass er laut Gesetz nur drei Tage kostenlos zur Probe arbeiten dürfe und man ihm die Fahrtkosten nur für drei Tage ersetzen könne.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Andres?
Katja Kipping (DIE LINKE):
Herr Präsident, ich lasse eigentlich immer Zwischenfragen zu. Aber ich finde, Herr Andres muss auch einmal erleben, wie es ist, wenn eine Zwischenfrage abgewiesen wird.
Das Beispiel des Dresdners ist nur eines von vielen Beispielen, die zeigen: Hartz IV erleichtert die Ausgrenzung und Ausbeutung. Hartz IV führt in eine Sackgasse. Hartz IV gehört endlich abgeschafft!
Deswegen fordern wir als Linke Sie auf: Ersetzen Sie endlich die 1-Euro-Jobs durch öffentliche Jobs, die länger als sechs Monate gehen und die besser bezahlt sind!
Ersetzen Sie endlich das Arbeitslosengeld II durch eine repressionsfreie Grundsicherung! Denn jeder Mensch hat das Recht auf ein Leben in Würde.
Und den Menschen, die die Hartz IV-Suppe auslöffeln müssen, kann ich nur empfehlen: Gehen Sie in die Bürgersprechstunden der Abgeordneten! Konfrontieren Sie diese mit den Problemen, die in der Praxis aus Hartz IV entstehen! Lassen Sie sich nicht alles gefallen! Nehmen Sie zu den Beratungsgesprächen am besten immer eine zweite Person als Zeugen mit!
Bisher wurde jedem dritten Widerspruch in Gänze stattgegeben. Das zeigt, dass es sich bei Zweifeln an der Richtigkeit des Bescheides lohnt, Widerspruch einzulegen.
Deswegen können wir den Betroffenen nur empfehlen: Vernetzen Sie sich in Ihrer Region mit anderen Betroffenen und kämpfen Sie um Ihre Rechte! Es lohnt sich. Danke.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Gerd Andres.
Tun Sie das bitte von Ihrem Platz aus.
Gerd Andres (SPD):
Ich habe eigentlich nur eine Bitte und möchte eine Behauptung nicht im Raum stehen lassen. Nachdem Frau Kipping diesen Fall in einer früheren Parlamentsdebatte hier schon geschildert hat, habe ich erstens mit dem Mann persönlich Kontakt aufgenommen. Ich habe auch länger mit ihm telefoniert. Er hat mir erklärt, dass er von der Situation Fotos hat. Die zuständige Abgeordnete aus dem Wahlkreis hat diese Fotos mit nach Berlin gebracht und ich habe mir den Vorgang angesehen. Der dritte Punkt ist, dass ich die ARGE dazu habe berichten lassen. Deswegen würde ich die Kollegin Kipping ganz schlicht nur bitten, dass sie zur Kenntnis nimmt, dass sich um den Fall gekümmert wurde. Und ich habe eine andere Beurteilung von dem Fall, als sie sie hat.
Das Schöne ist, dass man in der Debatte immer irgendeinen kleinen Einzelfall bringt und dann sagt: Arbeitslose müssen im Winter bei Schnee Unkraut jäten. Das treibt natürlich die Bevölkerung in die Irre; denn sie fragt sich: Wer kommt auf die Idee, so etwas zu machen?
Ich wollte sagen: Wir haben uns darum gekümmert; ich bin dem nachgegangen. Ich möchte nur, dass Sie das zur Kenntnis nehmen, mehr nicht.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollegin Kipping, Sie haben die Möglichkeit zur Reaktion.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Herr Andres, auch Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass dieser Mann, bevor es zu einer Abhilfe gekommen ist, mehrmals, immer wieder versucht hat, Sie anzurufen. Dieser Mann hat mir auch den Briefwechsel mit Ihnen gezeigt; es ist sehr deutlich geworden, dass der Mann ansonsten keine Abhilfe bekommen hat. Er hatte nach Ihren Äußerungen deutlich den Eindruck gewonnen, dass Sie in der Lage sind, zu helfen.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Es handelt sich hierbei nicht um einen Einzelfall; die Menschen, die zu uns in die Bürgersprechstunde kommen, zeigen, dass das immer nur ein Beispiel von vielen ist.
Darüber hinaus gibt es jede Menge Untersuchungen - zum Beispiel von Richard Hauser und Irene Becker -, die sehr wohl belegen, dass das ein gesamtgesellschaftliches Problem ist.
Leider haben Sie jede Menge an vorhandenen wissenschaftlichen Untersuchungen in Ihrer Antwort verschwiegen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nun hat das Wort Kollegin Andrea Nahles, SPD-Fraktion.
Andrea Nahles (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erlaube mir eine kleine Warnung an meine Kollegen von der Linksfraktion, die bald an einem Parteitag teilnehmen werden. Vielleicht erleben Sie dann auch eine Überraschung mit Oskar Lafontaine, wie es mir 1998 ergangen ist.
Staunend, geradezu baff, hörte ich, wie der damalige Parteivorsitzende der SPD in seiner Rede auf dem Parteitag am 25. Oktober 1998 Folgendes zum Besten gab:
Ich lade die Partei und die Gewerkschaften ein, darüber nachzudenken, ob wir nicht auch bei der Arbeitslosenversicherung Korrekturbedarf haben, ob nicht auch hier eher der Fall gegeben ist, nach dem Sozialstaatsprinzip vorzugehen statt nach dem Prinzip der Versicherungsleistung …
Wenn man heute hört, was Sie, lieber Oskar Lafontaine, hier vortragen, muss man sich wundern: Wir hören massiv, dass das Prinzip der Versicherungsleistung das einzige ist, das gilt. Ich warne also vor Überraschungen auf Ihrem Parteitag. Man kann sich nämlich bei bestimmten Leuten nicht sicher sein.
Gerechtigkeit, Oskar Lafontaine, wird dann ganz schnell zu Selbstgerechtigkeit. Das haben wir hier heute wieder erlebt.
Ich habe mich heute, als ich der Opposition zugehört habe, die ganze Zeit gefragt, ob es hier vielleicht eine starke Beeinflussung durch den indischen Kulturkreis geben könnte. Das Rezitieren von immergleichen Wortfolgen hat nämlich einen Namen: Mantra. Man kennt es aus dem Indischen. Was sagen die Inder darüber, was dieses Mantra - Hartz IV gehört abgeschafft, die BA gehört abgeschafft! -
bewirken soll? Die immergleiche Rezitation von bestimmten Wortfolgen hat den Sinn - ich habe mir das extra einmal angeschaut -, den Geist vor Störungen zu schützen, also vor Einflüssen von außen, die das Eigenbild, die Vertiefung in das Eigene irritieren könnten. Das deckt sich ein bisschen mit dem Eindruck, den ich heute gewonnen habe.
Das Mantra soll im Übrigen auch als Beschwörungsformel gegen Schlangen und Dämonen dienen. Wenn man sich die Anträge durchliest, merkt man: Diese Dämonen sind Ihnen abhanden gekommen. Dummerweise ist es tatsächlich so - man möchte es fast nicht mehr erwähnen -, dass wir 452 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zusätzlich geschaffen haben.
Mit Ihrem ständigen Wiederholen wollen Sie die Dämonen austreiben.
Man muss vermuten, dass Dirk Niebel der neue Vorstandsvorsitzende der Private BA AG ist. Man muss sich fragen, ob Sie, Herr Niebel, der Sie Verwaltungsinspektor bei der BA geworden sind, die Abschaffung, Teilprivatisierung und Wiedererschaffung einer neuen Behörde vorangetrieben haben, um sich um diesen Job zu bewerben. Das wäre auch eine Möglichkeit; den Verdacht muss man haben.
Ich komme noch zu den Grünen; danach komme ich zur Sache. Die Grünen sind klasse.
- Ja, das kann man so stehen lassen. Ich bin ja gar nicht so unfreundlich.
Die Sorge der Grünen, dass die Sockelarbeitslosigkeit in dieser Legislaturperiode noch steigen könnte, teilen wir alle. So etwas könnte passieren. Aber wenn wir uns einmal ansehen, was im letzten Jahr passiert ist, dann stellen wir hinsichtlich der Langzeitarbeitslosigkeit - das ist der Kern der Sockelarbeitslosigkeit -
fest, dass es 200 000 Langzeitarbeitslose weniger gibt. Das ist ein großer Erfolg. Obwohl wir damit noch nicht zufrieden sind, möchte ich das hier erwähnen, damit nicht der Eindruck entsteht, das sei nicht genauso unsere Sorge wie die der anderen Parteien.
Worum geht es hier eigentlich?
- Jetzt lassen Sie mich doch bitte auch einmal etwas deutlich machen.
Sie unterstellen uns offensichtlich immer wieder, wir in Berlin seien in einem Ufo unterwegs und Sie arbeiteten hart an der Basis; nur unsereins, die Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU, hätten Scheuklappen an.
Ich habe mit Rolf Stern gesprochen. Er ist ein Arbeitsvermittler vor Ort, der mir in den letzten Jahren durchaus auch Beschwerden vorgetragen hat, zum Beispiel über Probleme beim Computerprogramm, über Probleme vor Ort hinsichtlich der Selbstständigkeit der Argen und über Probleme, wie die BA teilweise reinfummelt.
Es gibt Probleme. Es gibt auch Mentalitätsschwierigkeiten zwischen den früheren Kommunalbeamten und denjenigen, die von der Bundesagentur kommen. Wir alle wissen darum. Ich habe ihn gefragt: Was ist, wenn du es dir überlegst, der größte Erfolg von Hartz IV für dich, Rolf Stern? Er hat auf die Sozialhilfeempfänger hingewiesen; er war früher bei der Stadt für Sozialhilfe zuständig. Die eine Million Sozialhilfeempfänger, die jetzt vollen Zugang zu allen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen haben,
erwähnen Sie nicht. Sie kommen nur mit - möglicherweise berechtigten; das will ich gar nicht abstreiten - Einzelfällen. Aber über diese eine Million redet keiner und schon gar nicht die Linkspartei.
Was sagte mir Rolf Stern? Die haben jetzt ein ganz anderes Selbstvertrauen, weil sie wieder gefordert sind und weil sie einen geregelten Tagesablauf haben. Sie wollen arbeiten. Ich sage das einmal klipp und klar: 85 Prozent bis 90 Prozent dieser Menschen wollen Arbeit; sie sind arbeitswillig. Alles andere ist eine Diffamierung.
Diese Leute bekommen eine Arbeitsgelegenheit. Das kann man schmähen, aber sie sind froh. Sie fragen: Gibt es noch eine Verlängerung? Sie wollen im Prinzip das, was wir ihnen anbieten können.
Ich sage Ihnen: Das führt dazu, dass sie mit mehr Zuversicht ihre Bewerbungen schreiben und ihre weitere Einbindung in den ersten Arbeitsmarkt betreiben können. Das ist ein Erfolg.
Genauso ist es ein Erfolg, dass bei den jungen Menschen ein Betreuungsschlüssel von 1 : 75 erreicht werden konnte. Wir haben ihn teilweise sogar unterschritten. Das kann man an den Erfolgen bei der Vermittlung von jungen Menschen sehen. Auch hier verzeichnen wir klare Erfolge.
Das hängt nicht nur mit dem Aufschwung, sondern auch mit der intensiven Betreuung in den Argen zusammen.
Damit auch das einmal ausgesprochen wird: Wir sind nicht an einem Punkt, an dem wir sagen: Das war es jetzt, wir entwickeln uns nicht weiter. Vielmehr nimmt sich diese Bundesregierung vor, zu schauen, wo wir ergänzen und wo wir evaluieren müssen. Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen. Ergänzen müssen wir da, wo es Menschen mit schweren Vermittlungshemmnissen gibt, die nicht ohne Weiteres in kurzer Zeit in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Deswegen werden wir Ihnen hier in Kürze einen Vorschlag unterbreiten, der lautet: Wir wollen einen geförderten Arbeitsmarkt für Menschen mit schweren Vermittlungshemmnissen, und den wollen wir bundesweit organisieren.
Das heißt, dass wir sehr wohl erkennen, wo es etwas zu ergänzen gibt.
Wir wollen verbessern. Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass auf dem deutschen Arbeitsmarkt beim Lohngefüge einiges ins Rutschen gekommen ist. Wir haben tatsächlich das Problem der Leiharbeit. In einigen Betrieben werden mittlerweile mehr als 30 Prozent des Personalbedarfs mit Leiharbeitern abgedeckt. Das ist eine Form von Lohndumping, die wir nicht goutieren. Das halten wir für ein großes Problem und für eine große Herausforderung für den deutschen Arbeitsmarkt.
Das hat mit Hartz IV überhaupt nichts zu tun. Gleichwohl ist das ein Problem, um das wir uns kümmern werden.
Wir Sozialdemokraten wollen einen Mindestlohn - das ist ganz klar; wir stehen in Verhandlungen -, und zwar in allen Branchen, wo er nötig ist. Damit fangen wir an.
Wir haben erst in der vorhergehenden Sitzungswoche - das ist ein bisschen untergegangen - für 850 000 Menschen im Gebäudereinigerhandwerk einen Mindestlohn verabschiedet.
Dafür danke ich ausdrücklich den Kolleginnen und Kollegen auf der Unionsseite, die dagegen vielleicht einige Einwände hatten. Diese 850 000 Gebäudereiniger werden es uns danken.
Andere Bereiche müssen folgen. Das wird mit dieser Koalition möglich sein.
Zum Schluss: Wir wollen, dass Hartz IV in sich besser wird. Dazu wird es Vorschläge geben. Wenn Ihnen von der Linkspartei das Thema Hartz IV demnächst ausgehen wird, dann muss ich um Ihre Debattenbeiträge fürchten. In Ihrer Partei ist die Fixierung auf das Negative, auf das Scheitern offensichtlich so groß, dass dagegen nur eines hilft: Wir führen unseren erfolgreichen Kurs in der Arbeitsmarktpolitik in den nächsten Jahren fort, weil das der Mehrzahl der Arbeitslosen in diesem Lande hilft und nicht schadet.
In diesem Sinne vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Oskar Lafontaine.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Ich mache es auch ganz kurz, Herr Präsident. - Frau Kollegin Nahles, Sie haben korrekt zitiert. Das ist immerhin schon ein Vorteil. Ich bedanke mich dafür. Sie haben festgestellt, dass ich schon damals eine Reform der Arbeitslosenversicherung angemahnt habe. Das ist auch heute noch mein Monitum. Insofern hat sich an meiner Meinung nichts geändert.
Sie haben zum Zweiten darauf hingewiesen, dass ich aufgefordert habe, darüber nachzudenken, ob man die Prinzipien des Sozialstaates - Stichwort ?Steuerfinanzierung“ - nicht stärker betonen sollte. Das ist auch heute noch meine Meinung. Das ändert aber nichts an dem Sachverhalt, dass man Arbeitnehmer nicht auf die Art und Weise enteignen kann, wie Sie es getan haben.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollegin Nahles, bitte.
Andrea Nahles (SPD):
Frau Pothmer, wenn ich auf Herrn Lafontaine antworte, ist es unfreundlich, dass Sie das jetzt sagen. Sagen Sie es später.
Ich freue mich, dass die Bedürftigkeitsorientierung jetzt auch von Oskar Lafontaine anerkannt wird, weil die Linkspartei ansonsten ein bedingungsloses Grundeinkommen fordert.
Ich persönlich freue mich darüber, dass die Bindung an die Bedürftigkeitsprinzipien hier noch einmal bestätigt worden ist. Das teilen wir nämlich im Kern. Viel Vergnügen, wenn Sie das in Ihrer eigenen Partei klären.
Der zweite Punkt. Es geht hier schon um Redlichkeit. Von einer Autoversicherung war eben die Rede. Was heißt denn das anderes, als dass man vom Versicherungsprinzip wegkommen will?
In einem Interview im ?Spiegel“, 2. November 1998,
kritisiert er, dass es Fälle gibt, in denen jemand hohes Arbeitslosengeld bezieht, obwohl Familieneinkommen und Vermögen vorhanden sind. Das Hohe Haus möge sich bitte daran erinnern, welche Skandalisierungen die Linkspartei im Zusammenhang mit dem Thema ?Vermögensanrechnung“ vorgenommen hat.
An dieser Stelle ist zu vermerken: Das, was von Ihnen gestern gesagt wurde, gilt heute nicht mehr. Darauf wollte ich angesichts des Parteitags, den die Linkspartei am Wochenende durchführt, nur vorsichtig warnend hinweisen. Vor Überraschungen ist man bei Oskar Lafontaine nicht gefeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Heinz-Peter Haustein, FDP-Fraktion.
Heinz-Peter Haustein (FDP):
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden heute zum x-ten Mal hier im Deutschen Bundestag über die Arbeitslosigkeit und über ihre Bekämpfung. Wir geben Dutzende Milliarden aus für ALG I und ALG II. Wir begnügen uns damit, die Wirkung zu verdrängen, wir bekämpfen nicht die Ursachen; das ist unser Problem. Statt dafür zu sorgen, dass mehr Arbeitsplätze entstehen, streiten wir uns, wie dieses und jenes zu verbessern sei.
Kommen wir einmal zum ALG II. Die Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe war richtig; dazu steht auch die FDP.
Aber eben nur das.
Die handwerkliche Umsetzung in Form dieses Gesetzes ist so schlecht, dass man es eigentlich auflösen müsste. Wir brauchen etwas anderes, etwas Effektiveres und Besseres. Nur zwei Beispiele: In den Argen und in den optierenden Kommunen gibt es so viele Änderungen - über 100 sind es schon -, dass keiner mehr richtig durchblickt, wie denn was zu machen ist;
ständig neue Software, ständig ?Ergänzungen“.
Die KdU werden verhandelt wie auf einem Basar: 2 Milliarden im Haushalt, 5 Milliarden wollen die Kommunen, auf 4,1 Milliarden wird sich geeinigt, nach dem Motto: Pi mal Daumen mal Fensterkreuz. Das ist doch keine Grundlage für ein Gesetz!
Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit halte ich es auch nicht für günstig, wie Frau Nahles gesagt hat, das indische Mantra hinzuzuziehen. Da gehe ich als evangelischer Christ lieber am Sonntag in die Kirche; davon habe ich mehr.
Es fehlt den Reformen die Richtung: Wer als unter 25-Jähriger bei seinen Eltern wohnte, wurde plötzlich vom Staat ermuntert, auszuziehen und eine Bedarfsgemeinschaft zu gründen - jetzt müssen sie bei den Eltern wieder einziehen; also ?Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“. Die Vorschriften ändern sich ständig, sodass die Kollegen in den Argen manchmal nicht weiterwissen. Nun kommt noch das Problem hinzu, dass nächstes Jahr durch eine Kreisreform im schönsten Freistaat der Welt, also in Sachsen,
Kreise, in denen es optierende Kommunen gibt, sich mit Kreisen, in denen es Argen gibt, zusammenschließen müssen. Wir werden sehen, wie wir dieses Problem lösen. Das sind nur wenige Beispiele. Das Dilemma, dass es schwierig ist, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen, bekommen wir damit nicht weg. Wir haben unheimlich viel Bürokratie; das hilft uns nicht.
Die Flut der Widersprüche und Klagen nimmt zu. Das schafft Arbeit - für Anwälte und Behörden. Dieses Chaos bei der Arbeitsmarktpolitik setzt sich fort. Herr Staatssekretär, ich kann Sie beruhigen: Ich war nicht bei der BA, ich bin nicht bei der BA und ich werde nicht bei der BA sein.
Ich kann also frei fordern: Unterstützen Sie den Antrag der Liberalen, lösen Sie die BA im jetzigen Zustand auf!
Es geht nicht um Abschaffung - wir brauchen ein anderes System.
Ein dezentrales System wäre viel besser als das zentrale System, das wir jetzt haben. Lasst das die Kommunen und Landkreise machen; die wissen vor Ort viel besser, was los ist. Wir brauchen die Mammutbehörde in Nürnberg nicht. Damit stelle ich nicht in Abrede, dass diese Leute gute Arbeit leisten. Doch der Ansatz ist falsch, und das müssen wir ändern. Wenn ich Sie so höre, Herr Staatssekretär, wie Sie im Grunde behaupten: ?Weil wir die Macht haben, haben wir recht“, dann erinnert mich das an DDR-Zeiten. Das ist nicht gut.
Zum Antrag der Linken, das Arbeitslosengeld I zu verlängern, kann ich nur sagen: Wir sollten das Äquivalenzprinzip beibehalten. Man kann doch auch nicht in eine Feuerversicherung einzahlen und, nachdem es 20 Jahre nicht gebrannt hat, sagen: Ich will mein Geld zurück. Das ist aber nicht das Hauptproblem. Entscheidend - bei aller Kritik - ist, dass der Ansatz, den wir haben, falsch ist: Ursache und Wirkung werden vertauscht. Man sehe einmal, wie viel Geld für die Verwaltung von ALG I und ALG II verpulvert wird! Wir sollten die Vollbeschäftigung - dass jeder eine Arbeit hat - wieder als Staatsziel aufnehmen. Daran sollten wir arbeiten, dafür sollten wir kämpfen! Das geht aber nur, wenn man die Rahmenbedingungen für die Unternehmen verbessert,
damit sie mehr Leute einstellen. Verwalten, verwalten und nochmals verwalten, das bringt den Leuten nichts. Wenn wir das schaffen, dann haben wir eine Chance auf eine gute Zukunft für unser schönes deutsches Vaterland. Ich freue mich über jeden Arbeitsplatz, der geschaffen wurde und wird. Ich habe selber im letzten Jahr in meiner Firma 43 Arbeitsplätze geschaffen; darüber freue ich mich.
Ob der Aufschwung, der anhält, etwas mit dem milden Winter zu tun hat oder mit der Fußballweltmeisterschaft oder mit dem charmanten Lächeln unserer Frau Kanzlerin - Hauptsache, es kommt ein Aufschwung. Aber wir dürfen die Nachhaltigkeit nicht vergessen. Die aber vergessen wir, wenn wir jetzt nichts ändern und nicht die Reformen durchführen, die wir brauchen.
Nur so kann es vorwärtsgehen.
In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Kurth, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Ich kann ja verstehen, dass das Thema Hartz IV für die beiden sozialdemokratischen Fraktionen in diesem Hause geradezu zur Vergangenheitsbewältigung einlädt.
Dabei geht es einerseits um den Gründungsmythos der Linken und andererseits um das Trauma, das die SPD noch zu verarbeiten hat: die Abspaltung einer zweiten sozialdemokratischen Strömung. Aber ich finde, man sollte sich im Rahmen dieser Debatte eher dem zuwenden, was in den Jobcentern tatsächlich passiert und was den Leuten im Angesicht der Fallmanagerinnen und Fallmanager widerfährt. Darum geht es!
Es geht um die Frage, ob die Potenziale, die das Sozialgesetzbuch II durchaus bietet, genutzt werden, ob Fallmanagerinnen und Fallmanager also zum Beispiel an die Motivation der Leute anknüpfen. Sie, Frau Nahles, haben zu Recht gesagt, dass 90, 95 Prozent der Menschen motiviert sind. Aber diese Motivation wird nur unzureichend genutzt. Den Fähigkeiten und Möglichkeiten der Menschen muss Raum gegeben werden. Die vorhandenen Instrumente müssen nach der Betrachtung der Persönlichkeit passend eingesetzt werden. Dabei muss man sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren, wenn man ein bestimmtes Entwicklungsziel erreichen möchte.
Was erleben wir stattdessen? Dass man beim Einsatz der Instrumente vorwiegend fiskalischen Überlegungen folgt. Da werden etwa die sogenannten 1-Euro-Jobs nicht nur übermäßig eingesetzt - Frau Pothmer hat das am Beispiel der Jugendlichen verdeutlicht -, sondern auch ihre Dauer wird strikt nach formalen Kriterien auf sechs Monate begrenzt. Wenn danach noch Bedarfe vorhanden sind, die Betroffenen vielleicht eine Anschlussqualifizierung machen wollen, dann kommt einfach nichts.
Lassen Sie sich einmal von den Beschäftigungsträgern in den Bereichen der Jugendberufshilfe vor Ort schildern, was zum Beispiel mit jungen Erwachsenen passiert, die langzeitarbeitslos sind und sechs Monate lang einen 1-Euro-Job gemacht haben. Ihnen wird nach sechs Monaten gesagt: Jetzt ist erst einmal Schluss. Vielleicht kannst du in einem halben Jahr erneut einen Antrag stellen und dann wiederkommen. - Die Motivation, die sie sich mühselig erarbeitet haben, wird sozusagen sofort wieder mit dem Hintern umgestoßen.
Wenn Sie auf diese Weise in einem Unternehmen in der freien Wirtschaft Personalentwicklung betreiben würden, dann wäre Ihre Firma schnell am Ende. Ich frage mich, warum wir die Potenziale und Möglichkeiten der Menschen nicht nutzen und warum wir mit den Instrumenten, die zur Verfügung stehen, nicht ernsthaft eine persönliche und berufliche Entwicklungsplanung betreiben, sondern das Geld stattdessen nach formalen Nürnberger Kriterien, nach denen das Ganze als ein Systemgeschäft betrachtet wird, verteilen.
Die Leistung muss den Menschen folgen, nicht der Mensch der Leistung. Das gilt umso mehr dort, wo Jobcenter mit anderen Einrichtungen zusammenarbeiten, etwa in der Jugendhilfe, in der Behindertenhilfe und in anderen Bereichen. Dort finden wir tatsächlich die Situation vor, dass sich die Kommunen mit Verweis auf die Jobcenter als vorrangige Leistungsträger einfach zurückziehen, indem sie sagen: Das ist eine vorrangige Leistung. Wir kommen dafür nicht mehr infrage. - Dass das falsch ist, legt die Bundesregierung in ihrer Antwort dar.
Die sogenannten nachrangigen bzw. ergänzenden Leistungen müssen von den Kommunen erbracht werden. Fakt ist aber, dass sie in vielen Fällen - nicht in allen - nicht von ihnen erbracht werden, wenn die Hilfebedürftigen sie nicht einklagen.
Herrn Haustein und Herrn Niebel von der FDP muss ich an dieser Stelle sagen: Die miserable Zusammenarbeit zwischen Jobcentern und Kommunen und die Leistungsverweigerung, die nicht wenige Kommunen betreiben, werfen ein bezeichnendes Licht auf die vermeintliche Kompetenz der Kommunen im Hinblick auf die Leistungserbringung. Das muss an dieser Stelle ganz klar zum Ausdruck gebracht werden.
Ich hätte mir gewünscht, dass diese Aspekte in der heutigen Debatte viel umfassender analysiert und stärker auf den Punkt gebracht worden wären, sodass dann entsprechend hätte gehandelt werden können. Aber hier wurde viel zu oft vor allem Vergangenheitsbewältigung betrieben. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen jedenfalls werden die Realität genau beobachten und auch weiterhin realitätsgenaue Vorschläge machen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion.
Maria Michalk (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die wichtigste Aufgabe des Staates, der Politik, ist nicht, selbst die fehlenden Arbeitsplätze zu schaffen, sondern die Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu verbessern. Auf dieses Ziel konzentrieren sich unsere gesamten politischen Anstrengungen.
Deshalb ist es auch aus ostdeutscher Sicht richtig und wichtig, dass die Anstrengungen für mehr Arbeitsplätze eben nicht nur in industriellen Ballungsgebieten verstetigt werden, sondern auch in der Fläche, in strukturell benachteiligten Regionen. Durch diesen hinter uns liegenden erfolgreichen Arbeitsprozess in den letzten eineinhalb Jahren und durch die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung und auch der jeweiligen Bundesländer ist es zum Beispiel im Freistaat Sachsen zum ersten Mal nach 1997 - also nach zehn Jahren - wieder gelungen, die Zahl der Arbeitslosen im Monat Februar auf weniger als 400 000 zu senken, nämlich auf genau 362 800.
Wer diesen Trend nicht wahrnimmt und würdigt, ist ein Miesmacher. Wir brauchen aber Optimisten.
Wirtschaftswachstum, geringe Arbeitslosigkeit, Inflation - das sind die wichtigsten Themen der Wirtschaftspolitik in nahezu allen Ländern dieser Welt. Deshalb ist die Behauptung in der Vorbemerkung zur Großen Anfrage der Linken, dass die ostdeutsche Bevölkerung besonders - ich zitiere - ?unter den Folgen eines ökonomisch fehlgeschlagenen Einigungsprozesses leidet“, ausgesprochen falsch. Über diese Realitätsferne kann man sich nur wundern.
18 Jahre nach der Wahl der frei gewählten Volkskammer - diesen Tag haben wir übrigens am letzten Sonntag gefeiert; ich möchte unbedingt daran erinnern - wollen Sie immer noch nicht die richtigen Beschlüsse der frei gewählten Volkskammer für Einheit, für Freiheit und für Wettbewerb akzeptieren. Wir wissen, dass die materiellen Grundlagen unseres menschlichen Daseins Einkommen und Beschäftigung sind, durch die sehr beeinflusst wird, ob sich der Einzelne gut oder krank fühlt.
Beim Bautzener Arbeitsamt ist zum Beispiel gut die Hälfte der 12 000 gemeldeten Arbeitslosen älter als 50 Jahre. In anderen Ländern ist das nicht anders. Diese Zahl spricht ihre eigene Sprache, die wir nicht gering schätzen dürfen. Eigentlich muss man sich doch fragen, was in der Diskussion falsch läuft. Ist es die Verwendung der Mittel, sind es zu wenige Eingliederungstitel, geht es um nicht eingesetzte Eingliederungstitel oder ist es die öffentliche Wahrnehmung? Was ist hier falsch?
Hartz IV kostete im ersten Jahr jedenfalls viel mehr Geld, als wir geplant hatten. Es gilt aber trotzdem als Instrument für gnadenlosen Sozialabbau. Diese Sicht auf staatliche Sozialleistungen ist falsch, allerdings räume ich ein, dass sich diese Sicht auch in den neuen Bundesländern hier und da einschleicht. Durch die sozialen Leistungen - auch Hartz IV als Paket - soll die existenzielle Not verhindert werden, was wirklich geschieht. Heute wird aber der Bezug der staatlichen Leistung an sich bereits als Notlage bezeichnet: Arm ist, wer Leistung bezieht. Das ist die öffentliche Meinung. Dagegen müssen wir uns wenden.
In Wirklichkeit ist es für viele, die auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Arbeit finden, wesentlich komplizierter, ihren Lebensalltag zu gestalten. Ich habe jedenfalls immer noch Schwierigkeiten, einem Familienvater mit zwei Kindern, dessen Frau die Kinder zu Hause betreut und der einen Bruttoverdienst von 2 000 Euro hat - das ist ein Spitzenverdienst in den neuen Bundesländern -, zu erklären, warum er am Monatsende zum Teil nur geringfügig mehr in der Tasche hat - manchmal sogar weniger; je nach der Konstellation - als ein Leistungsempfänger. Wir müssen diese Tatsache verändern.
Nein, die Einführung der Hartz-IV-Gesetzgebung war kein Fehler. Hier stimme ich meinen Vorrednern zu. Die Doppelstruktur von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war intransparent und unsozial, weil Personen in gleichen Lebenslagen unterschiedliche aktive und passive Leistungen erhielten.
Bei der Übersicht der Eingliederungsmaßnahmen fällt allerdings sofort auf, dass sich über 50 Prozent der Maßnahmen in den neuen Bundesländern auf ein Instrument - die Vermittlung in ein Beschäftigungsverhältnis - konzentrieren, und zwar deshalb, weil keine Integration in den ersten Arbeitsmarkt möglich ist; denn an diesem fehlt es.
Dass diese einseitige Ausrichtung von den Wirtschafts- und Unternehmensverbänden immer wieder kritisch hinterfragt wird, ist ein gutes Zeichen; denn die Wirtschaft kann sich nur im Wettbewerb entwickeln. Das gilt auch für uns in den neuen Bundesländern. Solange der erste Arbeitsmarkt keine durchgehende Alternative bietet, kann - das sehe ich auch so - auf dieses Instrument nicht verzichtet werden. Die Beschäftigungsgelegenheiten sind notwendig, um zum Beispiel der sozialen Isolation bestimmter Bevölkerungsschichten, die nach vielen erfolglosen Bewerbungen die Hoffnung auf einen Arbeitsplatz aufgegeben haben, vorzubeugen.
Die Menschen in den neuen Bundesländern haben übrigens sehr genau verstanden, dass sie gegen ihre scheinbar oder manchmal auch tatsächlich unrechtmäßige Behandlung vorgehen und ihre Rechte vor Gericht einklagen können. Deshalb ist zwar die Zahl der Klagen gestiegen, aber dies ist auch ein Zeichen dafür, dass der demokratische Rechtsstaat funktioniert und jedem zu seinem Recht verhilft.
Im Übrigen ist in Ihrem Entschließungsantrag eine Fülle von Forderungen enthalten, die allesamt auf mehr Staat und Ausgaben ausgerichtet sind. Dass aber das Verhältnis von Eigenverantwortung auf der einen Seite und Ausgewogenheit von Einnahmen und Ausgaben auf der anderen Seite in unserem Dasein von entscheidender Bedeutung ist, ist nichts Neues. Ich will das mit einem Gleichnis von Johann Wolfgang von Goethe belegen. Ich habe dieses Gleichnis ausgesucht, weil mich vor kurzem eine Besuchergruppe gefragt hat, was das für eine kulturlose Debatte sei. Deshalb habe ich mich entschieden, ein Gleichnis dieses ehrwürdigen Dichters vorzutragen, der schon zu seiner Zeit darauf hingewiesen hat, dass wir nur das ausgeben können, was wir haben, wobei wir aber auf Ausgewogenheit achten sollten. Ich zitiere, mit Verlaub, das Gleichnis:
Ein Kaiser hatte zwei Kassiere,
Einen zum Nehmen, einen zum Spenden;
Diesem fiel’s nur so aus den Händen,
Jener wußte nicht, woher zu nehmen.
Der Spendende starb; der Herrscher wußte nicht gleich,
Wem das Geberamt sei anzuvertrauen.
Und wie man kaum tät um sich schauen.
So war der Nehmer unendlich reich:
Man wußte kaum vor Gold zu leben.
Weil man einen Tag nichts ausgegeben.
Da ward nun erst dem Kaiser klar,
Was schuld an allem Unheil war.
Den Zufall wußt er wohl zu schätzen.
Nie wieder die Stelle zu besetzen.
Deshalb werden wir Ihrem Entschließungsantrag nicht zustimmen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Gregor Amann für die SPD-Fraktion.
Gregor Amann (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich nicht mit dem Entschließungsantrag der Linken auseinandersetzen, der auf einer Großen Anfrage basiert - das haben Herr Staatssekretär Andres und andere Vorredner schon ausführlich getan -, aber eine Frage stellt sich mir: Warum stellen Sie eine Große Anfrage, wenn Sie die Antwort der Bundesregierung gar nicht zur Kenntnis nehmen?
Ich will mich in erster Linie mit der Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I beschäftigen. Wenn es auch auf den ersten Blick nach mehr sozialer Gerechtigkeit aussieht, so ist es dennoch eine Mogelpackung. Dabei ist es völlig egal, ob diese Forderung von Ihnen oder von Herrn Rüttgers kommt; denn es ist und bleibt wahr - das konnte auch Herr Lafontaine nicht widerlegen -, dass die Arbeitslosenversicherung keine Anwartschaftsversicherung, sondern eine Risikoversicherung ist.
Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sind keine Kapitalanlage, sondern eine Risikoabsicherung, die dann zum Tragen kommt, wenn Arbeitslosigkeit zu Verdienstausfall führt. Das ist ähnlich wie bei der Brandschutzversicherung, bei der Sie nur dann Geld bekommen, wenn Ihr Haus abbrennt.
Vorhin wurde das Äquivalenzprinzip angesprochen. Dieses Prinzip gilt nur für die Höhe der Leistung, aber nicht für die Länge der Bezugsdauer.
Mit Ihrem Antrag stellen Sie dieses bewährte System infrage und wer sagt denn, dass ein 42-jähriger Familienvater, dessen heranwachsende Kinder gerade eine Ausbildung oder ein Studium beginnen, oder die 28-jährige Alleinerziehende einen geringeren Finanzbedarf haben, wenn sie arbeitslos werden, als ein 55- oder 60-Jähriger? Soziale Gerechtigkeit ist manchmal komplexer, als es auf den ersten Blick scheint.
Sie wollen das alles über eine Kürzung des Aussteuerungsbetrags bezahlen. Worum geht es dabei? Den sogenannten Aussteuerungsbetrag muss die Bundesagentur für Arbeit für jeden Arbeitslosen an den Bund zahlen, der länger als zwölf Monate ohne Job bleibt und damit in das Arbeitslosengeld II wechselt. Rund 10 000 Euro sind pro Arbeitslosen fällig. Da das Arbeitslosengeld I aus Beitragsmitteln der Arbeitslosenversicherung und das Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln gezahlt wird, findet durch den Aussteuerungsbetrag eine Beteiligung der Arbeitslosenversicherung an den Kosten der Langzeitarbeitslosigkeit statt. Über den Aussteuerungsbetrag soll die Bundesagentur für Arbeit, die heute keine Behörde mehr ist, sondern nach Zielvereinbarungen arbeitet, dazu motiviert werden, die Vermittlung in Arbeit innerhalb der ersten zwölf Monate besonders intensiv zu betreiben, um so die Betroffenen erst gar nicht in Langzeitarbeitslosigkeit fallen zu lassen. Denn es ist bekannt: Je länger jemand arbeitslos ist, desto schwieriger wird die Rückkehr in das Arbeitsleben.
Man kann das Instrument des Aussteuerungsbetrags bestimmt kritisieren und wahrscheinlich noch besser justieren. Es ist kein Allheilmittel oder Wundermittel. Aber wer eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für Ältere aus diesem Topf finanzieren möchte, nimmt dafür mutwillig einen Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit in Kauf, und nicht nur aus diesem Grund erinnern wir uns - darauf wurde vorhin hingewiesen -: Bis in die 70er-Jahre hatten wir in Deutschland eine einheitliche Bezugsdauer des Arbeitslosengelds von zwölf Monaten. Mit steigender Langzeitarbeitslosigkeit hat die damalige Regierung die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds angehoben, zumindest für manche. Die Folge war ein deutlicher Anstieg der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung auf 6,5 Prozent und ein erheblicher Anstieg der Bundeszuschüsse. Wir haben die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes von maximal 32 Monaten auf maximal 18 Monate zurückgeführt, um der Frühverrentungspraxis in einer Vielzahl von Betrieben wirksam entgegenzuwirken. Die Praxis gerade in vielen Großunternehmen hatte in der Vergangenheit dazu geführt, ältere Menschen auf Kosten der Beitragszahler der Arbeitslosenversicherung früher aus den Betrieben zu schicken. Wir wollen keinen Rückfall in die Zeiten der Frühverrentung.
Wenn wir etwas für Arbeitslose, jüngere oder ältere, tun wollen, dann geht das nur auf einem Weg: Arbeit schaffen. Ältere Arbeitslose wollen nicht länger Arbeitslosengeld beziehen, sondern wieder in Arbeit kommen und sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Im Februar 2007 hat sich die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich zum Vorjahresmonat um 826 000 verringert; das wurde bereits gesagt. Auch die Beschäftigungsquote der Älteren steigt wieder an. Erst vor wenigen Tagen war dies in der ?Frankfurter Rundschau“ zu lesen. Mit der Initiative ?50 plus“, die wir in der letzten Sitzungswoche verabschiedet haben, haben wir weitere wirksame Schritte zur Beschäftigung Älterer unternommen: Eingliederungszuschüsse, Kombilöhne, Weiterbildungshilfen. Meine Damen und Herren von der Linken, Sie beschränken sich mit einer Verlängerung des Arbeitslosengeldbezugs für Ältere darauf, die Symptome zu lindern.
Wir hingegen wollen die Ursachen bekämpfen. Wir wollen wieder Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren.
In der kurzen Redezeit, die mir noch verbleibt, möchte ich noch auf Ihren Antrag auf Auflösung der Bundesagentur für Arbeit eingehen, meine Damen und Herren von der FDP.
Ihr Antrag von September 2006 ist heute schon veraltet. Der Eingangssatz lautet:
Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich trotz der sog. Hartz-Reformen nicht grundlegend verbessert.
Er ist bereits heute überholt. Die aktuellen Zahlen wurden bereits genannt.
Aber auch der Rest Ihres Antrages ist nicht viel besser als der Anfang. Sie wollen die Bundesagentur für Arbeit zu einer Art Privatversicherung umgestalten. Wenn es in Ihrem Antrag heißt, die Gesamtäquivalenz zwischen Leistungen und Beiträgen müsse wiederhergestellt werden - hier treffen sich erschreckenderweise die Anträge der Linken und der FDP -,
dann bedeutet das nichts anderes, als dass derjenige, der öfter arbeitslos wird, mehr Beiträge zahlt.
Das kann nicht sein. Das Prinzip mag für eine Kfz-Versicherung in Ordnung sein, aber es taugt nicht zur Absicherung des Lebensunterhalts im Falle der Arbeitslosigkeit.
Auch Ihr Modell eines Niedrigtarifs mit Karenzzeit geht in die gleiche Richtung. Sie tun so, als könnten die Menschen frei entscheiden, ob sie arbeitslos werden oder nicht.
Wir Sozialdemokraten wollen Lebensrisiken nicht privatisieren, sondern wir sind für eine solidarische Risikoabsicherung mit einer paritätischen Finanzierung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Gregor Amann (SPD):
Aber gerne.
Dirk Niebel (FDP):
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir einen solidarisch finanzierten Regeltarif in der Arbeitslosenversicherung vorsehen und darüber hinaus, da der Arbeitgeberbeitrag steuerfrei an den Arbeitnehmer auszuzahlen ist, Anreize für zusätzliche Wahltarife schaffen wollen, die jeder individuell gestalten kann, somit also die solidarische Grundabsicherung des Lebensrisikos Arbeitslosigkeit entsprechend des Äquivalenzprinzips erfolgt, darüber hinaus aber Wahlmöglichkeiten geschaffen werden
und durch die Einführung möglichst vieler privatwirtschaftlicher Elemente in die Arbeitslosenversicherung und in die Arbeitsvermittlung eine generelle Privatisierung dieses Sicherungssystems ausgeschlossen wird?
Gregor Amann (SPD):
Herr Niebel, ich danke Ihnen für die Frage. Dadurch kann ich etwas länger reden. Sie haben vollkommen recht.
- Nein, Sie haben nicht recht. Ich fange anders an.
Ich konnte das in Ihrem Antrag so nicht sehen. Mit der Einführung von Wahltarifen tun Sie wiederum so, als ob der Mensch die Wahl hätte, arbeitslos zu werden oder nicht.
Das ist nicht richtig. Wenn Sie die Zuschüsse des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer auszahlen lassen, dann gehen Sie weg von der paritätischen Finanzierung. Dann wird der Arbeitgeberbeitrag ein Teil des Arbeitslohns, der in Tarifverhandlungen verhandelt wird. Das bedeutet einen Schritt weg von der paritätischen Finanzierung. Das ist nicht unser Weg.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Gregor Amann (SPD):
Aber gerne.
Dirk Niebel (FDP):
Vielen Dank, Herr Kollege. - Würden Sie mir zustimmen, dass ein beitragssenkender Wahltarif, bei dem die Hälfte der Beitragseinsparungen beim Arbeitgeber bleibt, für den Arbeitnehmer unattraktiver ist als ein Tarif, bei dem der Arbeitgeberanteil vorher zu 100 Prozent ausgezahlt wird und der Arbeitnehmer, der über den Regeltarif hinaus einen Wahltarif in Anspruch nimmt, der zu Beitragssenkungen führt, dann 100 Prozent der Beitragsersparnis für sich hat?
Gregor Amann (SPD):
Ich kann keinerlei Notwendigkeit sehen, in die Arbeitslosenversicherung Wahltarife einzuführen.
Ich komme zum Ende: In der Tag, die Reform der Arbeitsverwaltung ist noch nicht an ihrem Ziel, aber sie ist auf einem guten Weg. Ihr Weg, Herr Niebel, führt in die Irre.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Max Straubinger für die Fraktion der CDU/CSU.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Am Schluss dieser Debatte ist festzustellen, dass die Opposition keine Antwort auf die Frage hat, wie wir Menschen aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit bringen.
Man kann sich trefflich über die Höhe von Leistungen der sozialen Sicherung streiten. Diese Frage wird sich immer im politischen Spannungsfeld befinden. Ich bin überzeugt, dass das nicht nur heute, sondern auch in Zukunft Gegenstand der politischen Auseinandersetzung sein wird.
Die Politik ist aufgefordert, dafür zu sorgen, dass den bedürftigen Menschen die entsprechende soziale Unterstützung gewährt wird. Ich glaube, dass die Große Koalition das gewährleistet. Es ist wichtig, darzustellen, dass gewährleistet ist, dass diese Menschen in Würde leben können.
Die Höhe der Leistungen ist heute schon vielfach erwähnt worden. Ich möchte darauf hinweisen, dass diese nach der Einkommens- und Verbrauchsstatistik ermittelt wird. Darin wird alles berücksichtigt, was zu einem menschenwürdigen Leben notwendig ist.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin aus der Fraktion Die Linke?
Max Straubinger (CDU/CSU):
Ja.
Kornelia Möller (DIE LINKE):
Vielen Dank. - Herr Straubinger, aus Ihrem Einstieg schließe ich, dass Sie zum Beispiel unsere Anträge zum Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung und zur Verbesserung der Beschäftigungschancen Älterer nicht kennen, obgleich wir beide Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Soziales sind. Wenn es so ist, dass Sie diese beiden Anträge nicht kennen, dann lasse ich sie Ihnen sehr gerne zukommen. Sie müssten mir nur bestätigen, dass Sie sie noch nicht kennen.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Verehrte Kollegin Möller, ich habe Ihre Anträge gelesen. Ich werde darauf später noch zurückkommen. Es geht doch nicht um die Beschäftigung im öffentlichen Bereich. Wir wollen, dass mehr Menschen in den ersten Arbeitsmarkt kommen.
Ihre Vorstellungen drehen sich immer nur um den Staat. Unsere Vorstellungen zielen letztendlich auf mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt. Dazu soll es durch die von uns gesetzten wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen kommen. Diesbezüglich kann diese Bundesregierung auf großartige Erfolge verweisen.
Die beste Sozialpolitik ist eine Politik, die dafür sorgt, dass es mehr Beitrags- bzw. Steuerzahler gibt. Das erfordert letztendlich, dass die Eigenverantwortlichkeit der Menschen gestärkt wird. Dazu stehen wir. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass es effektive Strukturen gibt, zum Beispiel, um die sozialpolitischen Aufgaben zu bewältigen. Sämtliche Anträge, die wir heute beraten, stehen damit im Zusammenhang.
Heute wurde bereits in vielfältiger Weise dargelegt: Die Bundesregierung und diese Koalition können auf große Erfolge im Jahr 2006 zurückblicken. Das ist ein Ansporn, den Bürgerinnen und Bürgern auch in Zukunft die Möglichkeit zu geben, am ersten Arbeitsmarkt teilzuhaben. Von den wirtschaftsrelevanten Daten gehen positive Signale aus, dass sich der Trend einer sinkenden Arbeitslosigkeit im Jahr 2007 fortsetzt - im abgelaufenen Jahr ist die Arbeitslosigkeit um über 600 000 gesunken -, sodass am Ende dieses Jahres wiederum vermeldet werden kann: 300 000 oder 400 000 Menschen haben zusätzlich Arbeit gefunden und gehen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach.
Bei 1,6 Millionen offenen Arbeitsstellen muss das erreicht werden.
Es gibt verschiedene Elemente. Die Hartz-Gesetze haben sich bisher - trotz manchem, was nachjustiert werden musste - sehr positiv entwickelt. Der Ansatz ?Fördern und Fordern“ muss und wird gleichermaßen weiterverfolgt werden.
Die Anträge der Linken sind meines Erachtens kontraproduktiv. Die Linken fordern in ihrem Entschließungsantrag zum Beispiel einen Mindestlohn von 8 Euro. Das übertrifft sogar noch die Forderungen der Gewerkschaften. Was würde es bedeuten, wenn man dieser Forderung nachkäme? Es würde zuerst einmal die Aushöhlung der Tarifautonomie - Gewerkschaften und Arbeitgeber verhandeln frei über die Höhe der Löhne - bedeuten; man würde also den Pfad der Tarifautonomie verlassen. Ich glaube, dass die Tarifautonomie in der Vergangenheit für eine gute Entwicklung stand. Die beiden Tarifpartner sind meines Erachtens auch in sozialpolitischer Hinsicht verlässliche Partner, wenn es nämlich darum geht, gute Löhne auszuhandeln, die für die Menschen in Deutschland die Sicherung ihrer Existenzgrundlage gewährleistet.
Würde man der Forderung der Linken nachkommen, hätte dies natürlich auch die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland zur Konsequenz. Die Einführung eines Mindestlohns hätte zur Folge, dass die Schwarzarbeit zunimmt.
Es wird gefordert - für mich ist das zum Teil unverständlich, auch wenn es von der arbeitsmarktpolitischen Seite her nachvollziehbar zu sein scheint -, unseren Arbeitsmarkt im Bereich der Saisonarbeit in der Landwirtschaft abzuschotten. Die Begründung dafür lautet: Diese Tätigkeiten müssen von inländischen Arbeitsuchenden ausgeübt werden. Das ist an sich richtig. Der Tariflohn liegt bei 5,20 Euro. Bei einem Mindestlohn von 8 Euro und vor dem Hintergrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa ab 2009 oder ab 2011 werden nach meiner Überzeugung vor allen Dingen diejenigen Menschen aus dem Arbeitsprozess gedrängt werden,
die am Arbeitsleben aufgrund persönlicher Einschränkungen nicht teilhaben können. Das wird die große Gefahr bei einem hohen Mindestlohn sein, werte Kollegin Möller. Das sollten Sie hierbei auch bedenken.
In ihrem Antrag fordern die Linken auch, dass die Zumutbarkeitsregelungen zur Arbeitsaufnahme in mehreren Bereichen verändert werden. Vor allen Dingen soll in dem Zusammenhang zukünftig die politische und religiöse Gewissensfreiheit geschützt werden. Ich frage mich natürlich, was darunter alles zu verstehen ist. Das bedeutet natürlich eine tolle Wandlung. Früher, als Sie noch ?SED“ hießen und die SED die Verantwortung hatte, haben Sie mit dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund die Leute genötigt, Arbeit aufzunehmen, ohne Bezahlung, und dafür den Sozialismus zu verbreiten. Heute bereiten Sie ein anderes Einstiegsprogramm vor. Da gibt es eine Partei, die zum Spruch des Tages erhoben hat - ich zitiere -: ?Lieber einen Bauch vom Saufen als einen Buckel vom Arbeiten“
und als Lebensweisheit verkündet: Solange der Bauch noch in die Weste passt, wird keine Arbeit angefasst.
Das ist letztlich das Einstiegsprogramm für Faulenzer in unserem Land. Das kann meines Erachtens nicht Ziel einer Politik in diesem Land sein.
Ich darf mich ganz kurz auch noch mit dem Antrag der FDP befassen. Mir ist eines aufgefallen: Sie wollen die Bundesagentur für Arbeit auflösen bzw. zerschlagen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Möller, auch wenn Ihre Redezeit dem Ende zugeht?
Max Straubinger (CDU/CSU):
Ich möchte das zu Ende führen.
Die FDP sagt also: Die Bundesagentur muss aufgelöst bzw. zerschlagen werden. Es soll eine Agentur geben, die nur noch das Arbeitslosengeld auszahlt. Es soll daneben Jobcenter geben. Ich lese hier - ich zitiere aus dem Antrag -:
Die Job-Center sind Anlaufstellen für alle arbeitsuchenden Personen. Sie gewährleisten eine umfassende Betreuung und treffen alle im Einzelfall notwendigen Entscheidungen. Sie koordinieren alle Kompetenzen, die zur Eingliederung in Erwerbsarbeit und zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit notwendig sind.
Ich glaube, dass diese Aufgaben derzeit die BA schon sehr gebündelt erledigt.
Deshalb wäre es Unsinn, jetzt ein neues Schild zu kreieren. Sie, Herr Kollege Niebel - das gilt auch für uns -, haben sich seinerzeit über die Umfirmierung von ?Bundesanstalt für Arbeit“ in ?Bundesagentur für Arbeit“ aufgeregt sowie darüber, was die neuen Schilder gekostet haben. Letztlich würde auch Ihr Vorschlag wieder nur bedeuten, dass neue Schilder angeschafft werden müssen -
von den Wahltarifen abgesehen, die meines Erachtens nicht sehr zielführend sein können.
Werte Frau Präsidentin, ich bedanke mich, auch dafür, dass ich drei Sekunden überziehen durfte.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 16/2684, 16/3538 und 16/4749 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4774 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 16/2684 und zusätzlich an den Rechtsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe: Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 88. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 23. März 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]