124. Sitzung
Berlin, Freitag, den 9. November 2007
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie herzlich und wünsche uns allen einen guten Morgen und gute Beratungen.
Heute ist der 9. November, der Tag im Jahresablauf, der wie kein zweiter herausragende Ereignisse, Höhepunkte und Tiefpunkte der deutschen Geschichte markiert, von der Ausrufung der Republik 1918 über die staatlich organisierten Judenpogrome 1938 bis zum Fall der Mauer 1989. Fast auf den Tag genau vor 200 Jahren wurde Robert Blum geboren, deutscher Revolutionär, Kämpfer für Einheit und Freiheit, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung. Robert Blum reiste zusammen mit zwei weiteren Abgeordneten im Oktober 1848 nach Wien, wo nach der Wiener Märzrevolution Freiheitsbewegungen der nichtdeutschsprachigen Nationen ausgebrochen waren, zur Unterstützung der dortigen Aufständischen. Nach einigen öffentlichen Auftritten und Reden wurde er am 4. November verhaftet. Unmittelbar nach seiner Verhaftung schrieb er seiner Frau:
Ich werde unfreiwillig hier zurückgehalten. Denke dir indes nichts Schreckliches, wir werden sehr gut behandelt. Allein die große Menge der Verhafteten kann die Entscheidung wohl etwas hinausschieben.
Am 9. November 1848 wurde er standrechtlich erschossen. Einen Tag später wäre er 41 Jahre alt geworden.
Die Geschichte der Bemühungen der Deutschen um die Verbindung von Einheit und Freiheit ist lang und schwierig. Sie ist von vielen tragischen Ereignissen begleitet, bevor sie 1989/90 ihren glücklichen Abschluss gefunden hat.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2007
- Drucksache 16/6500 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss)
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2006
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Arnold Vaatz, Ulrich Adam, Peter Albach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Stephan Hilsberg, Andrea Wicklein, Ernst Bahr (Neuruppin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2006
- Drucksachen 16/2870, 16/3310, 16/4041 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Roland Claus
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien (22. Ausschuss)
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dr. Norbert Lammert, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU,
der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Markus Meckel, Dr. Gerhard Botz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Cornelia Pieper, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Errichtung eines Freiheits- und Einheits-Denkmals
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dr. Norbert Lammert, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Markus Meckel, Dr. Gerhard Botz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Errichtung eines Freiheits- und Einheits-Denkmals
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Errichtung eines Denkzeichens mit Dokumentationszentrum zur Erinnerung an die friedliche Revolution 1989
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Grietje Bettin, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Diskussionsprozess über ein Freiheits- und Einheitsdenkmal unter breit angelegter Beteiligung der Öffentlichkeit initiieren
- Drucksachen 16/6925, 16/6776, 16/6926, 16/6927,
16/6974 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katrin Göring-Eckardt
Der Ausschuss für Kultur und Medien hat in seine Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6974 die Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD sowie der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen betreffend die Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals auf den Drucksachen 16/6925, 16/6926 und 16/6927 einbezogen. Über diese Vorlagen soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. - Ich stelle fest, dass dazu Einverständnis besteht. Dann ist das so beschlossen.
Zum Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2007 liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Zu den Anträgen auf den Drucksachen 16/6776 und 16/6925 zur Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals liegt ein Änderungsantrag von einer Gruppe von Abgeordneten vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält als Erster der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Wolfgang Tiefensee.
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Ich bin sehr dankbar, dass wir den Bericht zur deutschen Einheit heute, am 9. November, beraten. Wenn ich auf die Tribüne schaue, wo ich eine Vielzahl von jungen Leuten sehe, dann führe ich mir vor Augen, dass gerade Sie, die Sie vielleicht 18, 19 Jahre alt sind, die Ereignisse um Ihre Geburt herum nur vom Hörensagen kennen.
Der 9. November 1989 ist eine Zäsur in der deutschen Geschichte, eine Zäsur nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa und die ganze Welt. Für mich als jemanden, der in den neuen Bundesländern groß geworden ist, ist mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 in vielerlei Hinsicht ein Tor aufgegangen. Das, was wir über Jahre und Jahrzehnte ersehnt haben, ist Wirklichkeit geworden: endlich Demokratie, Freiheit und der Weg hin zur Einheit.
Dieser Tag ist nicht vom Himmel gefallen, auch wenn es wie ein Wunder scheint. Er hatte Vorläufer. Deshalb halte ich es für ausgesprochen sinnvoll, heute auch über ein Denkmal für die Freiheit und Einheit zu diskutieren. Wir müssen an diesen Tag erinnern und uns dennoch vor Augen führen, dass wir eine Bringschuld gegenüber unseren polnischen Nachbarn - Stichwort Gdansk - und unseren tschechischen Nachbarn - Charta 77 - haben. Sie und Perestroika, Glasnost und der zerschnittene Stacheldrahtzaun in Ungarn gemahnen uns: Es gibt Menschen, die mit ihrem Blut diesen 9. November 1989 möglich gemacht haben. Wir sollten an sie erinnern, wenn wir über ein Denkmal, über Denkmäler sprechen. Ohne diese Menschen gäbe es keine deutsche, keine europäische Einheit.
In diese Zeit fällt ein wunderbares Wort von Willy Brandt: Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört. - Wir legen Ihnen einen Bericht vor, der von diesem Zusammenwachsen spricht. Dieser Bericht hat aber auch eine Problematik. Er beschreibt nämlich vorwiegend die Differenzen. Er setzt die wirtschaftliche Entwicklung, die soziale Entwicklung, die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern immer in Relation zu der in den alten Bundesländern. So kann es leicht passieren, dass wir die Diskussion nur über die Unterschiede führen. Deshalb wünschte ich, dass dieser Bericht mit seiner realistischen Sicht auf das, was sich in den neuen Bundesländern in den letzten Monaten und Jahren verändert hat, die Tür für eine weitere Herangehensweise öffnet, die ich mit ?Zusammen wachsen“ bezeichnen möchte; denn nicht nur zusammenzuwachsen im Willy-Brandt’schen Sinne ist wichtig, sondern auch, dass Deutschland in Ost und West gleichermaßen die Herausforderungen annimmt und dass die neuen Bundesländern ihren Beitrag dazu leisten. Wir sollten also die produktive Spannung von Differenzen, die darin besteht, dass wir in den neuen Bundesländern anderes als die alten Bundesländer einbringen können, um Deutschland und Europa insgesamt voranzubringen, in der Zukunft mehr in den Blick nehmen.
Es gibt äußerst positive Entwicklungen in den neuen Bundesländern. Sie sind markiert durch die hervorragende industrielle Entwicklung, die ein deutliches Mehr in Relation zu den anderen Bundesländern aufweist. 10 Prozent, 11 Prozent Wachstum zeigen, dass wir aufholen. Die schlechte Nachricht: von einem vergleichsweise niedrigen Niveau aus. Der Arbeitsmarkt belebt sich. Die Zahl der Kurzzeitarbeitslosen wird in den neuen Bundesländern in gleichem Maße wie in den alten reduziert. Die schlechte Nachricht: Das Niveau ist nach wie vor hoch, zu hoch, immer noch doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern. Die Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich auf hohem Niveau. Wir haben eine gesteigerte Exportquote zu verzeichnen. Das Bruttoinlandsprodukt steigt. Das ist gut. Die schlechte Nachricht: Es beträgt im Vergleich zu den alten Bundesländern nur 67,5 Prozent. Dieses Sowohl-als-auch, dieses Viel-erreicht-viel-zu-tun, markiert diesen Bericht zum Stand der deutschen Einheit.
Was müssen wir tun? Wir müssen bei der wirtschaftlichen Entwicklung ansetzen. Deshalb muss alles unterstützt werden, was in Richtung Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe, Förderung der industriellen Dienstleistungen und des Beherbergungsgewerbes geht. Wir brauchen eine Aufstockung in diesem Bereich. Ich denke dabei auch an die Investitionszulage. Wir müssen die Zahlung der Investitionszulage über das Jahr 2009 hinaus fortsetzen, damit sowohl in den kleinen und großen Wachstumszentren als auch auf dem flachen Lande, also in den ländlichen Räumen, gefördert werden kann.
Wir müssen etwas tun, um denjenigen eine Perspektive zu geben, die langzeitarbeitslos sind. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist die Geißel in den neuen Bundesländern. Mein Kollege Franz Müntefering und ich haben deshalb das Modell ?Kommunal-Kombi“ ausgearbeitet; gestern haben wir darüber mit den Ländervertretern noch einmal diskutiert. Wir wollen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze für diejenigen schaffen, die länger als zwei Jahre arbeitslos sind und beheimatet sind in Regionen, die eine Arbeitslosigkeit von über 15 Prozent ausweisen. Das Neue ist, dass das auch Gebiete in den alten Bundesländern treffen wird, weil auch sie von dieser Problematik betroffen sind.
Wir müssen mehr für Forschung und Entwicklung tun. Wir tun das, indem wir mit Innovationswettbewerben wie ?Wirtschaft trifft Wissenschaft“ die Verbindung von Industrie und Wissenschaft, Forschungseinrichtungen und Forschungsinstitutionen verbessern.
Wir müssen auch bei der demografischen Entwicklung ansetzen. Noch immer wandern viel zu viele kreative Menschen aus. Sie gehen in die alten Bundesländer oder in die Wachstumszentren der neuen Bundesländer, und die ländlichen Räume bluten aus. Am Stettiner Haff und um den Kyffhäuser herum erproben wir mit Modellprojekten, wie der ländliche Raum Attraktivität und damit Bindewirkung entfalten kann, damit junge, kreative Leute, damit Frauen und Männer diese Orte nicht verlassen, sondern bleiben bzw. hinziehen. Das ist eine gigantische Zukunftsaufgabe, der wir uns stellen. Wir sind auf gutem Wege. Wir brauchen alle Instrumentarien, um den Aufschwung Ost zu beschleunigen.
Hierzu dient die Betrachtung der Geschichte. Demokratie, demokratische Entwicklung, der Aufbau der neuen Länder zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern, das ist die Essenz, aus der ein weiterer Aufschwung entstehen kann. Ich sage noch einmal: Lassen Sie uns in Berlin an die Zeit des 9. November 1989 erinnern, und zwar nicht nur als Rückbezug auf die Geschichte davor und um dieses Datum herum, sondern auch, um über Demokratie, Aufbruch zur Demokratie und Stabilität der Demokratie zu reden.
Wir haben das Problem des aufkeimenden Rechtsextremismus. Wir haben das Problem, dass Straftaten mit rechtsradikalem Hintergrund in Deutschland zunehmen, besonders in den neuen Bundesländern. Wir müssen auch im Hinblick auf das Datum 9. November - 9. November 1989, aber auch 9. November 1938 - über diese Fragen diskutieren.
Entscheidend war nicht zuletzt der 9. Oktober 1989 in meiner Heimatstadt Leipzig.
Diejenigen, die die friedliche Revolution miterlebt haben, wissen, dass es ohne Leipzig einen solchen 9. November nicht gegeben hätte. Auch hier gilt es, in der Öffentlichkeit ein markantes, signifikantes Zeichen zu setzen, damit wir uns daran auch in Zukunft erinnern.
Wenn es darüber hinaus gelingt, an bestimmten Orten Zeichen zu setzen, wie es schon heute beispielsweise in Magdeburg geschieht, damit Eltern eine Anlaufstelle haben, um ihren Kindern zu sagen: ?Ich war damals dabei; ich habe mit dafür gesorgt, dass du frei reden und reisen kannst, dass du dich organisieren kannst, dass du in Demokratie und Freiheit lebst“, dann wären das Erinnern und der Aufbruch komplett.
Willy Brandt hat gesagt:
Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, im Inneren und nach außen.
Lassen Sie uns den Bericht zum Stand der deutschen Einheit und den 9. November 1989 dazu nutzen, unsere Kraft für ein Zusammenwachsen in Deutschland einzusetzen und dafür, dass Freiheit und Demokratie nicht nur hier, sondern auch andernorts zum Durchbruch kommen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Besuchertribüne hat Lothar de Maizière, der erste und letzte frei gewählte Ministerpräsident der DDR, Platz genommen. Lieber Herr de Maizière, ich begrüße sie ganz herzlich heute im Deutschen Bundestag.
Ich verbinde meinen und unseren Gruß ausdrücklich mit unserem großen Respekt, den ich Ihnen stellvertretend für viele Frauen und Männer diesseits und jenseits politischer Ämter für den herausragenden Beitrag zum Ausdruck bringen möchte, den Sie zur Vollendung der Einheit in Freiheit und Frieden geleistet haben.
Mein herzlicher Gruß gilt auch Bischof Huber, dem ich zugleich für seinen geistigen und geistlichen Einstieg in den heutigen Tag bei der ökumenischen Morgenbesinnung herzlich danken möchte.
Wir setzen die Aussprache fort. Der nächste Redner ist der Kollege Joachim Günther für die FDP-Fraktion.
Joachim Günther (Plauen) (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass Sie, Herr Präsident und Herr Minister, den 9. November bereits gewürdigt haben. Ich möchte mich dem voll und ganz anschließen. Ich finde es sehr gut, dass wir die Debatte zur deutschen Einheit an diesem Tag zu einer Stunde durchführen, in der eine breite Öffentlichkeit sie mitbekommt.
Heute vor 18 Jahren ist die Mauer gefallen. Das ist ein Thema, das uns 18 Jahre danach weiter beschäftigt und, wenn wir diesen Bericht genau betrachten, sicherlich auch in 18 Jahren noch beschäftigen wird. Sie, Herr Minister, haben uns einen Bericht vorgelegt, der - das sage ich bewusst - strukturierter und aussagekräftiger ist als die Berichte der Vorjahre. Aber auch dieser Bericht enthält kein Gesamtkonzept zur Entwicklung Ost; ein solches fordern wir schon seit Jahren im Zusammenhang mit diesem Bericht.
Es kommt jetzt darauf an, die Konsequenzen aus diesem Bericht und denen der Vorjahre schneller als in der Vergangenheit aufzunehmen und sie in die Realität umzusetzen. Deshalb möchte ich einige Fakten aus dem Bericht darlegen und versuchen, ein paar Lösungswege aufzuzeigen.
Fakt ist zwar, dass die Arbeitslosigkeit im Osten unseres Landes, wie Sie, Herr Minister, gesagt haben, zurückgegangen ist. Aber sie ist nach wie vor doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern. Fakt ist auch, dass die überwiegende Zahl der Geringverdiener und ALG-II-Empfänger im Osten Deutschlands wohnt.
Ich möchte deshalb die wirtschaftliche Lage etwas detaillierter betrachten. Das Bruttoinlandsprodukt - so steht es in Ihrem Bericht - stieg im Osten real mit 3 Prozent leicht stärker als im Westen mit 2,7 Prozent. Damit sind wir beim Pferdefuß der Entwicklung. Die Wirtschaftskraft je Einwohner beträgt in den neuen Bundesländern nach wie vor zwei Drittel der Wirtschaftskraft in den alten Bundesländern. Wenn wir die Angleichung von Ost und West weiter in solchen Schritten betreiben, werden wir noch in Jahrzehnten über die Angleichung reden. Deshalb muss uns hier etwas Neues einfallen.
Weniger produktive Arbeitsplätze und geringere Bezahlung bedeuten mehr Abwanderung im Osten Deutschlands; das ist ein Kreislauf, infolgedessen in einigen Jahren junge und qualifizierte Arbeitskräfte fehlen werden. Dies hat die Bundesregierung in ihrem Bericht richtig aufgezeigt. Dort heißt es:
Die Bevölkerungszahl in den neuen Ländern geht kontinuierlich zurück.
Das stimmt, und das wird in einigen Gebieten auch nicht zu verhindern sein. Ich zumindest bin aber nicht bereit, das Ganze einfach hinzunehmen oder als unabwendbar zu bezeichnen.
Diskussionen, wie sie jetzt in Brandenburg begonnen haben, darüber, ganze Randgebiete der Entvölkerung zu überlassen, können nicht das Ziel sein, wenn man eine liebenswerte Heimat erhalten will.
Deshalb müssen wir ständig versuchen, die Rahmenbedingungen, die wir - das betone ich - selbst beeinflussen können, zum Positiven zu wenden.
Wir als FDP haben dafür in den vergangenen Jahren konkrete Vorschläge unterbreitet; sie liegen auch jetzt wieder vor. Ich möchte nur zwei davon ganz kurz streifen: Wie lange wurde in allen Parteien über die Schaffung von Modellregionen gesprochen und gerichtet? Nichts ist auf den Weg gekommen. Die Infrastrukturprojekte ?Deutsche Einheit“ müssen konsequent zu Ende geführt werden, ohne Zeitverzögerungen in einigen Bereichen.
Ich bitte die Bundesregierung, die Fördermittel für die EU-Osterweiterung aus den Strukturfonds wirklich für den grenzüberschreitenden und transeuropäischen Ausbau der Verkehrsnetze einzusetzen. Dies wird immer dringender. Vor uns steht der 21. Dezember 2007: Die Grenzkontrollen zu Tschechien entfallen. Das Schengen-Abkommen tritt dort in Kraft. Die Situation wird dem zu erwartenden Verkehr nicht gerecht. Da müssen wir Abhilfe schaffen.
Nehmen wir das Beispiel ?Bildung und Hochschulstandorte“, also die Voraussetzung, dass die Jugend im Lande bleibt und sich weitere Industrie ansiedelt. Sie als Bundesregierung schreiben in Ihrem Bericht, dass ostdeutsche Universitäten vor einer besonderen Herausforderung stehen und bis 2020 einen Minderbedarf von 150 000 Studienplätzen haben. Wer diese Zahl theoretisch hochrechnet, der kommt zu dem Schluss: Diese Universität wird geschlossen, und diese Universität wird geschlossen. - Das ist meines Erachtens nicht hinnehmbar.
Ich freue mich besonders, dass Sie in Ihrem Bericht mitteilen, dass der Bund finanzielle Mittel zur gezielten Anwerbung westdeutscher Studenten und zum Aufbau der Universitäten zur Verfügung stellt. Das ist gut, aber es muss sofort erfolgen. Die Universitäten im Osten müssen die Voraussetzungen erhalten, sich selbstständig zu Eliteuniversitäten zu entwickeln. Wir haben den Traum - mit Blick in Richtung Osteuropa -, auch Studenten aus dem Ausland in diese Regionen zu bekommen, wenn wir im Osten solche Eliteuniversitäten haben. Das wäre ein Aufschwung, und das wäre eine Verfestigung der Universitätslandschaft.
Wenn wir von Forschung sprechen, dann möchte ich nur erwähnen: Seit Jahren reden wir über die Ansiedlung einer Großforschungsanlage im Osten Deutschlands.
Wir haben noch keine, die diesen Namen wirklich verdient. Deswegen gilt es, auch auf diesem Gebiet weiter voranzukommen.
Neben den Universitäten gäbe es noch viele andere Punkte zu erwähnen. Herr Minister, wenn meine Zeit etwas länger wäre, würde ich die Stadtumbauprogramme besonders loben; denn sie sind ein sehr positives Beispiel dafür, wie es in diese Richtung weitergeht. Sie greifen inzwischen in Ost und West. Sie sind das Fundament dafür, dass wir in der Stadtentwicklung vorankommen.
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, den ich als gefährlich betrachte und der für unser Land kompliziert werden kann. Neben Universitäten und industriellen Schwerpunkten dürfen wir den ländlichen Raum nicht außer Acht lassen. Als ein Beispiel möchte ich hier das Erzgebirge nennen, eine Region, wo es im Moment noch Löhne gibt, die irgendwo bei 3,40 Euro beginnen. Das ist zu gering für das tägliche Leben. Aber ich bitte Sie, noch weiter zu denken. Wenn diejenigen, die solche Löhne erhalten, in 10 bis 15 Jahren in das Rentenalter kommen, dann wird die Durchschnittsrente so drastisch sinken, dass wieder andere Mittel aus dem Sozialbereich eingesetzt werden müssen. Es besteht die Gefahr, dass wir in einigen Gebieten in Deutschland eine Art Armenhaus bekommen. Da müssen wir gegensteuern.
Auch hierzu gibt es ein Konzept von uns. Ich weiß, dass es darüber viele Diskussionen gibt. Das Bürgergeld für Geringverdienende einzuführen, um ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, fände ich wichtig; das wäre eine tolle Sache.
Sie sehen, meine Damen und Herren: Es gibt in unserem Vaterland auch 18 Jahre nach dem Mauerfall noch viel zu tun. Wer mich vor 17 Jahren, als wir über die Einheit gesprochen haben, gefragt hat: ?Wie lange wird dieser Angleichungsprozess denn dauern?“, dem habe ich damals gesagt: Ich schätze, fünf bis zehn Jahre. - Heute weiß ich: Das war deutlich zu kurz gesprungen. Heute weiß ich, dass wir noch mehr dafür tun müssen und unsere Anstrengungen verdoppeln müssen, damit es nicht zu großen Unterschieden und sozialen Spannungen kommt.
Wir sind dazu bereit. Wir arbeiten an diesem Projekt konkret mit. Die Vorschläge der FDP liegen vor. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir uns miteinander offensiv damit befassen könnten, um das Ziel zu erreichen, dass sich der Osten Deutschlands in einigen Jahren sozusagen als angeglichene Gesellschaft innerhalb unseres Vaterlandes versteht.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun der Kollege Volker Kauder das Wort.
Volker Kauder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der 9. November hat für uns Deutsche zwei Gesichter. Da ist der 9. November, die Pogromnacht, in der die Juden in unserem Land körperlich verfolgt und ermordet wurden, in der Synagogen angezündet, Geschäfte geplündert wurden und in der es keine Proteste auf den Straßen in Berlin und in unserem Land gab. Es wurde weggeschaut. Dieser Tag ist für uns ein Tag, der uns beschämt, ein Tag, an dem der Naziterror so richtig begonnen hat, der unser Land weit zurückgeworfen hat. Die moralischen Grundlagen sind zerstört worden.
Dann, 50 Jahre später: Die Deutschen im Osten stehen auf. Tausende versammeln sich vor den Grenzausgangsstellen und rufen: Wir wollen raus. Sie protestieren mutig, obwohl sie die Kenntnis vom 17. Juni 1953 hatten. Diese Menschen gehen auf die Mauer, stürmen die Mauer. Deswegen dürfen sie heute mit Stolz auf das schauen, was damals gemacht wurde und was heute 18 Jahre alt wird: die deutsche Einheit.
Mit der deutschen Einheit hat etwas ganz Neues begonnen. Aber vor allem hat für viele Menschen ein neues Leben, für viele hat eigentlich erst ihr Leben begonnen: Sie waren befreit aus den Gefängnissen von Bautzen und Hohenschönhausen. Todesstreifen und Stacheldraht, Bedrängung und Vernehmungen gab es nicht mehr. Das Leben der anderen ist zum eigenen Leben geworden.
Wir haben heute einige derjenigen, die unter diesem menschenverachtenden Drucksystem gelitten haben, eingeladen. Ich heiße sie herzlich willkommen und freue mich darüber, dass sie die neu gewonnene Freiheit jetzt für neues Leben nutzen konnten.
Wir haben uns in der Großen Koalition nicht nur mit der Frage beschäftigt, wie es in den neuen Ländern weitergeht, sondern natürlich auch an diejenigen Menschen gedacht, die unter dem alten System gelitten haben. Es war zwar nicht ganz einfach; aber wir haben es geschafft, eine Pension, eine Entschädigung für diejenigen einzuführen, die in den Gefängnissen der DDR einen Teil ihres Lebens gelassen haben. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition dafür, dass dies gelungen ist.
Die deutsche Einheit war nicht selbstverständlich. Sie war das Werk der Menschen. Aber sie konnte nur gelingen, weil es im Osten und im Westen immer Menschen gab, die an die deutsche Einheit geglaubt haben. Die deutsche Einheit konnte nur aus folgendem Grund gelingen: Es war Schicksal - dies gilt nicht für den 9. November 1938 und den 9. November 1989; das waren Geschehnisse, die von Menschen gemacht wurden -, dass genau zu dieser Zeit einer Kanzler war, der die deutsche Einheit wollte. Nur wer die deutsche Einheit wollte, konnte die Einheit herbeiführen und zum Kanzler der Einheit werden: Helmut Kohl.
- Frau Kollegin von der Linken, da gibt es überhaupt nichts zu lachen. An Ihrer Stelle würde ich das Gesicht nicht verziehen und eisern schweigen. Es war nämlich Ihr Parteivorsitzender, Oskar Lafontaine, der in einem Interview im Morgenmagazin des WDR und in einem Interview in einer großen Tageszeitung auf die Frage, wie es nun weitergehen soll, gesagt hat: Soll etwa jeder, der deutscher Abstammung ist, jetzt auf einmal Rente beziehen?
Soll jetzt jeder, der deutscher Abstammung ist, auf einmal unser Kindergeld bekommen? - Da kann ich nur sagen: Wer den Deutschen im Osten die Sozialleistungen nicht gegönnt hat, braucht sich heute nicht als jemand aufzuspielen, der die Interessen der Menschen im Osten wahrnimmt.
Lesen Sie die Interviews von Oskar Lafontaine! Dann wird für Sie von den Linken der 9. November 1989 zu einem noch größeren Tag der Schande, als er ohnehin für Sie und Ihre Vorgänger geworden ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, viele Zeitungen titeln heute: Die deutsche Einheit wird 18; sie wird volljährig. - Ja, aber jeder weiß: Auch derjenige, der volljährig ist, hat noch eine große Entwicklung vor sich. Die Entwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen. Das sehen wir auch im Bericht zur deutschen Einheit.
Wir haben viel erreicht, und darauf dürfen wir alle miteinander stolz sein. Ich sage nur ein Beispiel von vielen, die man nennen könnte: 4,8 Milliarden Euro hat der Bund bisher im Zusammenhang mit der Wismut ausgegeben, um ein Gebiet zu sanieren, das in der DDR verwüstet wurde. Dort sind im Übrigen, unbestritten blühende Landschaften entstanden.
Minister Tiefensee hat darauf hingewiesen, dass es aber noch viel zu tun gibt. Herausforderungen sind für uns in besonderer Weise die demografische Entwicklung, dass zu wenige Menschen in den neuen Ländern geboren werden - das ist kein Sonderproblem; das haben wir in der ganzen Bundesrepublik, aber dort herausragend -, und die Abwanderung.
Die Abwanderung ist natürlich eine freie Entscheidung der Menschen. Ich bitte bei allen Diskussionen zu berücksichtigen: Es wäre wohl zynisch, denjenigen, die Jahrzehnte hinter Mauer und Stacheldraht gehalten wurden und nicht reisen konnten, jetzt zu sagen: Ihr müsst in den neuen Ländern bleiben und dürft nicht weg. Es wurden aber auch keine Räume entleert, wie einmal formuliert worden ist. Vielmehr haben die Menschen eine freie Entscheidung getroffen.
Wir müssen nun in den neuen Ländern Bedingungen schaffen, dass junge Menschen aus den alten Bundesländern in die neuen Länder zurückkehren, dass es attraktiv ist, in den neuen Ländern zu studieren, dass es attraktiv ist, in den neuen Ländern berufstätig zu sein. Von dieser Debatte muss das Signal ausgehen: Es lohnt sich, in den neuen Ländern zu lernen, es lohnt sich, in den neuen Ländern zu leben.
Es ist nicht nur in Baden-Württemberg und Bayern schön, sondern es ist auch in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen schön.
- Und in Thüringen und in vielen anderen Ländern.
Es ist in ganz Deutschland schön, und zu Deutschland gehören auch die neuen Bundesländer.
Deswegen ist es gut, dass es - auch wenn der Begriff schon ziemlich abgegriffen ist - Leuchtturmprojekte gibt. Wir müssen darüber reden, dass die allermeisten Universitäten in den neuen Ländern Leuchtturmprojekte sind. Wenn ich mich erinnere, wie bei uns zu meiner Studienzeit das Zahlenverhältnis von Studenten zu Professoren war, und wenn ich mir heute das Zahlenverhältnis von Studenten zu Professoren an den Universitäten in den neuen Ländern anschaue, kann ich nur sagen: Eigentlich müsste jeder ein Interesse daran haben, in einer so guten Situation zu studieren.
Wir müssen Leuchtturmprojekte in den neuen Ländern aufbauen, damit die Menschen sagen: In diesem Umfeld sehe ich Chancen und Zukunft.
Es gibt ein Projekt, bei dem man geradezu darüberschreiben könnte: Bei uns wird Zukunft gemacht. Ich meine das Biomasseforschungszentrum in Leipzig, aus dem heraus neue Impulse für erneuerbare Energien kommen werden. Es lohnt sich, sich um dieses Projekt herum anzusiedeln, sowohl für den Mittelstand als auch für junge Menschen, die sich für diese Forschung interessieren.
In den neuen Bundesländern wachsen eine moderne Wirtschaft und eine moderne Industrie. Nun kommt es darauf an, dass wir diesen Wachstumsprozess im Osten ebenso wie im Westen befördern. Das Wachstum kommt ebenso wenig von allein, wie die deutsche Einheit von allein kam. Gerade im Hinblick auf die Entwicklungschancen und die Entwicklungsmöglichkeiten, die in den neuen Ländern bestehen, gilt, dass wir in der Großen Koalition Kurs halten und den Aufschwung weiter anfeuern müssen. Das muss unser Thema sein. In der Konsequenz muss der Aufschwung bei allen Menschen in unserem Land ankommen.
Die deutsche Einheit, die mit dem heutigen Tag 18 Jahre alt geworden ist, ist für uns eine immer wieder neue Herausforderung. Wir sehen, dass wir mit unserer Arbeit etwas erreichen können. Das macht uns Mut und gibt uns Optimismus, dass wir bei allem, was noch zu tun ist, der inneren Einheit Tag für Tag und Jahr für Jahr ein Stück näher kommen werden. Damit dies gelingt, muss man sich, trotz aller Probleme, die wir haben, immer wieder an das zurückerinnern, was 1989 geschehen ist: an die Freude des Aufbruchs zu Einheit und Freiheit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke.
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE):
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsident, Sie haben in Ihren einführenden Worten auf die wechselvolle Geschichte des 9. November hingewiesen. Für meine Fraktion möchte ich ganz deutlich sagen: Wir dürfen nie den Anblick der brennenden Synagogen vom 9. November 1938 aus unserem Gedächtnis entlassen. Das muss immer Anlass für uns sein, gegen Neofaschismus und Rechtsextremismus zu kämpfen.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben frenetisch geklatscht, als mein Vorredner auf Oskar Lafontaine und seine Äußerungen in den Jahren 1989/90 einging. Ich möchte Sie daran erinnern: Oskar Lafontaine war damals Ihr Kanzlerkandidat und später Ihr Parteivorsitzender.
Um einen Uferweg am Potsdamer Griebnitzsee ist ein heftiger Streit entbrannt. Nach dem Mauerfall schlenderten dort täglich Spaziergänger mit Blick auf wunderschöne Weiden und das tiefgrüne Wasser des Griebnitzsees entlang und genossen die gewonnene Freiheit. Damit soll nach Auffassung der dortigen Villenbesitzer Schluss sein. Sie reklamieren den Weg für sich. Sie ließen den Weg kurzerhand durch eine Handvoll Schlägertypen absperren. Da diese Wildwestmethoden untersagt wurden, versuchen die Anwälte der Villenbesitzer jetzt mit allen juristischen Mitteln, den Weg für die Öffentlichkeit sperren zu lassen. Diese Leute wollen den Blick auf den See mit niemandem teilen. Sie wollen ihn ganz für sich allein haben.
Diese Geschichte beschreibt die Situation in unserem Land plastischer als alle Berichte und Studien, die die Bundesregierung bisher vorgelegt hat.
Jeden Tag erleben wir, wie öffentliches Eigentum in private Taschen fließt, wie Bürgerinnen und Bürger enteignet werden, und jeden Tag erleben wir, wie die Bundesregierung Zäune zieht, die die Gesellschaft in viele kleine Teilgesellschaften aufspalten.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat in einer aktuellen Studie festgestellt, dass 10 Prozent der Deutschen fast zwei Drittel des gesamten Volksvermögens besitzen, die Mehrheit dagegen fast nichts hat. Die Studie zeigt, dass das Durchschnittsvermögen eines Westdeutschen zweieinhalbmal höher als das eines Ostdeutschen ist. Ostdeutsche sind eher verschuldet und besitzen seltener Wohneigentum. Auch Frauen sind benachteiligt. Ihr Kapital ist im Schnitt fast 30 000 Euro niedriger als das von Männern.
Diese Verteilung ist nicht von Gott gegeben, sie ist auch nicht mit dem Zuruf ?40 Jahre!“ zu erklären, sie ist das Ergebnis der Umverteilungspolitik der alten und der neuen Bundesregierung.
Die CDU/CSU-SPD-Regierung denkt nicht im Traum daran, diese Umverteilung zu stoppen. Nein, Sie legen immer noch eins drauf. Die geplante Erbschaftsteuerreform wird die Reichen noch reicher machen. Das ist ein Skandal.
Der geplante Verkauf der Bahn ist eine Enteignung der Bürgerinnen und Bürger, die die Bahn mit ihren Steuern über Jahrzehnte finanziert haben. Für den Osten, Herr Kollege Tiefensee, ist dieser Verkauf besonders schlimm, weil er zu vielen Streckenstilllegungen in den neuen Bundesländern führen wird. Auch die Einführung von Studiengebühren schafft Bildungsmauern, die sich nicht durch Stipendien durchbrechen lassen werden.
Für eine ostdeutsche Familie, die kaum über Ersparnisse verfügt, ist es eine große finanzielle Belastung, ihre Kinder auf die Universität zu schicken.
Zusammengefasst kann man sagen: Es ist nicht gut, wenn man arm ist. Es ist gar nicht gut, wenn man arm ist und im Osten lebt. Es ist ganz schlecht, wenn man arm im Osten lebt und eine Migrantin ist.
Wer für Ostdeutschland eine Zukunft will, der muss in Bildung investieren. Ich interessiere mich schon länger für die Verteilung der Gelder im Rahmen von Bundesprogrammen. Es zeigt sich, dass der Osten unterdurchschnittlich wenig Geld aus diesen Programmen erhält. Für die Raumfahrt gehen nur 7 Prozent, für die Energieforschung nur 10 Prozent und für den Studenten- und Wissenschaftleraustausch nur ganze 4 Prozent der Mittel dieser Bundesprogramme in den Osten. Bei der Exzellenzinitiative der Bundesregierung gingen die ostdeutschen Universitäten ganz leer aus. Die Begründung der Bundesregierung war lapidar: Wir fördern nur die Besten. Wenn der Osten nicht gut ist, dann hat er Pech gehabt. Da frage ich mich, Herr Tiefensee: Was machen Sie als Ostbeauftragter der Bundesregierung? Haben Sie mehr zu bieten als schöne Worte und kleinlaute Forderungen an die Bundesregierung? Ich habe von Ihnen bisher vor allen Dingen schöne Worte gehört, aber keine konkreten Taten gesehen. Die erwarten wir.
Wir als Linke wollen mit den vielen abgestuften Ungerechtigkeiten in unserem Land Schluss machen. Wir wollen einen gerechten Mindestlohn, egal ob in Ost oder West.
Wir wollen eine armutsfeste Rente. Sie soll im Osten nicht niedriger sein als im Westen. Wir wollen bessere Bildungschancen für alle, egal ob sie in Frankfurt/Oder oder in Frankfurt/Main zur Universität gehen.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass Herr Lothar de Maizière hier so freundlich begrüßt wurde. Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass auch der letzte Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow, einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass der Weg in die deutsche Einheit friedlich und erfolgreich gegangen werden konnte.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält jetzt der Kollege Peter Hettlich für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Lötzsch, das war eine wirklich schwache Rede.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen - wir kennen uns schon lange -: Die Redebeiträge der Linken in den Debatten über den Bericht zum Stand der deutschen Einheit in den letzten Jahren hatten mehr Qualität; Sie waren schon erheblich weiter. Das heute war nur billige Polemik. Sachliche und inhaltliche Punkte waren in Ihrer Rede nicht zu finden. Das bedauere ich zutiefst.
An der heutigen Debatte ärgert mich: Wir diskutieren viel zu selten über Themen, die die neuen Bundesländer betreffen. Ich kann zwar verstehen, dass Sie über das Freiheits- und Einheitsdenkmal heute, am 9. November, an prominenter Stelle diskutieren wollen, aber warum musste das in einer verbundenen Debatte stattfinden? Wir haben eh wenig Zeit, um über die Rede von Herrn Tiefensee zum Stand der deutschen Einheit zu diskutieren. Damit belasten wir diese Debatte, die wir einmal im Jahr führen. Warum waren Sie, wenn es schon so ein wichtiges Thema ist, nicht in der Lage, einen separaten Debattenpunkt aufzusetzen oder wenigstens die Debattenzeit um eine Stunde zu verlängern?
Das ist bedauerlich und zeigt die Arroganz der Großen Koalition, die wir an dieser Stelle wieder erleben.
Ich habe jetzt das Problem, dass ich zwei Reden halten muss, die inhaltlich schwer miteinander zu verknüpfen sind. Aber ich fange jetzt an.
Die Diskussion über das Freiheits- und Einheitsdenkmal hat von Anfang an einen sehr unglücklichen Verlauf genommen. Es ist im Hauruckverfahren hier heute aufgesetzt worden. Dies kann man nicht als seriös bezeichnen. Wir hatten nicht einmal in unserem Ausschuss, der für die Belange der neuen Bundesländer zuständig ist, eine vernünftige Vorlage. Wir haben zum Schluss über einen Antrag abstimmen müssen, von dem wir zu diesem Zeitpunkt schon wussten, dass er nicht mehr aktuell war. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das hilft dieser Debatte und ihrem weiteren Verlauf ganz sicher nicht.
Ich erwarte, dass wir hier in Zukunft zu einer anderen Kultur des Umgangs miteinander kommen.
Der Tagesspiegel hat in einem Artikel über den grünen Antrag auf unsere Tendenz zum Grundsätzlichen hingewiesen, und das nehmen wir eindeutig als Kompliment an. Denn das ist unsere Stärke. Wir fordern, über dieses Thema noch einmal eine grundsätzliche Diskussion über das Ob, das Wann und die Form eines solchen Denkmals zu führen. Dabei müssen wir die Öffentlichkeit, Verbände und Initiativen stärker in den Prozess dieser Ausgestaltung einbeziehen.
Herr Präsident Lammert hat in seiner Rede am Montag gesagt, dass das nicht von oben verordnet werden darf. Die friedliche Revolution war eine basisdemokratische Revolution, und sie wurde von unten getragen. Insofern muss es auch so sein, dass über das Thema eines Denkmals auch basisdemokratisch diskutiert wird und dass wir deswegen die Leute, die damals mit auf die Straße gegangen sind, auch in dieser Diskussion mitnehmen.
Ein gutes Beispiel für einen solchen Prozess ist die Diskussion um das Berliner Mauergedenken. Wir brauchen keine allfälligen Festlegungen, sondern wir brauchen eine öffentliche Diskussion. Wir signalisieren mit unserem Antrag eindeutig die Ernsthaftigkeit dieses Anliegens.
Übrigens hat Herr Minister Tiefensee am Montag - das hat man mir zugetragen - zugegeben, dass 2009 offensichtlich ein sehr ehrgeiziger Zeitplan ist, und damit wäre dieses symbolträchtige 20. Jahr der friedlichen Revolution gefährdet. Das ist beispielsweise wieder ein Problem, das man schon sehr lange hätte diskutieren können. Wir wissen, dass wir bereits vor sieben Jahren einen Gemeinschaftsantrag hier im Bundestag hatten, der von der Mehrheit abgelehnt worden ist.
Denkmäler sind mehr als ein zu Beton erstarrtes Heldengedenken. Wir erwarten mehr als die Manifestation von Geschichte. Wir wünschen uns, dass ein solches Denkmal auch eine Inspirationsquelle ist und vor allen Dingen Raum für eine Diskussion über die Zukunft der 1989 erkämpften Freiheiten schafft.
Abschließend möchte ich noch etwas zum Standort sagen. Ich unterstütze den Änderungsantrag der Kollegen Weißgerber und Fornahl, wohl wissend, dass dieser Antrag vermutlich heute hier nicht die Mehrheit finden wird, was ich sehr bedauere, und wohl wissend, dass ich damit eher ein Signal für eine offene Debatte über den Standort setze. Es wären nämlich neben Leipzig und Berlin noch andere Städte zu nennen. Der Kollege Günther weiß, dass in Plauen bereits im September des Jahres 1989 die Menschen auf die Straße gegangen sind. Also, wir müssen diese Debatte offener führen, und ich plädiere an dieser Stelle dafür, dass die Einbringung dieses Antrags in den Bundestag heute nicht das Ende dieser Debatte sein darf.
Aus diesem Grunde bitte ich noch einmal um etwas mehr Nachdenklichkeit und etwas mehr Seriosität in der Zukunft bei der Behandlung dieses Themas.
Meine Damen und Herren, wir kommen nun zum Bericht über den Stand der deutschen Einheit. Wenn ich nach rechts schaue, sehe ich, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel auch dieses Jahr wieder nicht anwesend ist; letztes Jahr war sie wenigstens eine halbe Stunde hier. Und wenn ich auf die linke Seite schaue, dann freue ich mich, dass ich wenigstens einmal wieder einen sächsischen Ministerpräsidenten hier im Bundestag begrüßen darf. Die anderen Ministerpräsidenten glänzen wie üblich durch Abwesenheit. Vermutlich liegt es daran, dass in den Ländern keine Wahlen stattfinden. Ich finde es sehr bedauerlich. Denn das ist ein ganz wichtiges Thema, und ich möchte, dass dieses Thema unter möglichst großer Anteilnahme von den jeweils Betroffenen und Verantwortlichen auch hier im Bundestag behandelt wird. Das ist wirklich ein sehr trauriges Bild.
Da wir schon bei traurigen Bildern sind, können wir direkt zu Ihrer Rede kommen, Herr Minister. Diese war ein saft- und kraftloser Versuch, so zu tun, als ob es für den Aufbau Ost eine Strategie Ihres Hauses gäbe und als würde diese nicht vorhandene Strategie auch noch nach Plan verlaufen.
Sie haben diese im Bericht zum Stand der deutschen Einheit mit wunderbaren blumigen Worten garniert. Ich zitiere: Die neuen Bundesländer befinden sich auf einem guten wirtschaftlichen Weg. Oder: Ostdeutschland hat sich zum Land der Chancen entwickelt. Oder: Die Schere zwischen Ost und West schließt sich wieder. - Das sind Rückfälle in alte Zeiten. Ich dachte, wir hätten das mit dem letzten Bericht zum Stand der deutschen Einheit überwunden.
Ich komme auf die letzte Aussage mit der Schere zwischen Ost und West zurück, weil man sich mit ihr intensiver auseinandersetzen muss. Herr Tiefensee kommt zu der Erkenntnis, dass sich diese Schere schließt, weil das Wachstum in Ostdeutschland im letzten Jahr um 0,3 Prozent höher war als in Westdeutschland. Das ist so ähnlich, als wenn Herr Gabriel sagen würde: Wir hatten einen verregneten Sommer. Der Klimawandel ist kein Problem. - Dieses Jahr werden die Zahlen ganz anders aussehen. Der Vorsprung der ostdeutschen Bundesländer gegenüber den westdeutschen Bundesländern ist eingebüßt, und die Schere ist eingerostet. Das ist nicht zum ersten Mal der Fall, sondern das erleben wir seit Mitte der 90er-Jahre.
Woher soll das Wachstum, von dem Sie immer sprechen, eigentlich kommen? Schauen wir uns doch einmal die entsprechenden Parameter in der Wirtschaftstheorie an. Auf der Nachfrageseite gibt es ein ganz klares Kriterium: die Bevölkerungsentwicklung. Über dieses Thema brauche ich hier wohl nicht lang und breit zu sprechen. Wir alle wissen, welche Probleme wir hier haben. Die Bevölkerungszahlen sinken aus den vielfältigsten Gründen dramatisch. Diesen Wachstumstreiber werden wir in Ostdeutschland auf lange Sicht nicht haben.
Auf der Angebotsseite geht es um die Ausstattung mit Humankapital; das ist die nächste Baustelle. In Ostdeutschland findet nicht nur ein allgemeiner Rückgang der Bevölkerungszahl statt, sondern vor allen Dingen auch ein Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen und insbesondere der qualifizierten Erwerbstätigen. Wie wir wissen, wandern hauptsächlich junge und gut qualifizierte Frauen ab. Weil diese Jahrgänge dann auch im Hinblick auf die Geburtenjahrgänge fehlen, kommen hier zwei Dinge zusammen. Insofern verschärft sich die Situation noch weiter. Auch dieser Wachstumstreiber fällt also aus.
Der dritte Wachstumstreiber ist die Kapitalakkumulation. Bis jetzt ist es noch so, dass durch den Solidarpakt über Investitionszuschüsse und Förderungen die Kapitalakkumulation, die eigentlich aus privatem Kapital stammen müsste, in großem Umfang kompensiert wird. Die Zuschüsse im Rahmen des Solidarpakts werden ab 2009 stetig sinken. Wir fragen uns, wodurch diese Lücke ab 2019 geschlossen werden soll. Wir sind sehr skeptisch, ob die Banken bereit sein werden, sich hier einzubringen. Ich sehe keine Perspektive, dass sich an dieser Stelle ein Wachstumstreiber entwickeln wird.
Wie wir am Mittwoch dieser Woche in unserer Diskussion im Ausschuss erlebt haben, kommen Sie in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Verkehrsinfrastruktur zu sprechen. Wie eine Monstranz wird dieses Thema von der Regierung, von Ihrer Partei, aber auch von anderen Kollegen vor sich hergetragen. Ich habe Ihnen gesagt, dass wir eine Studie mit dem Titel ?Jobmaschine Straßenbau“ durchgeführt haben, die ich Ihnen nur empfehlen kann und die ich den Kollegen gerne zukommen lasse. Darin haben wir sehr detailliert deutlich gemacht, dass es keine Korrelation zwischen Straßenbau und wirtschaftlicher Weiterentwicklung gibt.
Lieber Kollege Hacker, da Sie das Beispiel Ludwigslust als ein Beispiel für gelungene Verkehrsinfrastruktur in Verbindung mit Wirtschaftswachstum angeführt haben, möchte ich Sie darauf hinweisen: Gestern wurde hier bemängelt, dass die Benzinpreise in Deutschland ein Rekordniveau erreicht haben. Wenn Sie sagen, durch die Verkehrsinfrastruktur sei es uns gelungen, dass die Leute aus Schleswig-Holstein bis nach Ludwigslust pendeln, dann frage ich Sie: Wovon sollen diese Leute in Zukunft die Spritkosten für die Auspendelung bezahlen? Das müssen Sie mir einmal erklären. Das ist keine Antwort auf die Probleme in Ostdeutschland.
Zum nächsten Punkt. Wie sieht es eigentlich mit den Wachstumstreibern aus? Ich empfehle Ihnen die Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung mit dem Titel ?Talente, Technologie und Toleranz - wo Deutschland Zukunft hat“. Schauen Sie sich einmal an, auf welchen Plätzen die neuen Bundesländer stehen. Bei der Technologie liegt Sachsen auf Platz neun, Thüringen auf Platz elf, und die drei anderen ostdeutschen Bundesländer belegen die letzten Plätze. Bei den Talenten ist Sachsen auf Platz zehn, Brandenburg auf Platz zwölf, und die anderen sind auf den letzten Plätzen. Bei der Toleranz findet man Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt auf den letzten Plätzen.
Da ich gerade beim Thema Toleranz bin, möchte ich Ihnen, Herr Ministerpräsident, sagen: Sie haben auf dem Landesparteitag Ihrer Partei in Sachsen zu den Vorkommnissen in Mügeln - ich komme aus diesem Landkreis und kenne Mügeln daher sehr gut - gesagt: Das, was in Mügeln passiert ist, sei keine Hetzjagd in Mügeln gewesen, sondern eine Hetzjagd auf Mügeln. - Ich frage Sie: Wie verträgt sich diese Aussage damit, dass Bundeskanzlerin Merkel bei Manmohan Singh in Indien für Investitionen in Deutschland wirbt?
Der dumpfe Spruch ?Deutschland den Deutschen!“ ist in bestimmten Regionen Deutschlands zum Teil schon bittere Realität. Wenn man sich diese Regionen anschaut, stellt man fest: Diese Regionen sind die rückständigsten, sowohl was ihre wirtschaftliche Entwicklung als auch was ihre politische und gesellschaftliche Entwicklung angeht. Durch solche Aussagen kann man diese Situation nicht verbessern. Hier muss man ganz klar Position beziehen. Nur dann, wenn in Ostdeutschland Toleranz herrscht, haben wir in Anbetracht der globalisierten Welt die Chance, Ansiedlungen zu ermöglichen, auch aus Indien, was ich mir ausdrücklich wünschen würde.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Ende meiner Rede. Herr Tiefensee - ich spreche Sie nicht persönlich, sondern stellvertretend für die Bundesregierung an -, wenn Sie schon kein Konzept für den Aufbau Ost haben, dann seien Sie wenigstens so realistisch und ehrlich, den Menschen zu sagen, dass ihnen die Politik der Großen Koalition nicht helfen wird.
Dann wissen die Menschen zumindest, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen.
Wir haben uns Gedanken darüber gemacht, wie man die endogenen Potenziale in Ostdeutschland stärken kann. Auch dieses Schriftstück, das ich gerade in den Händen halte - die Untersuchung ?Existenzgründungen in Ostdeutschland“ -, empfehle ich Ihnen sehr.
- Ja, ich habe drei Exemplare hier. - Dieses Thema ist nämlich sehr wichtig. Wenn uns von oben die große Politik nicht mehr hilft, dann müssen wir uns selber helfen.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Kollegin Iris Gleicke ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
Iris Gleicke (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 18 Jahre nach dem Fall der Mauer haben wir eigentlich allen Grund, stolz auf das zu sein, was wir erreicht haben. Aber das Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse ist noch längst nicht erreicht. Für diejenigen, die bis heute keine Arbeit gefunden haben, für diejenigen, die nach langen Jahren der Arbeitslosigkeit nur einen ganz kleinen Rentenanspruch haben, für Jugendliche, die trotz aller Anstrengungen, die wir unternommen haben, bis heute keine Chance auf einen Ausbildungsplatz haben, ist dieses Ziel noch in weiter Ferne.
Insofern ist die Frage nach dem Stand der deutschen Einheit immer auch eine Frage der Perspektive. Ich will das sehr deutlich sagen: Wir müssen das Positive in diesem Prozess herausstellen; liebe Frau Kollegin Lötzsch, das sage ich gerade an Ihre Adresse. Denn wenn wir dieses nicht tun, werden ein weiteres Mal die Lebensleistungen der Menschen entwertet. Aber wir dürfen auch nichts schönreden, und wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass sich eine große Zahl von Menschen leider nach wie vor als Verlierer im Prozess der deutschen Einheit betrachtet. Es ist wahr: In diesem Prozess von Einheit und fortschreitender Globalisierung gibt es Gewinner, aber es gibt eben auch Verlierer.
Dennoch ist ein Mehrwert entstanden, der sich nicht in Zahlen und Tabellen beschreiben lässt. Zu diesem Mehrwert gehört die individuelle Freiheit ebenso wie das wachsende demokratische Bewusstsein und die Bereitschaft, Verantwortung für sich, für andere und auch für unser Gemeinwesen zu übernehmen. Zu diesem Mehrwert gehört auch, dass die junge Generation in Ost- und Westdeutschland ganz unbefangen aufeinander zugeht. Wir müssen allerdings darauf achten, dass aus dieser Unbefangenheit keine Geschichtslosigkeit wird. Freiheit und Demokratie sind bei uns im Osten erst 17 Jahre jung und stehen noch längst nicht in voller Blüte. Freiheit und Demokratie müssen täglich aufs Neue erkämpft und bewahrt werden. Unsere Grundrechte sind eben nicht vom Himmel gefallen. Das muss auch an dem Freiheits- und Einheitsdenkmal, über das noch zu diskutieren ist, deutlich werden.
Aber auch die braunen Rattenfänger, die besonders im Osten ihr Unwesen treiben, sind nicht vom Himmel gefallen. Hier gilt es, sorgfältig zu unterscheiden zwischen den Verführern und den Verführten.
Das verbreitete Gefühl einer kollektiven Demütigung, das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, das sind wesentliche Bestandteile des Nährbodens für rechtsextremistische Ideen und Bestrebungen. Deshalb kann heute niemand im Ernst bestreiten, dass der Rechtsextremismus in Ostdeutschland ein schwerwiegendes Problem ist. Seine Ursachen sind aber nicht in den Töpfchen der DDR-Krippen zu finden, sondern in dem verbreiteten Gefühl von Deklassierung und der ebenso verbreiteten Orientierungslosigkeit. Es ist wahr: Wer offen und ehrlich über den Stand der deutschen Einheit sprechen will, muss auch über die damit zusammenhängenden Probleme sprechen. Damit erweckt man leider fast zwangsläufig den Eindruck, das Glas sei halb leer. Wir alle wissen aber: Das Glas ist mehr als halb voll.
Damit sind wir wieder bei dem, was wir erreicht haben und worauf wir durchaus stolz sein können. Es geht nicht darum, das Erreichte mehr oder weniger würdevoll in Feierstunden zu beweihräuchern. Solange die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland mehr als doppelt so hoch ist wie in Westdeutschland, würden die Leute das als zynisch empfinden. Wir im Osten sitzen nicht mehr hinter der Mauer und machen Westpakete auf, und wir sind auch nicht mehr die Brüder und Schwestern, deren man am 17. Juni gedenkt. Wir sind Bürgerinnen und Bürger dieser Bundesrepublik Deutschland, mit gleichen Rechten und mit gleichen Pflichten.
Die Einheit ist Realität. Nun gilt es, sie zu vollenden. Nun gilt es, die mit ihr verbundenen Wünsche und Hoffnungen zu erfüllen. Dass die jungen Deutschen aus Ost- und Westdeutschland einander in großer Unbefangenheit gegenübertreten, muss uns ermutigen. Dass bei der älteren Generation im Osten oft noch ein Gefühl der Demütigung überwiegt, muss uns nachdenklich stimmen.
Gleichwertige Lebensverhältnisse - das ist das Ziel, auf das wir verpflichtet sind und bleiben. Gelegentlich hat man jedoch das Gefühl, dass die Buchhalter und Erbsenzähler das Steuer übernehmen und den Prozess des Zusammenwachsens in eine andere Richtung lenken möchten. Sie reden viel von Transfermitteln, von Geld und von Bilanzen. Der Lebensrealität der Menschen wird das nicht gerecht. Ich sage es ohne Bitterkeit, aber auch nicht ohne einen gewissen Zorn: Die ostdeutschen Länder sind schon seit langem Beteiligte an einem Verteilungskampf, bei dem es ums liebe Geld geht. Beim Geld, das wissen wir alle, hört bekanntlich die Freundschaft auf - nicht immer, aber immer öfter.
Deshalb war es sehr gut, dass Gerhard Schröder damals mit den Bundesländern den Solidarpakt II geschnürt hat. Der Solidarpakt II ist zum Symbol für Zuverlässigkeit und Beständigkeit beim Aufbau Ost geworden. Das zeigt sich auch immer dann, wenn versucht wird, dieses Paket wieder aufzuschnüren. Wir werden das nicht zulassen.
Wir werden gegebenenfalls immer wieder und, wenn nötig, mit der gebotenen Deutlichkeit und auch Lautstärke daran erinnern, dass manche der heutigen Geberländer, wie etwa Bayern, selbst jahrzehntelang unterstützt worden sind und auch heute - beispielsweise beim Ausbau der Bundesfernstraßen in Bayern - nicht ganz schlecht bedient werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, all denen, die am Sinn des Aufbaus Ost zweifeln, empfehle ich einen Blick in den Jahresbericht 2007 zum Stand der deutschen Einheit. Darin steht nämlich, was alles erreicht worden ist. Das ist eine ganze Menge, und wir können stolz darauf sein.
Durch den Bericht wird aber auch deutlich, was noch alles zu tun ist. Diese Arbeit wird noch etliche Jahre in Anspruch nehmen. Dabei sind wir jetzt und in Zukunft auf zuverlässige Rahmenbedingungen angewiesen. Daran lassen wir nicht rütteln, und dafür stehen wir ein.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Hans-Joachim Otto für die FDP-Fraktion.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die liberale Fraktion begrüßt es sehr, dass wir mit den Koalitionsfraktionen eine grundsätzliche Übereinstimmung über die Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals haben herstellen können. Das ist, wie ich finde, gerade an diesem heutigen Tage ein sehr wichtiges politisches Signal.
Für uns Liberale sind - Sie werden das verstehen - die persönliche und die gesellschaftliche Freiheit Werte von ganz besonderer Bedeutung. Deswegen begrüßen wir es auch sehr, dass dieses Denkmal ein Freiheits- und Einheitsdenkmal - also in dieser Reihenfolge - ist.
Es sind einige Namen von Menschen erwähnt worden, die für die Einheit sehr wichtige Beiträge geleistet haben. Ich möchte hier auch einen Namen ausdrücklich erwähnen, der in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss, nämlich Hans-Dietrich Genscher.
Er ist der Mann, der Entscheidendes für die deutsche Einheit getan hat.
Als Partei Hans-Dietrich Genschers ist es für die FDP deshalb von besonderer Bedeutung, ein Denkmal für die Gewinnung der deutschen Einheit zu errichten. Die deutsche Einheit ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden und wird allenfalls thematisiert - Herr Tiefensee hat das vorhin angesprochen -, wenn es um die Probleme und die Unterschiede geht. Dass es aber ein großes Glück ist, dass wir 1989 und 1990 die friedliche Revolution und die Wiedervereinigung erleben durften, in deren Verhältnis die Unterschiede und Probleme nachrangig sind, kann man nicht oft genug betonen. Ich freue mich deshalb sehr, dass wir heute die Errichtung eines Denkmals beschließen, welches daran erinnert.
Bei der Überlegung hinsichtlich der spannenden Frage, wo dieses Freiheits- und Einheitsdenkmal stehen sollte, hat mich die Argumentation des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert überzeugt. In seiner sehr bemerkenswerten Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2007 in Schwerin sagte er wörtlich:
Wir haben aus gutem Grund insbesondere in der Hauptstadt zahlreiche auffällige Stätten der Erinnerung an die Verbrechen zweier Diktaturen in Deutschland. Es gibt keinen vernünftigen Grund, nicht auch in ähnlich demonstrativer Weise der Freiheits- und Einheitsgeschichte unseres Landes zu gedenken.
Sehr richtig.
Gerade die Tatsache, dass die nationalen Denkmale und Mahnmale zur Erinnerung an die dunklen Seiten der deutschen Geschichte in der Hauptstadt, in der Mitte Berlins, versammelt sind, unterstreicht für mich die Notwendigkeit, dass auch die Erinnerung an eines der glücklichsten Ereignisse der deutschen Geschichte in, wie es Norbert Lammert ausgedrückt hat, ?ähnlich demonstrativer Weise“ in Berlin stehen muss. Dieses Gegenüber von Schrecken und Freude, die Abbildung der Geschichte nicht nur in ihren negativen, sondern auch in ihren positiven, optimistischen und vorbildhaften Facetten halte ich für besonders wichtig.
Dies ist für mich auch das wichtigste Argument dafür, dass wir überhaupt ein Freiheits- und Einheitsdenkmal errichten sollten.
Viele sagen - auch in meiner Fraktion -, dass doch das Brandenburger Tor das beste Freiheits- und Einheitsdenkmal sei, was man sich nur vorstellen könne. Manche halten auch das Reichstagsgebäude, in dem wir heute mit einer Selbstverständlichkeit tagen, die noch vor 20 Jahren unvorstellbar war, für ein Symbol für die Freiheit und die Einheit Deutschlands. Beides trifft ohne Zweifel zu, und es gibt darüber hinaus zahllose weitere inoffizielle und persönliche Freiheits- und Einheitsdenkmale, beispielsweise die unvermittelt geöffneten Grenzübergänge, die gestürmten und besetzten Zentralen der Unterdrücker von MfS und SED oder das schmale Band des ehemaligen Mauerverlaufs. Aber all diese Freiheits- und Einheitsdenkmale können ein nationales Denkmal in Berlin, das zur Erinnerung an die friedliche Revolution im Herbst 1989 und an die Wiedervereinigung errichtet wird, nicht ersetzen.
Meine Damen und Herren, noch ein Wort zu dem Gruppenantrag: Ich hoffe sehr, dass die Frage, Leipzig und Berlin oder Berlin, nicht die grundsätzliche Übereinstimmung verdunkeln kann. Berlin muss es sein; das habe ich begründet. Ich würde mich durchaus freuen, wenn auch ein Freiheits- und Einheitsdenkmal in Leipzig errichtet würde;
aber nicht nur dort und nicht als Denkmalpaar. Leipzig war unbestritten der wichtigste Ort des Widerstands und die Keimzelle der friedlichen Revolution. Aber wollen wir wirklich neben der Hauptstadt allein Leipzig als zweite Stadt hervorheben? Was ist mit all den anderen Orten, mit Suhl, mit Plauen, mit Magdeburg oder mit Greifswald, um nur einige zu erwähnen?
Ich habe mir eine Karte angesehen, in der die Demonstrationen von August 1989 bis April 1990 verzeichnet sind. In nicht weniger als 80 Orten gab es in diesem Zeitraum jeweils mehr als zehn Demonstrationen. Ein Denkmalpaar würde dieser Revolution in allen Bezirken der ehemaligen DDR nicht gerecht werden.
Daher lassen Sie uns in der Hauptstadt ein Freiheits- und Einheitsdenkmal für die ganze Republik errichten und die Städte und Bundesländer ermutigen und auffordern, weitere Denkmale für die Freiheit und Einheit zu errichten.
Dazu noch ein letztes Wort: Herr Ministerpräsident Milbradt - Sie sprechen gleich anschließend -, wäre es nicht eine großartige Idee, wenn der Freistaat Sachsen im Gedenken an die Ereignisse in Leipzig in dieser Stadt ein Freiheits- und Einheitsdenkmal errichtete und wir auch andere Länder ermutigten, es Ihnen gleichzutun?
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, Dr. Georg Milbradt.
Dr. Georg Milbradt, Ministerpräsident (Sachsen):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Debatte am heutigen Tage bin ich dankbar. Wir sind der Erfüllung eines Versprechens näher gekommen: Es gibt in Ostdeutschland eine Reihe blühender Landschaften. Dafür bedanke ich mich bei Ihnen, meine Damen und Herren Abgeordneten, und bei der Bundesregierung für die Unterstützung.
Mein Dank gilt aber auch den Leistungen der Menschen zwischen Rügen und dem Fichtelberg. Sie alle haben sich mit teilweise schmerzlichen Anpassungen in eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hineingefunden. Jeder Einzelne hat nach seinen Kräften mit angepackt. Das ist eine beeindruckende und bewundernswerte Leistung, die in Debatten über den Osten oft unbeachtet bleibt.
Ich bedanke mich herzlich für die Hilfe und die Solidarität aus dem Westen, die Ostdeutschland immer noch erfährt, insbesondere über den Bundeshaushalt und die Sozialversicherungen. Deswegen habe ich Verständnis für jeden, der Fragen zum Stand zur deutschen Einheit hat und der nach 17 Jahren Aufbau Ost genau hinsehen möchte. Ich habe auch Verständnis für jeden, der angesichts der Erfolge in Ostdeutschland Schlaglöcher und soziale Probleme in westdeutschen Gemeinden diskutieren möchte.
Wir müssen uns immer wieder die tatsächlichen Verhältnisse deutlich vor Augen führen. Zwar gibt es auch in Westdeutschland Problemkommunen, aber sie liegen in einem wirtschaftlich starken Umfeld. Es ist unbestritten, dass wir - insbesondere die jeweiligen Länder im Rahmen des regionalen Ausgleichs - uns darum kümmern müssen.
Im Osten dagegen verhält es sich umgekehrt: Einzelne wirtschaftlich starke Städte stehen immer noch einer großen Anzahl schwacher Gebiete gegenüber; denn der Ostdurchschnitt liegt nur bei etwa 70 Prozent West. Die Arbeitslosigkeit ist flächendeckend doppelt so hoch wie in Westdeutschland.
Es ist kein Geheimnis, dass niemand in den neuen Ländern glücklich über diesen Zustand ist. Niemand will sich dauerhaft auf Transfergeldern ausruhen. Wir wollen keine Kostgänger sein, sondern auf eigenen Beinen stehen. Jedes Land hat sich in den vergangenen Jahren nach Kräften angestrengt. Auch das verdient Anerkennung.
Ich sage ganz deutlich - auch an die Linksfraktion gerichtet -: Wir wollen nicht dauerhaft von Umverteilung leben, sondern von dem, was wir selber erwirtschaften.
Das Aufholen wird uns aber nicht immer leicht gemacht. Denn leider heißt die Politik, die wir in Deutschland für Ostdeutschland machen, viel zu oft ?Überholverbot“.
Wir brauchen Regeln, die der spezifischen Situation in Ostdeutschland angepasst sind. Wir brauchen die Möglichkeit, unsere Wirtschaft nach allen Regeln der Kunst zu tunen, wie es unsere europäischen Nachbarn auch tun. Wir würden auch manchmal gerne mehr Gas geben.
Wir haben zum Beispiel in Leipzig/Halle in Rekordzeit einen Flughafen gebaut. Das ist mit der Marscherleichterung durch das Bundesverkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz möglich geworden, das heute in Gesamtdeutschland gilt, leider aber nur in stark verwässerter Form. Wir haben diesen Flughafen mit DHL zum internationalen Frachtdrehkreuz ausgebaut. Das Konzept ist aufgegangen. Die Arbeit trägt Früchte: 2 000 Arbeitsplätze sind schon entstanden; 10 000 weitere werden folgen.
Der Bundesverkehrsminister hat sich in den vergangenen Tagen von den Vorständen von Lufthansa Cargo die beeindruckende Entwicklung zeigen lassen. DHL hat sein Zentrum von Brüssel nach Leipzig verlegt. Weitere Luftfahrtunternehmen sollen folgen. Das heißt aber auch, dass Berlin den 24-Stunden-Betrieb in Leipzig rückhaltlos unterstützen muss,
indem unsere gesetzlichen Regeln den europäischen Standards angepasst werden und damit denen unserer europäischen Wettbewerber entsprechen.
Wir kämpfen in Ostdeutschland jeden Tag um jeden Arbeitsplatz. Ich führe genauso wie meine Kollegen in den anderen Ländern viele Gespräche, um Vertrauen zu gewinnen und zu stärken. Hier müssen die Bundes- und die Landespolitik synchron sein. Mehr Jobs lautet die Antwort auf das Problem der Abwanderung. Es gibt eine ganze Reihe von Regionen - das wurde bereits angesprochen -, in denen es anderen lohnenswert erscheint, zu uns zu kommen.
In Ostdeutschland gibt es bereits Zentren, die Zuwanderung verzeichnen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, aber sie sinkt, und die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse steigt. Die Erfolge werden in den Zentren sichtbar. Dies muss sich auch mehr und mehr auf die peripheren Regionen ausdehnen.
Aber jede undifferenzierte, die unterschiedliche Wirtschaftskraft nicht beachtende Diskussion über Löhne verunsichert nicht nur die lokalen Arbeitgeber, sondern schadet auch den Arbeitnehmern. Jeder weiß, dass in manchen Branchen und Regionen zum Beispiel ein Lohn von 7,50 Euro schlichtweg nicht durchsetzbar oder in anderen Bereichen eine Anpassung an den Westlohn zurzeit nicht möglich ist. Hier muss mit Augenmaß gehandelt werden. Selbstverständlich möchten wir nicht, wenn es möglich ist, auf Lohnerhöhungen verzichten, aber wir müssen deutlich machen, dass auch die Alternativen zu einer undifferenzierten Entwicklung der Löhne genannt werden müssen: Arbeitslosigkeit, Schwarzarbeit und Abwanderung.
Dank einer weitsichtigen Bundes- und Landespolitik ist rund um Dresden das größte und einzige europäische, weltweit konkurrenzfähige Halbleitercluster entstanden; hier gibt es 25 000 Arbeitsplätze in 250 Firmen. Jeder fünfte Mikroprozessor weltweit kommt aus Ostdeutschland. Europa spielt hier wieder in der Weltliga mit.
Wir erleben neuerdings, dass wichtige Mikroelektronikfirmen nicht in Europa investieren, sondern in Amerika oder Asien, wo sie mehr Unterstützung bekommen, die uns von der EU verwehrt wird. Meines Erachtens darf Europa nicht tatenlos zusehen, wenn eine Zukunftstechnologie an ihrer Zukunft bei uns, auch in Ostdeutschland, zu zweifeln beginnt.
Wir erwarten, dass sich Berlin und Brüssel für eine neue europäische technologieorientierte Industriepolitik starkmachen. Europa muss sich entscheiden, welche Branchen und Entwicklungen strategische Bedeutung im Ringen der großen Wirtschaftsräume der Welt um Einfluss und Gestaltung des 21. Jahrhunderts haben, so wie das auch unsere Konkurrenten in Amerika und Asien tun. Die Luft- und Raumfahrt gehört zum Beispiel ebenso dazu wie die Mikroelektronik in Ostdeutschland.
Meine Damen und Herren, in den nächsten Wochen fallen die Kontrollen an unseren Ostgrenzen weg; der Schengen-Raum erweitert sich. Das ist aber nicht nur ein Thema für den Innenminister, der beispielhaft in den Grenzregionen wirbt und Vertrauen schafft. In den neuen Räumen werden sich, ähnlich wie in den Grenzregionen Westdeutschlands, die Wirtschaftsbeziehungen neu orientieren. Das ist eine große Chance für Deutschland und insbesondere für die Regionen an der Ostgrenze von Passau bis zur Ostsee. Wir stehen vor einer immensen Steigerung des Handelsvolumens mit Mittel- und Osteuropa. Das wollen wir auch. Voraussetzung ist aber, dass Umfang und Qualität der grenzüberschreitenden Verkehrsnetze bald denen an der West- und Südgrenze entsprechen.
Die durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts hervorgerufenen Beeinträchtigungen müssen wir überwinden. Unser Horizont darf nicht an der Grenze enden. Wir liegen - Gott sei Dank - in der Mitte Europas und sollten das nutzen.
Dazu brauchen wir deutlich mehr Geld für Infrastruktur, und zwar in Ost und West, an der Grenze wie im Binnenland.
Wir sind das Herz Europas; wir sind in der Mitte, und wir sollten unsere Aufgaben erfüllen, im Interesse unserer eigenen wirtschaftlichen Zukunft.
Ich bin froh, dass die Investitionszulage noch nicht vom Tisch ist. Für uns ist wichtig, dass die Fortführung bis 2013 noch einmal sehr sorgfältig erwogen wird; denn wir brauchen mehr Wirtschaftskraft. Nach wie vor werden nur zwei Drittel des ostdeutschen Einkommens selbst erwirtschaftet.
Hier sind West und Ost in einem Boot. Wenn die Transferbelastung des Westens, insbesondere über die öffentlichen Haushalte und die Sozialsysteme, sinken soll, was wir alle wollen, dann muss der Osten weiter stärker wachsen als der Westen. Das gilt insbesondere für die Industrie.
Das ist die einzige Möglichkeit, das leidige Transferthema zu bewältigen. Sonst bleibt es bei dem unbefriedigenden Zustand, den alle Beteiligten, sowohl diejenigen, die empfangen, als auch diejenigen, die zahlen, beklagen.
Wir können uns - und sollten das auch - gemeinsam über die Erfolge beim Aufbau Ost freuen. Aber wir dürfen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen, sondern müssen jede Initiative belohnen, die Bremsklötze beseitigen kann, und jede Unterstützung gewähren, die die ostdeutschen Länder in die Lage versetzt, auf eigenen Beinen zu stehen.
Das ist nicht immer nur die finanzielle Unterstützung, sondern auch die Berücksichtigung der nach wie vor sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, eine faire und solidarische Diskussion sowie die Anerkennung der Leistungen der Deutschen in Ost und West im Rahmen des Vereinigungsprozesses. Wir haben - darauf ist hier schon hingewiesen worden - durch die friedliche Revolution eine einmalige Chance in unserer Geschichte bekommen: die Wiedervereinigung in einem friedlich zusammenwachsenden Europa. Es liegt an uns, diese Chance zu nutzen.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen für die Fraktion Die Linke.
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche nach den großen Daten, auf die der Ministerpräsident verwiesen hat, zu einem speziellen Thema, nämlich der Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals. Schnell, schnell, schnell, bloß keine Diskussion, kein Nachdenken, so müsste man den Antrag der Koalitionsfraktionen und der FDP auf Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals überschreiben.
Noch nicht einmal der federführende Kulturausschuss hatte vorgestern Zeit für eine Aussprache. Der Antrag wurde per Mehrheit aufgesetzt, angenommen und in einer Weise durchgezogen, die aus meiner Sicht allen parlamentarischen Sitten hohnspricht,
und das ausgerechnet bei einem Denkmal, das der Erringung demokratischer Freiheiten in der DDR gewidmet werden soll. Sie merken offensichtlich noch nicht einmal, wie weit Ihr Gebaren von der Atmosphäre und dem Niveau der runden Tische entfernt ist, an denen die Demokratie in der DDR neu geboren wurde. Und warum? Weil heute der 9. November ist und an diesem Symboltag ein neues Nationalsymbol etabliert werden soll. Basta! Und was soll symbolisiert werden? Einerseits die friedliche Revolution im Herbst 1989 und andererseits die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit sowie die freiheitlichen Bewegungen und Einheitsbestrebungen der vergangenen Jahrhunderte.
Man merkt sofort: Da sind große Verwischtechniker am Werk, die alles Mögliche zusammenbringen wollen, ohne zu fragen, ob das überhaupt geht. Hauptsache, das Denkmal steht 2009 in Berlin. Seit heute früh gibt es einen zusätzlichen Vorschlag. Er sieht zwei Denkmäler, genannt ein Denkmalpaar, vor, das eine in Berlin und das andere in Leipzig. Wenn es nach Herrn Minister Tiefensee geht, soll es Hunderte Denkmäler überall im Land geben. So wurde der Minister neulich in den Zeitungen mit der Aussage zitiert, wo die vielen Kriegerdenkmäler stünden, könnten doch nun Freiheitsdenkmäler errichtet werden. Das ist doch grotesk.
Wir machen dabei nicht mit, und zwar nicht weil uns Freiheit und Einheit egal sind, sondern weil wir uns dem politischen Erbe der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung besonders verpflichtet fühlen.
- Beruhigen Sie sich! - Wer die friedliche Revolution im Herbst 1989 mit der Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands 1990 in eins wirft, wird diesem Erbe nicht gerecht, weil beide Vorgänge zwei Stufen eines komplexen internationalen, historischen Prozesses darstellen, die nicht unmittelbar aufeinander bezogen werden können. Diese Revolution mit dem Ruf ?Wir sind das Volk“ ist singulär in der deutschen Geschichte, sodass sie erst recht nicht mit den freiheitlichen Bewegungen und Einheitsbestrebungen der vergangenen Jahrhunderte vermengt werden kann.
Wir schlagen deshalb ein anderes Erinnern vor:
Erinnern an diejenigen, die oft unter großer persönlicher Gefahr Demokratie und Freiheit in der DDR einforderten, Erinnern an die Abertausend Bürger und Bürgerinnen in Leipzig, die demonstriert, protestiert, geredet und andere überzeugt haben, Erinnern an diejenigen, die in den Kasernen und Polizeiwachen geblieben sind und dafür gesorgt haben, dass die Demokratie ohne Blutvergießen begann. Dafür treten wir mit unserem Antrag ein.
Da aus unserer Sicht eine solche unblutige Revolution keinen herkömmlichen Denkmalkult erlaubt, möchten wir in Leipzig ein Denkzeichen zusammen mit einem Ort der Information und einem aktiven Museum errichten, welches den Nachgeborenen die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Idee der Freiheit eröffnet.
Natürlich muss darüber eine groß angelegte öffentliche Diskussion geführt werden - in diesem Sinne stimmen wir dem Antrag der Grünen zu -, eine Diskussion, ausführlich statt schnell, schnell, schnell, nachdenklich statt unüberlegt und vor allem jene Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen einbeziehend, die damals das Land verändert haben und die sich heute von der Politik nicht mehr vertreten sehen.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Jan Mücke das Wort.
Jan Mücke (FDP):
Frau Kollegin Jochimsen, Sie haben soeben die, ich muss schon sagen: Unverschämtheit besessen, die Bürgerrechtsbewegung in der DDR für Ihre Zwecke zu benutzen.
Ich glaube, dass gerade Sie als Angehörige der Fraktion einer Partei, die mehrfach umbenannt wurde und fusionierte, aber in der Kontinuität der alten SED steht, nicht diejenigen sein sollten, die an die Bürgerrechtsbewegung in Leipzig erinnern.
Deswegen haben der Kollege Weißgerber und ich gemeinsam mit vielen anderen Kollegen einen Gruppenantrag eingebracht, der zur Abstimmung steht und für den ich um Zustimmung werben möchte. In ihm steht, dass wir an beiden Standorten, in Berlin und in Leipzig, der Freiheit und der Wiedergewinnung der Einheit unseres Vaterlandes gedenken. Sie haben offensichtlich vergessen, gegen wen die 70 000 Leipziger am 9. Oktober eigentlich auf die Straße gegangen sind. Es ist gegen die SED gewesen, als deren Nachfolgerin Ihre Partei heute im Bundestag sitzt. Ich finde, dass Ihnen eine solche Bemerkung nicht zusteht.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zur Erwiderung.
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
Herr Kollege Mücke, es tut mir eigentlich leid, dass Sie die Diskussion jetzt auf dieses Niveau herunterbringen.
Ich bin versucht, Sie zu fragen, wie Sie eigentlich mit den zwei Blockparteien umgehen, die Ihre Partei übernommen hat.
Mich brauchen Sie nicht zu fragen, möglicherweise genauso wenig wie ich Sie dazu befragen kann.
Natürlich erinnern wir uns in unserer Fraktion und in unserer Partei genau an diese Geschichte.
Es liegt uns am Herzen, dass viele der Menschen, die damals diesen Wandel herbeigeführt haben - gehen Sie doch einmal durch die ostdeutschen Länder -, sich heute nicht mehr vertreten fühlen. Deswegen finden wir: Wenn es ein Denkmal gibt, dann muss das Denkmal zuerst nach Leipzig.
Dort hat alles angefangen, dort soll erinnert werden, und dafür bin ich hier eingetreten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist nun der Kollege Wolfgang Thierse für die SPD-Fraktion.
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Jochimsen, Ihre Rede - lassen Sie mich Ihnen das sagen - war von einer Dreistigkeit, dass mir regelrecht die Luft weggeblieben ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Idee für ein Freiheits- und Einheitsdenkmal, über die wir heute debattieren, ist nicht neu. Die Diskussion darüber währt schon lange. Prominente Befürworter haben sich geäußert, von Lothar de Maizière bis zu Richard Schröder, den ich herzlich begrüße,
Egon Bahr und Wolfgang Huber. Vor drei Jahren hatte bereits eine große Anzahl von Abgeordneten aus verschiedenen Fraktionen einen ähnlichen Antrag unterstützt. Es geht also nicht um ein Hauruckverfahren, Kollege Hettlich. Das Motiv war und ist: Wir Deutschen sollten all unseren Mut zusammennehmen und mit einem Denkmal daran erinnern, dass deutsche Geschichte auch einmal gut ausgehen kann und gut ausgegangen ist.
Wir sollten an das Annus mirabilis, an das Jahr der Wunder 1989/90, erinnern. Wir sollten ein Erinnerungsmal daran errichten, dass - mit den Worten des großen Historikers Fritz Stern - die Bevölkerung der DDR die erste und einzige erfolgreiche friedliche Revolution in Gang gesetzt hat, die Deutschland je erlebt hat. Wir sollten ein Denkzeichen dafür errichten, dass endlich Einheit und Freiheit, Freiheit und Einheit zusammen verwirklicht werden konnten und nicht das eine dem anderen geopfert wurde.
Wir sollten ein Mahnmal unseres historischen Glücks errichten, damit wir nicht vergessen, wie kostbar und wie verletzlich Freiheit und Einheit sind und wozu uns unser nationales Glück verpflichtet.
Gewiss, wir Deutschen sind und bleiben verpflichtet, uns unserer Schandtaten, vor allem der Verbrechen des NS-Staates und seiner Opfer, zu erinnern. Es war notwendig und richtig, dass der Deutsche Bundestag in seiner letzten Sitzungswoche in Bonn im Juni 1999 die Entscheidung für das Holocaust-Denkmal im Zentrum der deutschen Hauptstadt getroffen hat. Dieser Pfahl in unserem nationalen Fleisch ist schmerzlich notwendig. Wir haben dauerhaft der Opfer zu gedenken.
Aber ein Volk kann vermutlich nicht nur aus seinem Versagen Orientierung gewinnen. Auch wir Deutschen können Ermunterung vertragen, zum Beispiel durch die Erinnerung an die freundlichen Seiten unserer Geschichte, an die Freiheits- und Einheitsbestrebungen, an die Aufbrüche und Anfänge, an die Erfolge, ohne die Widersprüche, das Scheitern, die Schandtaten zu verdrängen, zu vergessen.
Also erinnern wir an 1848 und 1918, an 1945 und eben an 1989 und daran, dass Einheit und Freiheit zusammengehören und dass das so bleiben soll.
Seien wir endlich ein normales, ein durchschnittliches, ein gewöhnliches europäisches Volk, das auch dies kann.
Wir schlagen vor, dieses Denkmal in Berlin zu errichten, weil es sinnvollerweise in die Hauptstadt gehört. Hier in Berlin wurde die Mauer erstürmt und zerbrochen, gewiss. Aber die friedliche Revolution war beileibe kein Berliner Ereignis; sie ereignete sich in vielen Orten der DDR. Leipzig war ein entscheidender Ort. Das werde ich, das sollten wir alle nicht vergessen.
Deshalb sollten wir in der weiteren Diskussion, im Wettbewerb und in der Realisierung darüber nachdenken, wie auch in Leipzig der Selbstbefreiung und Wiedervereinigung ein Zeichen der Erinnerung gesetzt werden kann, und uns dazu auch verpflichten.
Weil wir das wollen, ist der vorgelegte Änderungsantrag, liebe sächsische Kollegen, überflüssig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesem Anliegen, diesem Projekt werden auch - wenig überraschend - Skepsis und Ablehnung entgegen gebracht. Es heißt, ein solches Denkmal sei schlicht überflüssig, es komme zu früh, wir seien zu eilfertig. Nun ja, ohne Diskussionen wird es und soll es auch nicht gehen. Wir wollen kein Denkmal, das in einer ministeriellen oder parlamentarischen Geheimaktion geplant und verwirklicht wird. Im Gegenteil, die Verständigung über Sinn, Gestalt und Ort eines solchen Denkmals kann und soll der kollektiven Selbstverständigung der Deutschen dienen. Einmischung ist ausdrücklich erwünscht.
Die intellektuelle und künstlerische Herausforderung ist ohnehin beträchtlich. An die deutsche Freiheitsgeschichte, die Wiedervereinigung und ihre europäischen Zusammenhänge zu erinnern und das künstlerisch Gestalt annehmen zu lassen, das ist wahrlich eine gigantische Aufgabe. Wir kennen Helden- und Kriegsdenkmäler, Opfer- und Totendenkmäler. Wir kennen mehr oder weniger peinliche Nationaldenkmäler. Aber wie soll historisches Glück, wie sollen Freiheit und Einheit in eine dauerhafte künstlerische Form gerinnen? Ich bin sehr gespannt.
Wir stehen vor einer großen Herausforderung. Es wäre trotzdem gut, wenn wir es bis zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit schaffen könnten. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber kein Dogma. Beschließen wir heute also den Start dieses notwendigen und wichtigen Projekts.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Börnsen für die CDU/CSU-Fraktion.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der 9. November ist ein Tag der Trauer und gleichzeitig ein Tag des Glücks, ein deutscher Tag: Reichskristallnacht und Mauerfall. 1938 die hässliche Fratze unserer Vergangenheit und 1989 ein Tag, an dem die Träume tanzen lernten.
Ich habe den für mich bewegendsten Augenblick unserer jüngsten Geschichte im Bonner Wasserwerk erlebt. Es war gegen 21 Uhr. Auf der Tagesordnung stand die Beratung des Vereinsförderungsgesetzes. Der Plenarsaal war gut besetzt, es sollte nämlich eine namentliche Abstimmung folgen. Annemarie Renger unterbrach plötzlich die Debatte. Kanzleramtsminister Rudolf Seiters erhielt das Wort - dann die explosive Mitteilung: Die Mauer ist gefallen. Wir sind das glücklichste Volk der Welt. Liesel Hartenstein fiel Willy Brandt in die Arme. Alfred Dregger und Wolfgang Mischnick kämpften aufgewühlt mit ihren Tränen. Spontan sang das gesamte Parlament unsere Nationalhymne von Einigkeit und Recht und Freiheit. Drei Kollegen von den Grünen verließen den Plenarsaal. Trotzdem werde ich diesen wunderbarsten Augenblick meines parlamentarischen Lebens nie vergessen, weil ich miterleben durfte, dass sich in meinem eigenen Land der Wille zur Freiheit friedlich Bahn gebrochen hat durch die unbändige Spontaneität der Leipziger, die Courage der Bürgerrechtler und den Mut von Menschen in unserem Land.
Deutschlands Freiheits- und Einheitsgeschichte geht jedoch über diesen epochalen Augenblick hinaus. Schon 1817 stritten Studenten beim Wartburgfest für Freiheit und ein geeintes Vaterland. Beim Hambacher Fest forderte man Freiheit und Demokratie. Doch erst 1848 brach sich die Freiheitsrevolution Bahn. Freiheit, Gleichheit, bürgerliche Rechte, Pressefreiheit, Gewaltenteilung - diese zutiefst demokratischen Ideen gehören seitdem zu unserem politischen und historischen Erbe. 100 Jahre später hat der Parlamentarische Rat sie ganz bewusst im Grundrechtekatalog unserer Verfassung verankert.
Vorher gab es die Weimarer Verfassung von 1919. Sie war eine freiheitliche Verfassung mit liberalen und sozialen Grundrechten und vielleicht zu vielen plebiszitären Elementen. Sie - nicht eine Räterepublik oder Rätediktatur nach sowjetischem Vorbild - war das Ergebnis der Revolution von 1918. Diese junge Demokratie hatte nur einen kurzen Atem, ging unter im menschenverachtenden Terror des NS-Regimes.
Dann kamen mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 Demokratie, Rechtsstaat und Parlamentarismus. Die Freiheit, den Alliierten geschuldet, fand zurück zu ihren Wurzeln. Sie durfte im Westen gelebt werden. Im Osten schlugen am 17. Juni 1953 die sowjetische Besatzungsmacht und DDR-Grenztruppen den Volksaufstand nieder. Es gab über 100 Tote, 20 Hinrichtungen und 3000 Verhaftungen. Die erste große Freiheitsbewegung gegen die kommunistische Diktatur wurde niedergepanzert. Der 17. Juni gehört zu unserer Freiheitsgeschichte.
Ohne Freiheit gibt es keine Demokratie. Die Deutsche Demokratische Republik war eine demokratische Täuschung, ein Potemkinsches Dorf der Begrifflichkeiten. Die Freiheit? Ein Traum, eingesperrt zwischen Stacheldraht und Staatssicherheit. Erst 1989 wurde sie erkämpft, friedlich und ohne Blutvergießen.
Es ist an der Zeit, sich der gesamten Freiheitsgeschichte unseres Landes zu erinnern. Keine Nation kann ihre Identität und ihre Orientierung allein aus ihrem Versagen und ihren dunklen Kapiteln gewinnen. Vorgestern, bei der Anhörung des Kulturausschusses zum Gedenkstättenkonzept, hat sich Salomon Korn wie die überwiegende Mehrzahl der Historiker für das Freiheits- und Einheitsdenkmal hier in der Hauptstadt ausgesprochen, weil die Befreiung von Diktaturen als Zeichen der Ermutigung dokumentiert werden muss. Doch es gilt, unsere gesamte Freiheitsgeschichte wahrzunehmen. Ein Denkmal für Freiheit und Einheit kann diese Funktion erfüllen. Es macht die Signalfunktion von Freiheit deutlich. Es steht für die glücklichen Augenblicke unserer Geschichte. Solche Momente gehören nicht in die Besenkammer der Erinnerung.
Im Gegenteil, es wird Zeit, sich daran zu erinnern: Unsere Landsleute haben sich über viele Jahrhunderte mit Leidenschaft und ihrem Leben für die Freiheit eingesetzt. Diese Tugenden haben Vorbildcharakter für die junge Generation. Erinnern braucht Gestalt. Denkmäler sind notwendig. Ohne sie geht Erinnerung verloren. Erinnern braucht vor allen Dingen Wissen. Nur wer informiert ist, kann auch gedenken.
Ein Denkmal muss auch ein Lern- und Erinnerungsort sein. Dafür sind Voraussetzungen zu schaffen; denn, wie die Sachverständigen bei der Anhörung feststellten, es gibt einen Mangel an positiven Geschichtserinnerungen. Es fehlt an Kenntnis über die deutsche Freiheitsgeschichte. Das Denk-Mal muss die Ausrichtung der Gestaltung bestimmen. Das Nach-Denken ist ebenso anzuregen wie das Voraus-Denken.
Wo soll es stehen? Wir sagen: in Berlin. - Der Wunsch der Leipziger, es bei sich aufzustellen, ist außerordentlich verständlich, gingen doch von dort die folgenreichen Montagsdemonstrationen aus.
Eine Stele an der Nikolaikirche erinnert bereits an die beispielgebende Tat der Leipziger in dieser Stadt. Da wir aber die ganze Freiheitsgeschichte unseres Landes aufnehmen wollen, ist die Hauptstadt der richtige Ort.
Klar ist: Das Freiheitsdenkmal muss 2009 errichtet werden, in einem Jahr vierfachen Jubiläums: 160 Jahre Paulskirche, 20 Jahre Mauerfall, 90 Jahre Weimarer Verfassung, 60. Geburtstag der Bundesrepublik. Das ist ein Jahr, um der Freiheitsgeschichte unseres Landes in Würde, aber auch in Freude und Fröhlichkeit zu erinnern.
Die Verwirklichung des Denkmals erfolgt gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft. Sie steht für Seriosität und Kompetenz. Ihre Mitstreiter Lothar de Mazière, Jürgen Engert, Florian Mausbach, Günter Nooke, Richard Schröder - einige sind heute hier - haben mit dafür gesorgt, dass eine Idee aus der Mitte der Gesellschaft Gestalt annahm.
Heute sorgen wir im Deutschen Bundestag dafür, dass sie Realität wird. Bemerkenswert ist, dass die drei vorliegenden Anträge in ihrer Zielsetzung fast übereinstimmen. Vor sieben Jahren scheiterte eine solche Initiative. Bei meinen zahlreichen Gesprächen in den vergangenen zwei Jahren zur Beförderung des Antrags habe ich die Erfahrung gemacht: Heute sind alle, ob Kritiker oder Befürworter, in ihrer geschichtlichen Betrachtung differenzierter geworden als in der Vergangenheit. Sie sind viel bereiter, dem ermutigendem Freiheits- und Einheitsgedanken einen höheren Stellenwert einzuräumen. Auch das ist ermutigend.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, Sie denken bitte an die Redezeit - trotz des wichtigen Themas.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Kein Text fasst dieses Ideal von Freiheit schöner als das Volkslied aus dem Jahr 1780, dass 1848 verboten wurde: Die Gedanken sind frei. Darin heißt es in der dritten Strophe:
Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke.
Denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei!
Bitte stimmen Sie mit für das Denkmal für Freiheit und Einheit hier in der Hauptstadt!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Gunter Weißgerber, SPD-Fraktion.
Gunter Weißgerber (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es redet ein Leipziger, und daher meinen viele, dass es lokalpatriotisch zugeht. Überhaupt nicht!
Für mich ist es undenkbar, in Leipzig ein Denkmal hinzustellen und es in Berlin nicht zu tun. Die deutsche Nachkriegsgeschichte ist für mich ohne die geteilte Stadt Berlin, ohne die Blockade, ohne den Volksaufstand, ohne den Mauerbau, ohne die Ostberliner Untergrundszene und ohne den Sturm auf die Umweltbibliothek überhaupt nicht denkbar. Deshalb gehört nach Berlin auf jeden Fall ein ganz wichtiges Denkmal, und zwar dieses. Deshalb verstehe ich überhaupt nicht, warum die Linke die Geschichte so verkürzt.
Klar ist natürlich: Der Mauerfall, der auch mit Berlin zusammenhängt, ist eine Folge von Ereignissen, die sich speziell im Herbst 1989 in Ostdeutschland vor allem in der Provinz abgespielt haben; aber natürlich auch in Ostberlin; ich denke an die Gethsemanekirche. Die ganzen Bilder habe ich noch vor mir. Ich habe vor dem Fernseher mitgelitten. In der Provinz aber ging die Bewegung los, speziell in Leipzig. Sie werden in Ostdeutschland fast niemanden finden, der nicht sagen wird - egal wo er wohnt und wo seine Demonstrationen stattfanden -: eigentlich Leipzig. Dort hat sich nämlich alles fokussiert.
Es waren ja nicht nur 70 000 Leipziger am 9. Oktober 1989 auf der Straße. Es waren auch viele von auswärts dabei. Sie sind nach Leipzig gefahren, weil klar war: Von dort ist das Signal am mächtigsten. Aus diesem Grunde und deshalb, weil der Ruf ?Wir sind das Volk“ in Leipzig entstanden ist - daraus wurde: ?Wir sind ein Volk“; wir sind jetzt ein Volk in einem freien Land; wunderbar! -, haben wir diesen Änderungsantrag vorgelegt.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei denjenigen, die mir hierbei Unterstützung erwiesen haben. Es sind übrigens nicht nur Sachsen; die Kolleginnen und Kollegen kommen aus allen Bundesländern, aus Ost wie West. Die Unterstützung vollzieht sich also auf nationaler Ebene und nicht nur auf regionaler Ebene. Dafür bedanke ich mich.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Klaas Hübner, SPD-Fraktion.
Klaas Hübner (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Gunter Weißgerber, ich kann gut verstehen, dass man darauf hinweist, dass die friedliche Revolution, die zur Einheit geführt hat, in Gesamtostdeutschland stattgefunden hat und dass ihrer überall gedacht werden soll. Aber wir haben heute über den Antrag zu entscheiden, ein bestimmtes Denkmal zu errichten, und zwar hier in der Hauptstadt Berlin. Richard Schröder hat gesagt:
Berlin [ist] die Hauptstadt des Landes und damit auch die Hauptstadt unserer Erinnerungskultur.
Wir entscheiden heute über einen entsprechenden Antrag. Deshalb möchte ich darum bitten, ihm in der vorliegenden Fassung zuzustimmen.
Das enthebt uns nicht der Notwendigkeit der Diskussion, gemeinsam mit den Landesregierungen und den Menschen darüber nachzudenken - einer meiner Vorredner hat es gesagt -, wie man auch an anderen Orten eine Stätte des Erinnerns und des Ehrens dessen, was 1989 geschehen ist, in geeigneter Weise errichten kann.
Ich möchte im Rahmen des Jahresberichts zum Stand der deutschen Einheit noch auf einen ganz anderen Aspekt eingehen. Die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands ist in den letzten 17 Jahren deutlich gestiegen. Wir haben zwar heute nur 70 Prozent der Wirtschaftskraft des Westens; aber immerhin haben wir sie. Dass wir in den letzten 17 Jahren so weit gekommen sind, ist eine gewaltige Leistung des Gesamtstaates. Es ist nicht nur eine Leistung Ostdeutschlands, sondern sie ist auch geprägt von der Solidarität des Westens, wofür ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken will.
Wir müssen aber weiterkommen. Wir müssen Chancen ergreifen, um schneller an die durchschnittliche Wirtschaftskraft Gesamtdeutschlands aufzuschließen. Dabei muss man erkennen, dass uns das nur sehr schwer gelingen wird, wenn wir versuchen, den Aufholprozess dadurch zu generieren, dass wir parallele Strukturen zu bestehenden Industriezweigen aufbauen. Solche Industrien hätten sich nachher in einem Verdrängungswettbewerb zu behaupten.
Es wird vielmehr notwendig sein, dass wir in Ostdeutschland Forschung und Innovationen bei neuen Technologien fördern und damit auf neue Märkte vorstoßen; denn dort, wo neue Märkte entstehen, ist es am einfachsten, entsprechend zu wachsen und schnell an die Spitze zu kommen. Darum haben die Koalitionsfraktionen in ihrem Entschließungsantrag zum Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit einen besonderen Schwerpunkt auf eine verstärkte Förderung von Forschung und Innovationen in den neuen Bundesländern gelegt. Hierin sehe ich eine Chance, Ostdeutschland nach vorne zu bringen.
Es gibt gute Beispiele dafür, in welchen Bereichen uns dies schon gelungen ist. Ich denke an den Bereich der erneuerbaren Energien und an den Bereich der Solarzellentechnologie. In meinem Wahlkreis hatten vor sieben Jahren zehn junge Leute die Idee, eine Solarzellenproduktion aufzubauen. Sie haben damals zu zehnt angefangen. Heute beschäftigen sie in ihrer eigenen Firma 1 500 Mitarbeiter. Das hat mittlerweile zu weiteren Investitionen aus Kanada und den USA in die Region um Wolfen und Thalheim bei Bitterfeld geführt. Insgesamt sind in diesem Bereich dort heute 5 000 Menschen beschäftigt.
Nach den jetzigen Investitionsplanungen ist fest davon auszugehen, dass im Jahre 2010 10 000 Menschen in einem vollkommen neuen Technologiebereich einen Arbeitsplatz haben werden.
Das zeigt: Es lohnt sich, in neue Technologien zu investieren. Es lohnt sich auch, das von staatlicher Seite durch eine gute Förderpolitik zu begleiten. Dies bringt den Menschen etwas. Dies führt zur Schaffung von Arbeitsplätzen und ist gut für die neuen Bundesländer.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen Punkt hinweisen, der auch Bestandteil unseres Entschließungsantrages ist. Er betrifft die Verstetigung dessen, was wir GA-Mittel-Förderung nennen. Hierbei geht es um eine Investitionsförderung, die die zielgenaueste ist, die wir haben. Denn hier werden Investitionen gefördert, die zur Schaffung von Arbeitsplätzen führen. Die Mittel für dieses zielgenaue Instrument sollten wir auf möglichst hohem Niveau verstetigen. Das bietet uns die beste Gelegenheit, eine zielgenaue Wirtschaftspolitik zu betreiben. Insofern bitte ich den Haushaltsausschuss, noch einmal zu überdenken - ich weiß, dass das in Zeiten, in den die Steuerschätzung nicht so gut ausfällt, wie man sich das wünscht, schwierig ist -, ob man nicht eine Verstetigung der Mittel auf altem Niveau erreichen kann. Ich glaube, dies wäre gut für die neuen Bundesländer.
Sicherlich sollten wir gerade bei einer Debatte um die deutsche Einheit nicht verschweigen, dass es noch Probleme gibt. Wir sollten aber vor allen Dingen auf die Erfolge und auf die ungemeinen Chancen der vor uns liegenden Entwicklung hinweisen. Wir sollten den Menschen keine Angst machen, sondern Mut machen, diese Chancen zu ergreifen. Dadurch, dass sich die Europäische Union nach Osteuropa erweitert hat, hat die Zahl der Menschen in Europa um 20 Prozent, die Wirtschaftskraft aber nur um 5 Prozent zugenommen. Das heißt, hier ist ein Potenzial, das noch entwickelt werden kann und entwickelt werden muss. Das ist ein Wachstumspotenzial direkt an der Grenze der neuen Bundesländer, das wir als Chance begreifen sollten und nutzen müssen. Die EU-Erweiterung stellt für die neuen Bundesländer in erster Linie nicht ein Risiko, sondern eine Chance dar. Lassen Sie uns das den Menschen sagen! Lassen Sie uns ihnen Mut machen. Ich glaube, das haben die Menschen in Ostdeutschland, aber auch in Gesamtdeutschland verdient.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/6500 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 16/7014 und 16/7015 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das sieht so aus. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen unter dem Tagesordnungspunkt 33 b zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2006 und zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zu diesem Bericht.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4041, in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 16/2870 den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/3310 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Unter Punkt 33 c unserer Tagesordnung geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf der Drucksache 16/6974.
Wir kommen zunächst zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 16/6925 sowie zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/6776 mit gleichlautenden Titeln: Errichtung eines Freiheits- und Einheits-Denkmals.
Unter Buchstaben a und b empfiehlt der Ausschuss, die genannten Anträge zusammenzuführen und in der Fassung des Antrags auf Drucksache 16/6925 anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Gunter Weißgerber, Rainer Fornahl, Simone Violka und weiterer Abgeordneter vor. Darüber stimmen wir nun zunächst ab. Wer für diesen gerade genannten Änderungsantrag auf Drucksache 16/7047 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme?
- Das Präsidium ist sich einig, dass die Mehrheit knapper war, als vermutet wurde, dass aber das Zweite erkennbar die Mehrheit war. Das heißt, der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang den Hinweis, der im Übrigen in der Debatte von verschiedenen Rednern vorgetragen worden ist, dass niemand ernsthaft erwartet, dass mit dem heutigen Beschluss die Debatte zu Ende ist. Sie soll damit ausdrücklich auf eine möglichst breite Basis gestellt werden.
Ich darf noch darauf hinweisen, dass mir zu der Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses eine persönliche Erklärung zum Abstimmungsverhalten nach § 31 unserer Geschäftsordnung von den Kollegen Gunter Weißgerber und Rainer Fornahl vorliegt. Die nehmen wir selbstverständlich zu Protokoll.
Wir stimmen jetzt über die Beschlussempfehlung ab, also über die Zusammenführung der Anträge und Annahme in der Fassung des Antrages auf Drucksache 16/6925. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das war jetzt zweifellos eindeutiger. Das Erste war die Mehrheit. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6926 mit dem Titel ?Errichtung eines Denkzeichens mit Dokumentationszentrum zur Erinnerung an die friedliche Revolution 1989“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit eindeutiger Mehrheit angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6927 mit dem Titel ?Diskussionsprozess über ein Freiheits- und Einheitsdenkmal unter breit angelegter Beteiligung der Öffentlichkeit initiieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun die Zusatzpunkte 11 und 12 auf:
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz Kuhn, Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tempolimit 130 km/h auf Autobahnen sofort einführen
- Drucksache 16/6894 -
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dorothee Menzner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schnellstmögliche Einführung eines generellen Tempolimits von 130 Stundenkilometern auf Bundesautobahnen
- Drucksache 16/6932 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Diese Beratung unterscheidet sich von der vorherigen auch dadurch, dass der Antrag auf schnellstmögliche Umsetzung bei dem eben mit Mehrheit beschlossenen Antrag nicht gestellt wurde.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich um schnellstmögliche Herstellung der nötigen Aufmerksamkeit bei denjenigen, die an dieser Debatte teilnehmen können und wollen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Fritz Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit zwei Zitaten beginnen:
Wir wollen die steuerliche Besserstellung hochverbrauchender Dienstwagen abschaffen.
Ein schneller und unbürokratischer Weg zum Klimaschutz ist die Einführung einer allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h.
Das ist vor wenigen Tagen auf dem SPD-Parteitag in Hamburg so beschlossen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich will Ihnen sagen, dass wir diesen Beschluss gut finden. In unserem Programm haben wir uns zwar für ein Tempolimit von 120 km/h ausgesprochen, heute beantragen wir aber die Umsetzung Ihres Beschlusses. Ich will deutlich machen, aus welchen Gründen wir das tun. Im Wesentlichen sprechen vier Gründe für diese Position:
Erstens. Ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen bringt sofort - ich betone: sofort - eine Reduktion der CO2-Emissionen um mindestens 2,5 Millionen Tonnen jährlich.
Das entspricht immerhin 7 bis 8 Prozent der durch PKWs auf Autobahnen verursachten Emissionen.
Der zweite Grund ist, dass ein Tempolimit auf Autobahnen die Zahl der Verkehrstoten reduzieren würde. Von den jährlich 600 Verkehrstoten auf Autobahnen in Deutschland könnte ein Viertel - das besagt eine Studie, die im Auftrag der Brandenburger Landesregierung entstanden ist - gerettet werden. Das ist ein elementarer Grund. An dieser Stelle frage ich immer wieder die Union und die FDP: Wieso weichen Sie diesem Grund immer aus? Wieso wollen Sie diesen sachlichen Grund nicht zur Kenntnis nehmen? Wir können Menschenleben retten. Ich fordere die CDU/CSU auf, dies zu tun.
Der dritte Grund ist nicht minder wichtig: Es würde weniger Staus auf unseren Autobahnen geben;
denn Staus entstehen, wenn Fahrer mit sehr hohen Geschwindigkeiten auf Fahrer mit niedrigerer Geschwindigkeit stoßen. Der Verkehrsfluss würde durch ein Tempolimit also harmonisiert. In der Studie, die gestern von der Brandenburger Regierung vorgestellt wurde, wurde das empirisch untersucht. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass bei einem Tempolimit von 130 km/h auf einer sechsspurigen Autobahn pro Tag 7 200 Fahrzeuge mehr durchkämen, sich der Verkehrsdurchfluss also entsprechend erhöhen würde, und zwar, weil die Harmonisierung des Verkehrs durch ein Tempolimit gegeben wäre.
Der vierte Grund - wenig diskutiert in der Öffentlichkeit, aber ich will ihn nennen -: Stress und Aggressionen würden abgebaut, und vor allem für ältere Menschen wären die Autobahnen wieder leichter benutzbar.
Ich richte folgende Frage an die CDU/CSU: Wenn wir eine alternde Gesellschaft haben und auch mehr ältere Menschen auf den Autobahnen fahren, muss man dann nicht irgendwann einmal von diesem Hochgeschwindigkeitswahn abkommen, der nur noch in Deutschland, aber sonst nirgendwo in Europa stattfindet?
Deswegen sage ich denen von der FDP, die jetzt hier geifern - den jungen Mann kannte ich bisher noch gar nicht -: Das Tempolimit in Deutschland wird kommen, so wie das Rauchverbot in den Gaststätten gekommen ist. Sie können sich noch ein Weilchen dagegen wehren, aber die Vernunft wird sich an dieser Stelle schlicht und einfach durchsetzen.
Ich möchte zu zwei Gegenargumenten kommen, die immer vorgebracht werden. Das erste Argument, das auch von Umweltminister Gabriel in Interviews genannt wird, -
- vielleicht steckt er im Stau, weil wir kein Tempolimit haben; das kann man in seinem Fall nicht wissen -
lautet: Die CO2-Einsparungen in Höhe von 2,5 Millionen Tonnen durch ein Tempolimit seien zu wenig, man müsse die CO2-Emissionen um 270 Millionen Tonnen reduzieren, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Ich kann nur sagen: Das ist ein absurdes Verständnis dessen, wie wir Klimaschutz in Deutschland betreiben sollten.
Denn es ist doch klar, dass wir alle Maßnahmen brauchen. Wir sind doch nicht in der komfortablen Situation, uns von 20 Maßnahmen drei auszusuchen. Klimaschutz, die Reduzierung um 270 Millionen Tonnen erreichen wir nur, wenn wir alle Maßnahmen anpacken.
Im Übrigen hat man - auch Frau Merkel und Herr Gabriel - uns immer erzählt, das Gebäudesanierungsprogramm - es ist wirklich gut - sei ein so tolles Programm, das man unbedingt machen müsse. Es sei ein Glanzstück des Klimaschutzes. Dieses Programm hat im Jahr 2006 1 Million Tonnen CO2 eingespart. Warum sind 2,5 Millionen Tonnen plötzlich zu wenig, wenn bei anderen Programmen 1 Million Tonnen eine riesige und gute Zahl ist?
Deswegen sage ich an die Adresse der Bundesregierung: Wer ein wirkliches Klimaschutzprogramm umsetzen und verwirklichen will, kommt an einem Tempolimit auf den deutschen Autobahnen nicht vorbei.
Das zweite Argument ist industriepolitischer Art. Es wird gesagt, die deutsche Automobilindustrie könne nur auf dem heutigen Stand weiter exportieren, wenn wir kein Tempolimit haben, weil auf unseren Fahrzeugen das Marketinglabel ?Tested on the German Autobahn“ stehen müsse. Dazu kann ich nur sagen: Wer die Realität der Exporte der deutschen Automobilindustrie kennt, der weiß, dass das eine absurde Konstruktion ist. Porsche exportiert vorwiegend in die Vereinigten Staaten, die ja nun nachgerade ein Tempolimit der Sonderklasse haben. Daran kann es also wirklich nicht liegen.
Außerdem produziert der größte Konkurrent der deutschen Automobilindustrie, Toyota, in Japan, wo es ein Tempolimit von 110 km/h gibt. Die Automobilindustrie kann also durch eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen nicht so sehr geschwächt werden.
Es geht, glaube ich, um eine ganz einfache Frage. Wenn wir eine Geschwindigkeitsbegrenzung hätten, würde der Drang, immer größere, schnellere und aufgrund der Sicherheitstechnik schwerere Autos zu bauen, endlich aufhören. Es würden endlich ein vernünftiges Downsizing und ein Wettbewerb um das ökologischste Auto stattfinden. Das geht ohne Tempolimit nicht ohne Weiteres.
Ich will zum Schluss sagen: Manches ist einfach eine Angewohnheit, die man nicht so gerne aufgeben will. Ich darf Frau Nahles von der SPD zitieren.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Kuhn, das müssen Sie sich bitte aufheben. Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es dauert eine halbe Minute, Frau Präsidentin.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ein letzter Satz!
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Nahles sagte nach dem Parteitag:
Aber ich fahre gerne auch mal schnell Auto, wo das möglich ist. Auf meine Lieblings-Rennstrecke auf der A 48 würde ich nur sehr ungern verzichten.
Frau Nahles, ich kann nur sagen: Das ist ein Fall für die Drogenbeauftragte der Bundesregierung.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Storjohann das Wort.
Gero Storjohann (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kuhn hat uns eben eine Studie aus Brandenburg zum Besten gegeben, mit der er als Beispiel die sechsspurigen Autobahnen anführte. Ich hatte vor meinem Auge jetzt überprüft, wo wir in Schleswig-Holstein sechsspurige Autobahnen haben und wo sich die Grünen jemals für einen sechsspurigen Autobahnausbau ausgesprochen hätten. Deswegen gibt es einen Konflikt: Sie werden die Verkehrssicherheit insgesamt forcieren müssen, aber dann müssen Sie auch den Ausbau von Straßen bei uns unterstützen.
Knapp 23 Jahre ist es her, da beantragten die Grünen im Deutschen Bundestag aus Gründen des Umweltschutzes und der Verkehrssicherheit ein Tempolimit von 100 km/h; das war in der 10. Wahlperiode 1985. In der 11. Wahlperiode, im September 1988, beantragten die Grünen Tempo 100 als Maßnahme gegen Luftverschmutzung und Gesundheitsgefährdung wegen fotochemischen Smogs. In der 12. Wahlperiode, im September 1993, wollten die Grünen dann 20 km/h mehr, also Tempo 120 durchsetzen. Grund war diesmal die Bekämpfung des Waldsterbens.
In der 13. Wahlperiode, im Oktober 1997, wollten die Grünen für Pkw bis 2,8 Tonnen Gesamtgewicht Tempo 100 auf Autobahnen und für alle anderen Tempo 80 einführen. Diesmal musste unter anderem die neue Erscheinung wilder Straßenrennen dafür herhalten, wie es in dem damaligen Antrag hieß. In der 14. und der 15. Wahlperiode stellten die Grünen gar keinen Antrag zum Tempolimit.
- Da regierten sie.
Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Ihnen wirklich an einem allgemeinen Tempolimit gelegen wäre, dann hätten Sie als Regierungspartei sieben Jahre Zeit dafür gehabt, es einzuführen. Stattdessen stellen Sie jetzt, in der 16. Wahlperiode und wieder in der Opposition, in einem Jahr bereits den zweiten Antrag zum Tempolimit.
Ihrem Anliegen eines Tempolimits erweisen Sie eigentlich einen Bärendienst. Es geht Ihnen gar nicht um die Sache, sondern um das Vorführen unseres Koalitionspartners SPD.
Das ist keine seriöse Politik.
Anfang des Jahres wollten Sie als klimapolitische Sofortmaßnahme Tempo 120 auf allen deutschen Autobahnen. Jetzt wollen Sie wieder Tempo 130. Wer diesen Zickzackkurs noch nachvollziehen kann, möge sich bitte melden.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion lehnt ein allgemeines Tempolimit auf den deutschen Autobahnen ab.
Für den Klimaschutz würde ein generelles Tempolimit auf Autobahnen kaum erkennbare Verbesserungen bringen. Die BASt hat im Jahre 1992 berechnet, dass rund zwei Drittel der Fahrleistungen auf Autobahnen mit Geschwindigkeiten unter der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h abgewickelt werden. Damals wurde festgestellt, dass nur etwa 13 Prozent aller von Personenkraftwagen erbrachten Fahrleistungen mit Geschwindigkeiten von über 150 km/h gefahren werden.
Seit der Erhebung vor 15 Jahren hat sich das Verkehrsaufkommen auf unseren Straßen jedoch um ein Vielfaches erhöht. Das bedeutet, dass schon heute auf vielen Streckenabschnitten gar nicht mehr schneller als mit Tempo 130 gefahren werden kann. Das gilt insbesondere an Autobahnkreuzen, in der Nähe von Städten und in Ballungszentren.
Darüber hinaus sind heute bereits knapp 40 Prozent des Autobahnnetzes dauerhaft oder durch Baustellen geschwindigkeitsbeschränkt. Auf knapp 10 Prozent des Netzes werden Geschwindigkeitsbeschränkungen durch Verkehrsbeeinflussungsanlagen in Abhängigkeit von Verkehrsdichte oder Wetterlage angeordnet. Damit unterliegt knapp die Hälfte des deutschen Autobahnnetzes faktisch schon heute einem Tempolimit.
Außerhalb dieser Bereiche gibt es keinen vernünftigen Grund, ein allgemeines Tempolimit einzuführen - schon gar nicht aus Gründen der Verkehrssicherheit. Unsere Autobahnen sind die bei Weitem sichersten Straßen in Deutschland.
Auf den Bundesautobahnen werden rund 31 Prozent aller in Deutschland von Kraftfahrzeugen gefahrenen Kilometer zurückgelegt. Der Anteil an Verkehrstoten liegt auf den Bundesautobahnen bei etwa 12 Prozent und ist somit im Vergleich zu allen anderen Straßen wesentlich geringer.
- Ja, er ist noch zu hoch. Deswegen arbeiten wir an vielen Konzepten, und natürlich muss auch der Kontrolldruck erhöht werden. All das wollen wir gemeinsam anpacken.
60 Prozent aller tödlichen Verkehrsunfälle - dieser Anteil ist viel zu hoch - geschehen auf Landstraßen; hier gibt es übrigens ein allgemeines Tempolimit von 100 km/h. Danach folgen mit 28 Prozent die Unfälle, die innerorts passieren; hier gilt ein allgemeines Tempolimit von 50 km/h. Auf den deutschen Autobahnen verunglücken rund 7,5 Prozent aller Verkehrsteilnehmer. Lediglich 6 Prozent aller Unfälle mit Personenschaden ereignen sich hier. Daher sollten Tempolimits auf Autobahnen nur an bekannten Unfallschwerpunkten und bei hohem Verkehrsaufkommen angeordnet werden. In der Studie aus Brandenburg wurde deutlich, dass die Anordnung eines Tempolimits von 130 km/h auf dem langen Abschnitt vor Berlin durchaus sinnvoll war und sich im Nachhinein als sehr richtig erwiesen hat.
Geschwindigkeitsbeschränkungen müssen für den Verkehrsteilnehmer immer nachvollziehbar sein.
Bereits heute leisten verkehrsabhängige Streckenbeeinflussungsanlagen, mit deren Hilfe die Anordnung von Geschwindigkeitsbeschränkungen und Überholverboten situationsabhängig geregelt werden kann, einen großen Beitrag zu einem optimalen Fahrverhalten.
Dadurch wird der Verkehrsablauf auf unseren Autobahnen verbessert und die Verkehrssicherheit erhöht.
Die CDU/CSU spricht sich für den verstärkten Ausbau elektronischer Verkehrsbeeinflussungsanlagen entlang unserer Autobahnen aus. Im Bundeshaushalt für dieses Jahr haben wir für den Bau solcher Anlagen 30 Millionen Euro vorgesehen. Eine flexible Geschwindigkeitsregelung ermöglicht, dass die Autofahrer ihr Fahrtempo an die jeweilige Verkehrssituation und an die Umfeldbedingungen wie das Wetter und den Straßenzustand anpassen.
Untersuchungen haben ergeben, dass die Zahl der Unfälle beim Einsatz elektronischer Verkehrsbeeinflussungsanlagen um 20 bis 30 Prozent zurückgegangen ist. Das hat auch zur Folge, dass diese flexible Regelung bei den Autofahrern große Akzeptanz erfährt.
Diese Flexibilität erlaubt im Gegensatz zur Anordnung eines starren Tempolimits, dessen Einführung Grüne und Linke heute vorschlagen, die optimale Nutzung der Autobahn. Ein allgemeines Tempolimit ist im Gegensatz zur Anordnung der Geschwindigkeit durch Verkehrsbeeinflussungsanlagen nicht sinnvoll. Es muss alles vermieden werden, wodurch die Attraktivität der sichersten Straße in Deutschland, nämlich der Autobahn, beeinträchtigt werden könnte.
Durch Einführung eines allgemeinen Tempolimits würde diese Attraktivität geschmälert.
Durch die Anordnung eines allgemeinen Tempolimits laufen wir außerdem Gefahr, dass sich ein erheblicher Anteil des Verkehrs auf die Landstraßen verlagert.
Meine Damen und Herren, Landstraßen sind aufgrund des Begegnungsverkehrs besonders gefährlich. Das Risiko, auf einer Landstraße getötet zu werden, ist viermal so hoch, wie es auf der Autobahn ist. Überdies werden Landstraßen mit ihren häufigen Ortsdurchfahrten im Gegensatz zu Bundesautobahnen von schwach motorisierten Verkehrsteilnehmern, von Radfahrern und Fußgängern genutzt.
Eine Verlagerung des Verkehrs von Bundesautobahnen auf Landstraßen würde eine erhebliche Gefährdung aller Verkehrsteilnehmer nach sich ziehen und auf Kosten der Verkehrssicherheit gehen.
Dies alles macht deutlich: Die Anträge der Grünen und der Linken sind nicht durchdacht. Sie sind reiner Aktionismus. Daher lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Vorschläge der Linksfraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zur Einführung eines allgemeinen Tempolimits ab.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Döring das Wort.
Patrick Döring (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin schon überrascht, wie undifferenziert Sie, Herr Kollege Kuhn, versucht haben, Ihren früheren Koalitionspartner hier durch Verwendung falscher Zahlen vorzuführen.
Ich will versuchen, ein wenig sachlicher zu bleiben und die Zahlen zu nennen, die tatsächlich Grundlage einer Debatte zu diesem Thema sein sollten.
Ich habe mich übrigens gefragt, was sich seit dem 20. September dieses Jahres eigentlich geändert hat. An diesem Tag haben wir an dieser Stelle nämlich schon einmal mit den Stimmen der Koalition und der FDP Ihre gleichlautenden Anträge abgelehnt; dass es in dem einen Fall um 120 km/h und in dem anderen Fall um 130 km/h ging, sei einmal übersehen. Damals haben wir in einer, wie ich finde, sehr differenziert geführten Debatte deutlich gemacht, warum wir diese Anträge ablehnen. Es geht nämlich gerade nicht um das Motto ?Freie Fahrt für freie Bürger“,
sondern darum, dass man Tempolimits an Stellen, an denen sie sinnvoll sind, einführen sollte, dass man sie aber dort, wo sie vom Fahrer bzw. vom Nutzer der Straße eher nicht verstanden werden, nicht generell einführen sollte. Generelle Lösungen sind nicht so gut wie ausgefeilte und strukturell richtige Lösungen. Das muss man zur Kenntnis nehmen.
Das kann man auch belegen. Einige Zahlen sind eben schon genannt worden. Ich gebe Ihnen recht, dass wir in Deutschland mit 5 600 Toten zu viele Opfer durch Verkehrsunfälle haben. Wir alle arbeiten gemeinsam daran, das zu ändern. Aber wenn wir uns das genauer anschauen, sehen wir: Weniger als die Hälfte kommt bei Unfällen zu Tode, die durch nicht angepasste Geschwindigkeit verursacht sind. Das ist das Erste, was man zur Kenntnis nehmen muss: Weniger als die Hälfte wird deswegen Opfer im Verkehr, weil der Unfall durch überhöhte Geschwindigkeit zustande kommt, sagt das Kraftfahrt-Bundesamt; dessen Zahlen nehme ich jetzt einmal.
Insofern sind die Hochrechnungen zu Vermeidungspotenzialen absolut falsch. Denn 40 Prozent des Verkehrs finden heute auf Autobahnen statt, und lediglich 12 Prozent der Opfer sind bei Unfällen auf Autobahnen ums Leben gekommen. Das heißt, trotz des massiven Verkehrsanteils der Autobahnen kommen die meisten Menschen auf tempolimitierten Straßen zu Tode, nämlich auf Bundesstraßen und innerorts. Wie hat die SPD-Fraktion zu Recht in ihrem Vermerk zu dem Antrag auf dem Parteitag geschrieben:
Die Gefahr, auf Bundesstraßen oder innerorts zu Tode zu kommen, ist viermal so hoch wie auf Autobahnen. Das war ein Grund, warum die SPD-Fraktion dieses Tempolimit abgelehnt hat.
- Das war der Vermerk Ihrer Fraktion zu dem Antrag auf dem Parteitag im letzten Jahr.
Das zweite Argument, das für ein Tempolimit ins Feld geführt wird, ist die Verringerung der CO2-Emissionen. Ich habe schon in der Debatte am 20. September deutlich gemacht, dass die Zahlen des Umweltbundesamtes widerlegt sind, weil das Amt von zwei falschen Grundannahmen ausgegangen ist. Die erste Annahme, von der das UBA ausgegangen ist, lautet: Alle, die schneller fahren können, fahren auf den 60 Prozent der Strecken, auf denen kein Tempolimit herrscht, auch schneller als 130. Das ist aber, wie wir alle, die wir in Deutschland unterwegs sind, wissen, nicht der Fall. Viele Menschen fahren auch auf nichtlimitierten Strecken nicht schneller als 130, sodass das Minderungspotenzial eine völlig andere Basis hat.
Die zweite Annahme, von der das Umweltbundesamt ausgegangen ist, lautet: Bei einem allgemeinen Tempolimit halten sich auch alle an dieses Tempolimit. Auch das wird durch das, was wir täglich erleben auf deutschen Straßen, widerlegt. Denn dort, wo wir allgemeine Tempolimits haben - auf Bundesstraßen und innerorts -, finden 75 Prozent der Verstöße gegen Tempolimits statt. Nur etwas mehr als 20 Prozent der Verstöße gegen Geschwindigkeitsbeschränkungen finden auf Autobahnen statt. Auch diese Zahlen stammen vom Kraftfahrt-Bundesamt. Das heißt, überall dort, wo den Menschen generelle Lösungen vorgesetzt werden und diese nicht verstanden werden, kommt es nicht zu mehr Verkehrssicherheit und nicht zu weniger Emissionen, sondern zum Gegenteil. Deshalb sind die Anträge wie am 20. September abzulehnen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Jörg Vogelsänger für die SPD-Fraktion.
Jörg Vogelsänger (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant, Herr Kuhn: Im Regierungshandeln ist alles ein bisschen schwieriger. Wir hatten 2000, glaube ich, eine Abstimmung, bei der ich mit dabei war, da hat ein Umweltminister Trittin so einen Antrag abgelehnt. Das muss man sich in Erinnerung rufen.
Herr Trittin kann es ja richtigstellen, wenn ich etwas Falsches sage.
Der Bundesparteitag der SPD in Hamburg wurde von vielen Medien begleitet. Das ist ein gutes Zeichen für meine Partei.
Das Interesse ist auch bei den Mitgliedern des Deutschen Bundestages immer noch sehr groß: Die Grünen und die Linken schreiben einen Antrag nach dem anderen ab und bringen ihn in den Bundestag ein. Besonders kreativ ist das nicht, meine Damen und Herren. Da lobe ich mir die FDP; die hat so etwas nicht nötig.
Die Frage einer Tempobegrenzung auf 130 km/h auf deutschen Autobahnen wird immer sehr emotional diskutiert. Das betrifft Befürworter und Gegner gleichermaßen. Vielleicht ist heute eine gute Gelegenheit für beide Seiten, ein wenig abzurüsten; das täte uns allen gut.
Der Beschluss auf dem Bundesparteitag der SPD wurde in erster Linie unter dem klimapolitischen Aspekt gefasst. Dazu das Zitat:
Ein schneller und unbürokratischer Weg zum Klimaschutz ist die Einführung einer allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h.
Wir als SPD-Fraktion werden die Umsetzung des Beschlusses erörtern, und wir Verkehrspolitiker werden mit unserem Koalitionspartner über ein Verkehrssicherheitspaket beraten. Das gehört sich nun einmal so.
Die Debatte über ein Tempolimit von 130 km/h hat sowohl einen klimapolitischen als auch einen verkehrspolitischen und Verkehrssicherheitsaspekt. Mein Kollege Gerd Friedrich Bollmann ist da ein ausgewiesener Experte und wird einige Ausführungen zum klimapolitischen Aspekt machen. Ich werde mich auf die beiden anderen Bereiche konzentrieren.
Es bleibt dabei: Die Autobahnen sind die sichersten Straßen in Deutschland. Das sollte man hier auch nicht wegreden. Aufgrund des Parteitagsbeschlusses haben wir zu prüfen, ob man diese noch sicherer machen kann. Das werden wir auch tun. Dabei ist das Tempolimit von 130 km/h nur ein Aspekt. Ich bin der festen Überzeugung, dass durch die Erweiterung der Verkehrsbeeinflussungsanlagen mit flexiblen Geschwindigkeitsregelungen ein großer Beitrag geleistet werden kann. Darin gibt es Übereinstimmung hier im Haus. Damit habe ich auch gar kein Problem. Das hat auch für mich weiterhin eine hohe Priorität.
Wenn der Autofahrer nachvollziehen kann, warum eine bestimmte Höchstgeschwindigkeit vorgeschrieben ist, dann wird er sich auch stärker daran halten. Das ist so. Unvernünftige Autofahrer wird es immer geben.
Hier müssen Kontrollen greifen. Auch wenn das nicht flächendeckend möglich ist, sind die Bundesländer in besonderer Pflicht. Leider wird in den meisten Bundesländern bei der Polizei eher Personal abgebaut. Das betrifft übrigens Landesregierungen jeder Farbe. Wenn mir andere Beispiele genannt würden, wäre ich froh.
Im Übrigen muss das Gespräch mit den Ländern ohnehin gesucht werden. Die Einführung des Tempolimits von 130 km/h erfordert eine Änderung des § 3 der Straßenverkehrsordnung. Dies ist nach meiner Kenntnis im Bundesrat zustimmungspflichtig.
Die Debatte über ein Tempolimit von 130 km/h könnte versachlicht werden, wenn neues Datenmaterial zur Verfügung gestellt würde. Ich habe heute früh um 7.30 Uhr - es wird also früh gearbeitet - ein Gespräch dazu mit dem Brandenburger Verkehrsminister geführt. Das Datenmaterial wird nicht von heute auf morgen vorliegen, aber wir sollten das Bundesamt für Straßenverkehr beauftragen, neues Datenmaterial zusammenzustellen, damit wir diese Debatte noch sachlicher führen können. Das Material ist vielfach über ein Jahrzehnt alt. Das muss man hier einfach sagen.
Ich habe mir den § 3 der Straßenverkehrsordnung noch einmal genau angesehen. Eine denkbare Sofortmaßnahme wäre die Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit für Kleintransporter von 2,8 bis 3,5 Tonnen.
Darüber muss man auch debattieren. Gerade diese Fahrzeuggruppe ist zunehmend in schwerste Verkehrsunfälle verwickelt. Ich kann Ihnen hierzu Beispiele aus meinem Wahlkreis nennen.
Eine andere Möglichkeit wäre es, die Entwicklung des Unfallgeschehens bei dieser Fahrzeuggruppe über die Bundesanstalt für Straßenwesen zu beobachten. Vielleicht könnte dies zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen.
Dies wünsche ich mir auch in den Ausschüssen, wobei ich neben einer Debatte im Verkehrsausschuss und im Umweltausschuss auch eine Debatte im Rechtsausschuss anrege.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Lutz Heilmann das Wort.
Lutz Heilmann (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Leider vermisse ich bei unserer Debatte über das Tempolimit den zuständigen Fachminister. Auch dies zeigt ganz einfach wieder, welchen Stellenwert Herr Tiefensee dieser Problematik offensichtlich zumisst. Auch der des Weiteren mit diesem Thema befasste Umweltminister Gabriel lässt sich durch einen Staatssekretär vertreten.
Daran sieht man, wie ernst die Bundesregierung die Klimadebatte nimmt.
Herr Storjohann, ich danke Ihnen für Ihre Zusammenstellung der Geschichte der Diskussion im Deutschen Bundestag über ein Tempolimit. Ich komme allerdings zu einem anderen Ergebnis: Ein Tempolimit steht auch weiterhin auf der Tagesordnung, und es wird demnächst kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Tempolimit ist in dieser Wahlperiode ein Dauerbrenner im Bundestag, und zwar zu Recht. Die letzte Debatte ist noch nicht so lange her; sie fand am 20. September statt, Herr Döring erwähnte sie auch. In dieser Debatte haben CDU/CSU, SPD und FDP wortreich erklärt - heute haben sie alles wiederholt -,
warum Deutschland kein allgemeines Tempolimit braucht. Die vorgebrachten Argumente sind allerdings so wenig überzeugend, dass ich es mir erspare, erneut darauf einzugehen.
Aber dann kam vor zwei Wochen die Kehrtwende bei der SPD.
Auf ihrem Parteitag fasste sie den Beschluss, den der Kollege Vogelsänger heute schon zitierte. Dazu kann ich nur sagen: Donnerwetter! Mit diesem Beschluss nähert sich die SPD übrigens zumindest im Bereich der Verkehrspolitik der Linken an.
Sie zeigen damit, dass Sie lernfähig sind, und Sie arbeiten daran, für die Linke koalitionsfähig zu werden. Wir stehen gewissermaßen gemeinsam erstens für Klimaschutz und CO2-Reduzierung, zweitens für Verkehrssicherheit, weniger Verkehrsunfälle und Verkehrstote und drittens für kleinere und sparsamere Fahrzeuge.
Aber machen wir uns keine Illusionen! Herr Tiefensee, der jetzt nicht anwesend ist, ließ als zuständiger Fachminister kürzlich verlautbaren: ?Tempolimit für Klimaschutz nutzlos“. Ja, was denn nun, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD? Ich will Ihnen jetzt nicht zu nahe treten; aber Sie sollten vielleicht ganz einfach einmal darüber nachdenken, ob dieser Minister wirklich der richtige Mann ist, die Linie der Partei in der Regierung zu vertreten;
denn nicht nur beim Tempolimit, auch beim geplanten Verkauf von Anteilen der Bahn und bei der Besteuerung von Dienstwagen liegt der Minister nicht nur neben unserer Linie, sondern auch neben der seiner eigenen Partei. Davon einmal abgesehen, wäre es doch eine Revolution gewesen, wenn in unserem gelobten Land des Geschwindigkeitswahns der Verkehrsminister ein Tempolimit gefordert hätte. Aber Pustekuchen!
Sehr bedauerlich ist auch, dass selbst der Umweltminister, der sich heute ebenfalls nur vertreten lässt, in diesen Kanon einstimmt. Erst befürwortet er ein Tempolimit, um es wenige Wochen später abzulehnen.
Jetzt beginnt er ganz zaghaft, wieder eines zu fordern. Ich zitiere ihn: Wer ein Tempolimit allein zur Begrenzung des Kohlendioxidausstoßes befürworte, laufe Gefahr, sich in unnötigen Debatten zu verzetteln. Ich denke, der Minister hat sich hier wohl eher beim Basteln an seiner Karriere verzettelt, wenn ich die letzten Nachrichten richtig verstanden habe.
Konsequenterweise wurde der Antrag auf dem SPD-Parteitag gegen die ausdrückliche Empfehlung des Ministers beschlossen.
Ich kann den Ministern Tiefensee und Gabriel nur sagen: Selbstverständlich dient ein Tempolimit sowohl dem Klimaschutz als auch der Verkehrssicherheit. Ich bin der Meinung, dass sich Deutschland endlich zu einer Vision Zero bekennen sollte; denn jeder und jede Verkehrstote sind einer und eine zu viel.
Von daher ist es natürlich schon verwunderlich, dass sich das Verkehrsministerium für dieses Thema nicht erwärmen kann. Dort scheint man eher der Meinung zu sein, dass großflächige Plakate - wahlweise mit Tieren oder mit Prominenten - wirksamer als ein Tempolimit sind.
Da ich gerade bei Tieren bin, stelle ich eine Frage an Herrn Gabriel, die Sie, Herr Staatssekretär, an ihn weitergeben können: Was sagt eigentlich Knut im Berliner Zoo zum Tempolimit? Hat nicht das Umweltministerium vor zwei Tagen mit sehr viel Wirbel die nationale Biodiversitätsstrategie verabschiedet, die nach den eigenen Aussagen des Ministers über 300 Zielvorgaben enthält? Aber Sie streben mit dieser Strategie nur Sachen an; verpflichten wollen Sie sich zu nichts.
Ich freue mich jedenfalls, der SPD und besonders dem Umweltminister mitteilen zu können, dass wir die Bedeutung der Verkehrssicherheit in unserem Antrag selbstverständlich berücksichtigt haben. Wenn also nur der fehlende Bezug zur Verkehrssicherheit im Beschluss der SPD der Grund für dessen Ablehnung war, dann steht Ihrer Zustimmung zu unserem Antrag nichts im Wege.
Ein Wort möchte ich noch an meine Kollegin aus Lübeck, Frau Hiller-Ohm, richten. Sie ist heute leider nicht hier. Ich bedauere das sehr, da sie sich erst letzte Woche in einer Pressemitteilung im Wahlkreis Lübeck vehement für ein Tempolimit ausgesprochen hat und sehr engagiert dafür kämpft. Ich habe sie auch am 20. September bei der Abstimmung über unseren damaligen Antrag vermisst. Ich sage ihr trotzdem - sie verfolgt die Sitzung vielleicht am Fernsehgerät -: Frau Kollegin, lassen Sie Ihren Ankündigungen und Pressemitteilungen endlich Taten hier in Berlin folgen! Oder sind Sie tatsächlich der Meinung, dass die Menschen in Lübeck das nicht mitbekommen? Die Kollegin Heidi Wright war da wesentlich konsequenter. Sie hat unermüdlich für ein Tempolimit gestritten. Dafür gebührt ihr mein Respekt und meine Hochachtung.
Bevor hier die Freude auf der rechten Seite überhandnimmt, möchte ich ein paar Worte an die CDU/CSU richten. Angela Merkel lässt sich gerne landauf, landab als Klimaschützerin feiern.
Was die internationalen Beschlüsse angeht, erkennen wir auch an, dass es Fortschritte gibt. Auf nationaler Ebene sieht die Bilanz aber sehr dürftig aus. Das vor wenigen Wochen mit großem Tamtam verkündete Klima- und Energiepaket droht im Dschungel der Ressortabstimmung vom Tiger zum Bettvorleger zu mutieren. Mit ihrer eindeutigen Absage an ein Tempolimit - ich zitiere: ?Mit mir wird es das nicht geben“ - hat Frau Merkel gezeigt, dass es ihr mit dem Klimaschutz nicht ernst ist.
Ähnlich verhielt sie sich Anfang des Jahres, als sie die deutsche Autoindustrie vor allzu strengen Anforderungen der EU geschützt hat. Das Wohl der Industrie ist ihr wichtiger als das Wohl der Menschen und der Schutz des Klimas.
Auf internationaler Ebene Gas geben, aber zuhause auf der Bremse stehen: Das passt nicht zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union.
In meiner letzten Rede zum Tempolimit erwähnte ich, dass die Mehrheit der Deutschen den Börsengang der Bahn ablehnt. Das Protokoll verzeichnet daraufhin ?Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU“. Verständlicherweise verzeichnet es keinen Beifall von Ihnen, als ich darauf hinwies, dass 73 Prozent der Deutschen ein Tempolimit befürworten. Verstehen Sie mich richtig: Ich erwarte nicht, dass ausgerechnet Sie mir Beifall klatschen. Das würde mir, nebenbei bemerkt, auch zu denken geben. Sie sollten aber zur Kenntnis nehmen, dass auch 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler der CDU/CSU für ein Tempolimit von 130 Stundenkilometer sind. Ich frage mich, wer diese Menschen in Ihrer Fraktion vertritt.
Abschließend erinnere ich Sie und alle, die sich - aus welchen Gründen auch immer - gegen ein Tempolimit aussprechen, an das heutige Datum. Heute vor 18 Jahren fiel zu Recht die Mauer. Was kurz davor noch fast undenkbar schien, wurde Realität. Ich hoffe, dass Sie sich heute einen Ruck geben, damit auch beim Tempolimit das Undenkbare geschieht und die Mauer in Ihren Köpfen fällt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche ein schönes Wochenende.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Andreas Scheuer das Wort.
Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Heilmann, dass Sie als Führungskraft in der DDR hier diesen symbolträchtigen Tag in Bezug auf die Wiedervereinigung ansprechen, zeigt, wie schizophren Ihre Politik ist. Denn in der Republik des Trabis fanden keine Diskussionen über Verkehrssicherheit oder Klimaschutz und sicherlich auch nicht über ein Tempolimit statt.
Das zeigt die Doppeldeutigkeit, mit der Sie Politik machen.
Die Anträge der Grünen und der Linken zum Tempolimit sind heute wieder einmal Symbolpolitik, reine Ideologie und parlamentarische Bewegungstherapie. Mein Kollege Storjohann hat Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Grünen, schon den Spiegel Ihrer politischen Geschichte in Bezug auf das Tempolimit vorgehalten. Sie waren sieben Jahre in der Regierung. Gott sei Dank waren Sie so durchsetzungsschwach, dass Sie das Tempolimit nicht auf den Weg gebracht haben.
Da der Herr Kollege Trittin vorhin mit Zwischenrufen geglänzt hat, möchte ich ihn fragen, wie oft er früher wohl unter Termindruck unterwegs war. Wenn er mit dem Dienstwagen
- und der Flugbereitschaft; danke für den Hinweis, Herr Kollege Koppelin - durch die Republik gereist ist, wird er sich wahrscheinlich auch nicht an die Richtgeschwindigkeit gehalten haben.
Aber das ist die Scheinheiligkeit, mit der hier zu Werke gegangen wird.
Ohne die Steilvorlage, die der Kollege Kuhn für seine heutige Rede bekommen hat, hätte er die Rede wahrscheinlich gar nicht halten können, weil sie dann kein Volumen gehabt hätte. Ein einziger Presseartikel zum Bereich Tempolimit ist die Grundlage für seine ganzen Ausführungen. Aber das Thema ist vielschichtiger.
Wir diskutieren hier zum zweiten Mal binnen weniger Monate darüber. Erst musste der SPD-Parteitag stattfinden, damit die Opposition aus Grünen und Linken reflexartig aus dem Oppositionsschlaf erwacht und das Thema aufgreift. Aber die Grundlage der Debatte sind wieder Verbote und Limits. Ihnen fällt nichts anderes ein, vor allem nicht, Politik auf der Basis von Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung zu machen. Vielleicht wird das Ganze noch darin gipfeln, dass Sie wegen dem Ausstoß von Treibhausgasen ein Weideverbot für Kühe beantragen, verbunden mit einem Arbeitsverbot für Landwirte.
Wir haben attraktive Autobahnen. Sie wollen durch solche Diskussionen diese Autobahnen in ihrer verkehrspolitischen Bedeutung degradieren,
sie unattraktiver machen und durch das Tempolimit Ausweichverkehre ermöglichen. Schauen Sie sich einmal die Unfallzahlen an. Wir arbeiten als Verkehrspolitiker wirklich hart daran, die Vision Zero zu erfüllen, die Zahl der Unfälle und der Verkehrstoten weiter zu reduzieren, weitere Verbesserungen in Europa zu erreichen. Sie können deutsche Autobahnen einfach nicht mit Autobahnen in Italien, zum Beispiel über den Brenner, vergleichen, die viel enger und kurvenreicher sind. Auf unseren älteren Autobahnen haben wir ohnehin schon ein Tempolimit,
eine Verkehrsregelung, die dieser Autobahnsituation angemessen ist.
Dort, wo die Richtgeschwindigkeit gilt und wo es keine Limitierung gibt, hat man die Möglichkeit, den Verkehr zu beschleunigen und die Mobilität zu erhöhen. Angesichts der Zahl der Verkehrstoten sind wir uns alle einig, dass wir weiterhin an der Reduzierung dieser Zahl arbeiten müssen. Wenn wir aber die Zahlen von Deutschland mit denen von Belgien, Österreich, Slowenien, Tschechien oder den USA vergleichen, dann schneidet Deutschland - auch ohne Tempolimit - viel besser ab.
Da ist also kein Zusammenhang festzustellen.
Meine Damen und Herren, bezogen auf den Gesamtkraftstoffausstoß ist es sehr optimistisch gerechnet, dass der Ausstoß durch ein Tempolimit um 1,4 Prozent reduziert werden würde. Das Tempolimit würde allerdings zu einer unverhältnismäßig massiven Gängelung der Bürgerinnen und Bürger führen. Das halte ich für falsch. Umwelt- und Klimaschutz dürfen nicht reflexartig und blindwütig gemacht werden, sondern müssen sich an Realität und Vernunft anpassen.
Bezogen auf Verkehrssicherheit und Klimaschutz ist ein Tempolimit die falsche Antwort.
Das Tempolimit ist unsinnig in Bezug auf die Verkehrssicherheit, mobilitätspolitisch nachteilig und geht umweltpolitisch ins Leere. Führen wir doch lieber Verkehrssicherheitstrainings mit einem Spritsparmodul durch, vielleicht sogar verpflichtend.
Es wird alles Mögliche angeboten, auch intelligente Verkehrsleitsysteme, die flexibel und innovativ sind. Setzen wir uns an die Spitze der Bewegung, damit wir in Europa mit diesen Verkehrsleitsystemen weiterhin Marktführer sind!
Ein Appell an die Medien zu der Raserdarstellung. Frau Kollegin Künast, Sie machen ja immer die Andeutung, dass die unbeschränkte Geschwindigkeit gerade für Männer wichtig sei, quasi als Potenzmittel.
Es ist wirklich schäbig, wenn Sie so argumentieren. Denn die Berichte in den Medien über Raser, die mit einem großen Wagen durch das Land fahren und dabei ständig Gas geben, sich also unter dem Aspekt der Verkehrssicherheit unvernünftig verhalten, zeichnen kein vollständiges Bild der Realität. Sehr viele Bürgerinnen und Bürger halten sich an die Richtgeschwindigkeit. Die Durchschnittsgeschwindigkeit liegt unter 100 km/h, bezogen auf alle Straßen. Wir sollten ausreichend Kraft haben und auf die Eigenverantwortung und die Freiwilligkeit der Bürger setzen, anstatt ständig zu gängeln und mit Verboten zu drohen.
Hätten wir bereits ein generelles Tempolimit, wäre das Autoland Deutschland definitiv nicht an der Spitze bei intelligenten Verkehrssicherheitssystemen.
Schauen Sie sich die Zahlen in den USA an! Bei der dortigen Produktion der großen Klimaschutzkiller orientiert man sich gar nicht an Verkehrssicherheitsaspekten. Wir sind an der Spitze der Bewegung für Innovation und Klimaschutz. Wir müssen die deutsche Automobilindustrie weiterhin auf diesem Weg unterstützen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Dr. Anton Hofreiter das Wort.
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Andi, tut mir leid, aber das war unfreiwillig komisch.
Der Vorwurf der Potenzraser hat dich anscheinend so schwer getroffen, dass du dich rechtfertigen musstest. Das ist hoffentlich nicht das Bild von Bayern.
Zurück zur Ernsthaftigkeit, denn es handelt sich um ein ernstes Problem. Die Regierung spricht gerne über den Klimaschutz und die Sicherung der Mobilität der Bürger. Aber unsere Aussitzkanzlerin Merkel und die traurigen Ankündigungsminister Gabriel und Tiefensee sind noch nicht einmal in der Lage, ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen.
Dabei würde ein Tempolimit CO2 in der Größenordnung des Ausstoßes eines durchschnittlichen Kohlekraftwerkes einsparen sowie die Zahl der Toten und Schwerverletzten reduzieren. Wir behaupten sicherlich nicht, dass allein ein Tempolimit als Klimaschutzstrategie ausreicht. Aber es ist ein wichtiger Baustein.
Angesichts der sinkenden Rohölvorräte gefährdet Ihre Verkehrspolitik, insbesondere die Ihres traurigen Verkehrsministers, die Mobilität der Bürger. Ihnen liegt offensichtlich nur etwas an der Mobilität für wenige Raser und Drängler. Ein Beispiel: Ein Porsche Cayenne verbraucht in der Spitze fast 70 Liter auf 100 Kilometer. Das wollen Sie weiter zulassen. Das ist ein Skandal.
So populistisch wie Sie von der CDU/CSU normalerweise sind, lassen Sie sich sagen: Die Mehrheit der Bürger ist mittlerweile für ein Tempolimit.
Im Bereich der Verkehrssicherheit ist die Nichteinführung eines Tempolimits ein Skandal. Gestern wurde bekannt, dass die Bundesanstalt für Straßenwesen bereits 1984 geschätzt hat, dass die Zahl der Toten durch ein Tempolimit um 20 Prozent reduziert werden könnte. Aber wie haben alle roten und schwarzen Verkehrsminister bis heute reagiert? Statt ein Tempolimit einzuführen, haben sie diese Studie weggeschlossen und der BASt weitere Untersuchungen verboten. Angesichts von 600 Toten sollten sie sich schämen.
Die SPD beschließt auf ihren Parteitagen immer dann ein Tempolimit, wenn sie nicht an der Macht ist.
- Ich habe gesagt: nicht an der Macht. Sie mögen an der Regierung beteiligt sein. Aber angesichts Ihrer traurigen Ergebnisse muss man sagen, dass Sie nicht an der Macht sind.
Es wird uns vorgeworfen, dass wir damals, als wir mit 8 Prozent an der Regierung und der Macht beteiligt waren, kein Tempolimit eingeführt haben. Im Vergleich zu Ihren traurigen Ergebnissen in dieser Regierung waren wir grandios, sogar mehr als das.
Angesichts dieser Tatsachen kann man der Mehrheit dieses Hauses nur eines sagen: Verabschieden Sie sich aus der verkehrspolitischen Steinzeit und führen Sie genauso wie alle anderen kultivierten Nationen ein Tempolimit für entspanntes Fahren, mehr Sicherheit und mehr Klimaschutz ein.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Gerd Bollmann.
Gerd Bollmann (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme ein Ergebnis meiner Rede gleich vorweg: Sie von den Fraktionen der Grünen und der Linken wissen ganz genau, dass wir von der Koalition Ihren Anträgen nicht zustimmen werden, so richtig sie auch sein mögen. In der rot-grünen Koalition mussten Sie und wir ähnliche Erfahrungen machen; gegen den Willen des Koalitionspartners wird nicht gestimmt. Ich würde mich auch wundern, wenn im Berliner Senat die Parteitagsbeschlüsse der Linken eins zu eins umgesetzt würden.
Von Vorführen kann hier absolut nicht die Rede sein.
Aber in der Sache gebe ich Ihnen weitgehend recht. Ich bin froh, dass das Thema durch den SPD-Parteitagsbeschluss wieder Fahrt aufgenommen hat.
Wenn der Parlamentarische Geschäftsführer der Union erklärt, in dem Parteitagsbeschluss der SPD erkenne er eine ideologisch linke Bevormundungspolitik, so muss erstaunt festgestellt werden, dass es offensichtlich auch in den USA diese linke Bevormundungspolitik gibt.
Darüber hinaus: Außer in Nepal, Uganda und auf der Isle of Man hat diese linke Bevormundungspolitik offensichtlich weltweit Platz ergriffen.
In Europa ist Deutschland das letzte Land, das sich den Luxus erlaubt, auf ein Tempolimit zu verzichten. In allen europäischen Ländern liegen die Begrenzungen zwischen 90 und 130 Kilometern pro Stunde. Für ein Land, dem in der Klimafrage eine Führungsrolle zugerechnet wird, ist dies meiner Meinung nach unglaubwürdig.
Daher gilt: Ein guter Grund, der für das Tempolimit spricht, ist der Umweltschutz. Der Ausstoß von Treibhausgasen ließe sich pro Jahr um mehr als 2,5 Millionen Tonnen CO2 reduzieren. Das ist ein Wert, der zu einer Zeit ermittelt wurde, als die Zahl der Kraftfahrzeuge und deren Leistung deutlich geringer waren. Seit 1992 erhöhte sich die Zahl der zugelassenen Kfz von 36 Millionen auf 55 Millionen, das ist eine Steigerung um mehr als 50 Prozent. Wir können also gut und gerne davon ausgehen, dass die Einsparungen deutlich höher wären. Es ist unverständlich, dass bis heute keine neuen Zahlen ermittelt wurden.
Ein Tempolimit wäre eine der wenigen Maßnahmen, die ohne jegliche Anlauf- und Investitionskosten durchzuführen wären. Die erreichten CO2-Einsparungen lassen sich trotz aller Versuche nicht kleinreden.
Das energetische Gebäudesanierungsprogramm ist sicherlich in hohem Maße lobenswert, nicht nur allein wegen der vielen Arbeitsplätze, die dadurch geschaffen wurden. Aber warum ist eine Einsparung von 1 Million Tonnen CO2 bei der Gebäudesanierung und einem Einsatz von 1 Milliarde Euro viel, wenn eine Einsparung von 2,5 Millionen Tonnen CO2 beim Tempolimit wenig sein soll?
Das Energie- und Klimaschutzprogramm, das in Meseberg beschlossen wurde, soll unter Berücksichtigung bisheriger Maßnahmen für CO2-Einsparungen in Höhe von 36 Prozent gut sein. Wir brauchen aber 40 Prozent. Das Tempolimit wäre ein weiterer, wenn auch vielleicht kleiner Schritt hin zu diesem Ziel.
Oder anders und pragmatisch von Brandenburgs Verkehrsminister Dellmann ausgedrückt: Auch Kleinvieh macht Mist. -
Es wären keine komplizierten Verordnungen mit ellenlangen Anhängen nötig. Das zuständige Ministerium müsste nicht ganze Abteilungen allein mit der Frage der Durchsetzung beschäftigen, wie es vielfach bei anderen, technisch hochkomplizierten Punkten des Klimaschutzprogramms der Fall ist. Aber der Umweltschutz geht bekanntlich über den Schutz des Klimas hinaus. So ließe sich zum Beispiel auch der Ausstoß von Kohlenmonoxid und anderen Schadstoffen reduzieren, und nicht zuletzt würde auch die Lärmbelästigung abnehmen. Im Übrigen steigt der Schadstoffausstoß ab 130 Stundenkilometern exponentiell an.
Die Gegner eines Tempolimits führen gerne den Verlust von Arbeitsplätzen in der deutschen Automobilindustrie ins Feld. Ich weiß natürlich, dass der Verlust von Arbeitsplätzen gern als Totschlagargument für alles Mögliche missbraucht wird. Circa 75 Prozent der in Deutschland produzierten Autos werden ins Ausland geliefert, und zwar nachweislich nahezu vollständig in Länder, in denen ein Tempolimit gilt. Der größte Teil der außereuropäischen Lieferungen geht mit mehr als einer halben Million Autos in die USA. Glauben Sie zum Beispiel, dass viele dieser Käufer in den Vereinigten Staaten wirklich wissen, dass wir in Deutschland immer noch mit 200 Stundenkilometern über die Autobahn brettern dürfen? Glauben Sie wirklich, wir verkauften auch nur ein einziges Auto weniger, wenn in Deutschland ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern eingeführt wird?
Was die Zukunft der Automobilindustrie betrifft: Ein Tempolimit würde die Entwicklungsbemühungen in fruchtbare Bahnen lenken. Nicht mehr die Leistungsstärke wäre ausschlaggebend, sondern Umweltverträglichkeit, Komfort und Sicherheit wären die Kriterien, an denen sich die Ingenieure messen lassen müssten. Es gibt gar kein besseres Mittel, die Zukunftsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie und somit Arbeitsplätze zu sichern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wir Sozialdemokraten nehmen das Thema ?Tempolimit“ sehr ernst. Anträge, in denen die schnellstmögliche oder die sofortige Einführung gefordert werden, bringen uns aber nicht weiter, sondern schaden eher der gemeinsamen Sache. Ich bin sicher: Gute Argumente - ich bin überzeugt, dass sie eindeutig aufseiten der Befürworter eines Tempolimits sind - werden in Zukunft immer mehr Menschen von der Notwendigkeit eines Tempolimits überzeugen. Lassen Sie uns deshalb auch im politischen Alltag das gemeinsame Ziel nicht aus den Augen verlieren!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich für die FDP-Fraktion.
Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Abgeordneter, der diesem Hause schon ein bisschen länger angehört, habe ich einmal im Archiv gestöbert und festgestellt, dass ich vor ziemlich genau 16 Jahren meine erste Rede zum Thema ?Tempolimit“ gehalten habe. Damals war die SPD in der Opposition, auch die Linken, vertreten unter anderem durch die Abteilung Bündnis 90, und es gab eine übereinstimmende Argumentation für ein Tempolimit. Die seitdem diskutierten Fakten haben sich nicht verändert.
Erstens. Mich fasziniert, Herr Kollege Hofreiter, dass Sie es trotz Ihres Appells, die verkehrspolitische Steinzeit zu verlassen, in der Phase von 1998 bis 2005 - damals haben Sie mit den Kollegen von der SPD offensichtlich die Grundüberzeugung geteilt, dass es besser ist, nicht für ein Tempolimit einzutreten - nicht geschafft haben, ein Tempolimit einzuführen. Entweder haben die Kollegen von der SPD ihre Anträge bis 1998 nicht wirklich ernst gemeint, oder Sie haben nicht nachhaltig versucht, das Ganze umzusetzen. Ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit würde Ihren Anträgen schon guttun.
Sie stellen diese Anträge immer dann, wenn es dafür keine Mehrheit gibt. Aber wenn Sie dafür eine Mehrheit hätten - sieben Jahre hatten Sie dafür Zeit; in dieser Phase ist von Ihnen kein einziger Antrag gestellt worden -, stellen Sie sie nicht. Das macht Sie nicht glaubwürdiger.
Zweitens. Herr Kollege Bollmann, Sie argumentieren auf der Basis von 1992 und stellen die Hochrechnung an, dass mit einem Ansteigen der Anzahl der Pkws auch die Ersparnis größer wird. Sie sollten wenigstens zur Kenntnis nehmen, dass sich auch die Motortechnologie verändert hat, und zwar zum Positiven. Deswegen ist ein schlichtes Hochrechnen auf der Basis von 1992 nicht nachvollziehbar.
- Sie haben es gerade vorgerechnet. Ich habe Ihrer Rede doch zugehört. - Dieser Punkt ist, wie gesagt, aus meiner Sicht nicht ganz nachvollziehbar.
Im Übrigen vergessen Sie hier offensichtlich, dass auf den Autobahnen in Deutschland weder eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 130 noch von 150 Stundenkilometern oder noch schneller gefahren wird. Das ist aus Gründen der Dichte überhaupt nicht mehr möglich. Da Sie aus Wanne-Eickel kommen und in der Nähe des Kölner Rings wohnen, müssten Sie eigentlich wissen, worum es geht.
Ich bin im Übrigen gespannt, ob Sie mir wirklich einmal eine Autobahn zeigen können, auf der man noch ungestört 200 km/h fahren kann, wenn man es denn will. Es kann ja sein, dass das morgens um 3 Uhr irgendwo auf der A 20 möglich ist, aber Realität ist es auf deutschen Autobahnen nicht.
- Herr Kollege Kelber, weder in der Opposition noch in der Regierung haben Sie einen Antrag für ein starres Tempolimit gestellt. Sie versuchen jetzt, mit einer festen Reglementierung - unabhängig von der Situation - ein Problem zu lösen, das Sie damit nicht lösen können.
Wir sind schon immer für intelligente Verkehrsleitsysteme gewesen.
- Frau Kollegin Wright, Ihre geschätzte Kollegin Ferner hat, als sie noch verkehrspolitische Sprecherin Ihrer Fraktion war, alle Anträge der damaligen Koalitionsfraktionen von Union und FDP zum Thema Telematik und intelligente Verkehrsleitsysteme abgelehnt. Sie hat geglaubt, uns mit Vorschlägen aus der Steinzeit - dazu gehörte beispielsweise das Aufstellen von Schildern - übertrumpfen zu können.
- Ich orientiere mich nur an Ihrem Kollegen Hofreiter, der von verkehrspolitischer Steinzeit gesprochen hat. Wenn es eine verkehrspolitische Steinzeit gegeben hat, hat es wahrscheinlich auch dementsprechende Schilder gegeben, ganz zu schweigen davon, dass die Schilder aufgestellt und gepflegt werden müssen, was Geld kostet.
Vor diesem Hintergrund ist es völlig eindeutig, dass Sie diesen Antrag heute nur gestellt haben, um die SPD zu ärgern. Das kann man als FDP gerade noch akzeptieren.
Das wird aber den Themen Unfallsicherheit, Todesrate auf Autobahnen und Erhöhung der Akzeptanz von Vorschriften nicht gerecht.
Ihrer Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die Durchsetzbarkeit von Anträgen im Falle einer Regierungsbeteiligung haben Sie erst recht keinen Gefallen getan.
Es bleibt wieder nur bei Schauanträgen, die nicht ernst gemeint sind. Vielleicht sollten wir uns irgendwann einmal ernsthaft über die Lösung der Probleme unterhalten und gemeinsam darüber nachdenken, wie wir die Verkehrssicherheit in Deutschland über das Niveau hinaus, das wir jetzt schon haben, weiter verbessern können.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Fraktion der CDU/CSU hat nun der Kollege Dirk Fischer das Wort.
Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland braucht kein Tempolimit.
Die Debatte darüber ist alt. Unsere Fraktion hat ein starres Tempolimit auf Autobahnen immer abgelehnt, und zwar aus guten Gründen.
Fakt ist, dass die deutschen Autobahnen die bei weitem sichersten Straßen sind, um die wir weltweit beneidet werden. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen einem generellen Tempolimit und dem Sicherheitsniveau auf Autobahnen im internationalen Vergleich. Im Gegenteil: Unsere Maßnahmen sind viel erfolgreicher gewesen als die anderer Länder, die ein starres Tempolimit haben.
Was wirkt hier zusammen? Es sind: Verkehrsleitsysteme, die aktuelle Informationen über die jeweils angepasste Geschwindigkeit im Sinne von § 1 der Straßenverkehrs-Ordnung liefern; spezielle Geschwindigkeitsbeschränkungen, die es auf Autobahnen zahlreich gibt; ein guter Straßenbau, im Hinblick auf die gesamte Verkehrssicherheitsbilanz ist insbesondere der Bau von Ortsumgehungen hervorzuheben, wodurch der Schwerlastverkehr aus den geschlossenen Ortslagen herausgehalten wird; Aufklärung und Erziehung in der Fahrschulausbildung und danach; die hohe Qualität unserer Kfz, die sich positiv auf Sicherheit und Umwelt auswirkt.
Ein starres Tempolimit würde zu Rückverlagerungen des Verkehrs von den Autobahnen auf die Landstraßen führen, die oftmals noch durch geschlossene Ortschaften führen. Damit würden wir unserer Verkehrsunfallbilanz einen Tort antun, denn diese Landstraßen und insbesondere die innerörtlichen Straßen sind die gefährlichsten Straßen, die wir in Deutschland haben.
Es ist schon gesagt worden, dass der Fahrleistungsanteil auf Landstraßen 40 Prozent beträgt, sich dort aber 60 Prozent aller tragischen Unfälle mit Todesfolge ereignen, obwohl es ein starres Tempolimit von 100 km/h gibt. Das ist fast viermal so viel wie auf unseren Autobahnen.
Das wäre ein ganz schlechter Abschlag. Das würden wir mit der Verschlechterung unserer Verkehrsunfallbilanz teuer bezahlen.
Man muss einmal daran erinnern: Wir hatten 1970 ohne die neuen Bundesländer, also mit einer um etwa 20 Prozent geringeren Fläche und Bevölkerung, fast 20 000 Verkehrstote. Heute liegt die Zahl leicht oberhalb von 5 000. Das ist eine gute Entwicklung, die wir weiterführen wollen, weil jedes Leben wertvoll ist und geschützt werden muss.
Wir müssen aber alles dafür tun, dass der Verkehr gebündelt da abgewickelt wird, wo das am sichersten ist, und das ist nun eindeutig auf den Autobahnen der Fall.
Auch für den Umwelt- und Klimaschutz ergeben sich keine signifikanten Verbesserungen durch ein Tempolimit. Der Pkw-Verkehr ist an den CO2-Emissionen in Deutschland mit ungefähr 12 Prozent beteiligt. Ein generelles Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen beträfe nur einen begrenzten Anteil des Verkehrs,
nämlich nur den Autobahnverkehr, wo auf einem Anteil von rund 5 Prozent unseres gesamten Straßennetzes sensationelle 32 Prozent unseres gesamten Kfz-Verkehrs abgewickelt werden - sensationelle Bündelung! -, von diesem wiederum nur den Pkw-Verkehr und davon nur den Anteil Fahrleistung oberhalb 130 km/h.
Zudem sind heute bereits knapp 40 Prozent des Autobahnnetzes dauerhaft oder zeitweise geschwindigkeitsbeschränkt. Auf weiteren 9 Prozent des Netzes erfolgt eine Geschwindigkeitsregelung über Verkehrsbeeinflussungsanlagen. Es ist schon gesagt worden: Mit unserem Haushaltsantrag wollen wir diesen Anteil möglichst zügig deutlich erhöhen.
Der Bundesumweltminister hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es hier eher um eine Symbolpolitik geht; denn der Mehrverbrauch, der sich aus dem Nichtvorhandensein eines starren Tempolimits auf Autobahnen ergibt, beträgt etwa 250 Millionen Liter Kraftstoff im Jahr. Das sind rund 0,4 Prozent; bei der CO2-Emission ist das deutlich unter 1 Prozent.
Wenn man dies so zuspitzt, als würden das Heil und das Wohl des Landes davon abhängen, dann ist das, gelinde gesagt, eine zu große Übertreibung, als dass man sie ernst nehmen könnte.
Wenn überhaupt, geht es hierbei um einen marginalen CO2-Effekt.
Gleiches gilt für den Bereich der Lärmemissionen. Autobahnen sind hauptsächlich außerorts gelegen. Führen sie durch Wohngebiete, haben wir heute dort eigentlich überall Tempolimits in Deutschland.
Allgemein gilt, dass der Lkw-Anteil am Verkehr die Höhe des Lärmpegels bestimmt; denn 10 Lkw erzeugen so viel Lärm wie 100 Pkw. Das kann es also auch nicht sein.
Umweltpolitisch wird hier eindeutig mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Statt starrer Verbote gilt es vielmehr, das flexible Instrument der Verkehrsbeeinflussungsanlagen noch stärker zu nutzen. Mit diesen Anlagen kann man flexibel auf Verkehrssituationen und Witterungsbedingungen reagieren, bei denen ein Tempo von 130 km/h viel zu hoch wäre. Ich stelle mir einmal vor: Nebel, Glatteisbildung, und da steht ?130 km/h“. Was ist das für eine Information an den Autofahrer?
Da muss er wissen: In dieser Situation sind 30, 40, 50 km/h genug, gilt nicht das, was dort ausgeschildert worden ist. Anders als bei einem generellen Tempolimit können wir also aktuelle Informationen liefern. Deswegen finden solche Anlagen beim Autofahrer eine sehr hohe Akzeptanz. Wir haben damit auf der A 5 westlich von Frankfurt in der Gesamtentwicklung hervorragende Erfahrungen gemacht.
Wer ein allgemeines Tempolimit fordert, muss es auch kontrollieren können. Daher müsste die Kontrolldichte durch die zuständigen Bundesländer deutlich erhöht werden.
Dann wäre schon jetzt aufgrund geltender Regelungen viel mehr möglich, insbesondere bei der Bekämpfung von extremen und hochgefährlichen Regelverstößen.
Herr Kollege Hofreiter, Sie haben hier ein Zerrbild gezeichnet. Die deutschen Autofahrer, die deutschen Bürger, sind nicht halbwilde Nörgler, Drängler, Raser und, und, und. Es sind in aller Regel verantwortungsbewusste Leute. Die Einzelnen, die diesem Bild entsprechen, müssen wir herausfiltern und über entsprechende Bußgelder, Punkte oder Fahrverbote bewirken, dass sie den Führerschein endgültig verlieren. Denn die haben nicht das Verantwortungsbewusstsein, das wir von Autofahrern verlangen. Da sind wir uns hier alle einig.
Deswegen spielen Sie diese extremen Verhaltensweisen bitte nicht gegen das allgemeine Thema aus! Das ist ein absolutes Zerrbild, das wir nicht im Raum stehen lassen dürfen.
Es gibt leider Bundesländer, in denen eine ganz andere Tendenz vorherrscht: Dort wird die Kontrolldichte eher verringert, als dass sie erhöht wird, was ich sehr bedauere. Wer aber immer schärfere Regelungen einführt und immer weniger kontrolliert, macht aus dem Rechtsstaat einen Popanz nach dem Motto: Es steht zwar auf dem Papier; aber man braucht sich nicht darum zu kümmern, es ändert sich sowieso nichts.
Lassen Sie mich abschließend kurz feststellen: Ein Tempolimit würde die Interessen der Hersteller und der Kunden an immer besserer Sicherheits- und Fahrzeugtechnologie eher reduzieren. Eine Antriebsfeder für den technischen Fortschritt sollte aber sein, dass unsere Fahrzeuge im Zweifel auch für High Speed ausgerüstet sind, weil dies auch in anderen Geschwindigkeitslagen eindeutig positive Wirkungen hat.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Fischer, Sie müssen bitte Ihren letzten Satz formulieren.
Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU):
Wir glauben, dass wir mit einer verbesserten Fahrzeugtechnik, der Umstellung der Kfz-Steuer von der Hubraumbesteuerung auf die emissionsbezogene Besteuerung und dem Eintreten für Antriebsmotoren, die den Kohlendioxidausstoß verringern - Stichworte: Erdgas, Biokraftstoffe, Wasserstofftechnologie -, die richtige Richtung einschlagen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Herr Kollege Fischer, dazu haben wir in den Beratungen noch Zeit. Ich bitte Sie wirklich, zum Schluss zu kommen.
Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU):
Damit haben wir eine bessere Antwort auf die bestehenden Probleme als Sie mit einem starren Tempolimit.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Heidi Wright das Wort.
Heidi Wright (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Freude über den Parteitagsbeschluss der SPD zum Tempolimit hält immer noch an, ebenso meine Freude über die Unterstützung meiner Fraktion.
Ich danke allen, die mithelfen, dass wir an diesem wichtigen Thema dranbleiben und gemeinsam zu guten und richtigen Ergebnissen kommen werden.
Es ist nicht so, dass die Weisheit eines SPD-Parteitages sich flugs auf alle oder gar auf unseren Koalitionspartner, die Union, überträgt. Aber es ist klar: Dieser Beschluss hat Auswirkungen auf die SPD-Fraktion.
Bei der Union strahlt mir die langjährige Erkenntnis des Kollegen Josef Göppel entgegen.
Ich weiß: Dies hat Strahlwirkung in Ihre Fraktion. Allerdings sind die Abwehrschirme von oben noch festgezurrt und festgespannt. Aber Sie werden sich noch wundern: Mit der Unterstützung der Bevölkerung werden wir dieses Thema voranbringen.
Wir werden Mehrheiten dafür bekommen. Sie werden sich noch wundern, wie viel Drive das Thema eines Tempolimits von 130 Stundenkilometern hat.
Ich muss mich leider auf das Thema Verkehrssicherheit beschränken;
denn viele andere Punkte hat mein Kollege Gerd Bollmann schon angesprochen. Ich will den Vorspann, also den Hinweis auf unsere Bemühungen um gute Ansätze in der Verkehrssicherheit, weglassen und gleich zu den harten Fakten kommen. Harte Fakten sind: mehr als 5 000 Tote - Tendenz steigend; 75 000 Schwerverletzte.
Sie erleiden Schädelhirnverletzungen, Querschnittslähmungen und Verluste von Gliedmaßen. Diese Verletzungen führen zu dauerhaften Behinderungen. 12 Prozent dieser Verletzungen geschehen auf Autobahnen. Das sind horrende und besorgniserregende Zahlen.
Der Verkehrsminister schlägt richtigerweise Spritspartrainings vor. Er propagiert Antiaggressionsaktionen. Dazu werden an den Autobahnen große Plakate aufgehängt. Darauf heißt es: ?Gelassen läuft’s“ oder: Rasen ist wenig sexy.
Das besagt alles; diese Aktionen sind richtig. Was sollen sie bewirken? Runter mit dem Tempo!
Es hilft also kein Drumherumreden. Wir sind zu schnell auf deutschen Straßen, und zwar auf allen Straßen.
Deshalb überschreibe ich meine Vorschläge in diesem Zusammenhang mit ?Entschleunigung“. Es geht nicht nur um ein Tempo von 130 Stundenkilometern.
Wir sind zu schnell, und bei der Verkehrssicherheit - das ist unsere Aufgabe - bleiben wir unter unseren Möglichkeiten. Das ist tödlich. Wir brauchen ein Tempolimit.
Wir erkennen, dass wir in der Verkehrssicherheitspolitik wieder mehr bei den Menschen ansetzen müssen. Somit heißt es im Vorspann des neuen Bußgeldkatalogs: 95 Prozent der Unfälle sind auf das Fehlverhalten des Fahrers zurückzuführen. - Das bedeutet, dass wir die Technik nicht wie in der Vergangenheit, in der wir uns bei der Verbesserung der Verkehrssicherheit hauptsächlich auf die Technik verlassen haben, über alles stellen dürfen. Technik ist das Zauberwort. Wenn es dann gar noch als ?intelligente“ Technik garniert wird - toll! Liebe Kollegen, Technik ist nicht alles.
Ich denke, wir müssen wieder mehr die Menschen, auch die Defizite der Menschen in den Mittelpunkt stellen. Beim Dreiklang der Verkehrssicherheit - Mensch, Maschine und Infrastruktur - darf der Mensch nicht vernachlässigt, aber auch nicht überfordert werden. Der Mensch macht Fehler. Bei höheren Geschwindigkeiten - das soll doch jemand einmal widerlegen! - sind die Fehler fataler, oft tödlich. Das ist eine Tatsache.
Leider fehlen uns in Deutschland - darauf haben viele Kollegen hingewiesen - aktuelle Grundlagen. Ich habe heute Morgen mit dem Präsidenten des UBA gesprochen. Präsident Troge ist beauftragt - das wird noch konkretisiert -, neue Daten schnell zu ermitteln, sie wissenschaftlich aufzuarbeiten und uns zur weiteren Entscheidung vorzulegen. Der Präsident sagte mir, seine Erwartungen bei den Emissionseinsparungen gingen weit über 2,5 bis 3 Millionen Tonnen hinaus.
Aber wir haben bereits Grundlagen. Es gibt die Studie aus Brandenburg - gestern vorgelegt und heute schon viel zitiert. Weiterhin haben wir Grundlagen in Form der zweijährigen Unfallverhütungsberichte. Wir haben internationale Grundlagen des ETSC, des European Transport Safety Council. All diese Grundlagen lassen jetzt schon Schlüsse zu. Diese Schlüsse drängen sich regelrecht auf.
Unangepasste Geschwindigkeit ist die Hauptunfallursache. Die Risikogruppe junge Männer - das sind 8 Prozent - verursacht ein Drittel aller Unfälle. Aber gerade diese Gruppe ist gegen ein Tempolimit. Da liegt es doch in meiner, in unserer Verantwortung, dass wir die Sicherheit auch dieser jungen Menschen gewährleisten. - Ich habe noch so vieles aufgeschrieben und hätte vieles zu sagen, aber die Zeit drängt mich.
Zum Schuss: Das Tempolimit wird kommen, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen.
Viele sagen abschätzig: Das ist Symbolpolitik. Ja, das ist ein gutes Symbol für unsere Verantwortung, und das ist ein Signal für Veränderung hin zu mehr Verkehrssicherheit und zu mehr Klimaschutz.
Sprüche wie ?Freie Fahrt für freie Bürger“ oder gar ?Des Deutschen liebstes Kind ist das Auto“ sind absolut out und bewirken ein peinliches Image für Deutschland.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Wright, der Kollege Koppelin möchte Ihnen mit einer Zwischenfrage die Chance geben, noch etwas zu sagen. Lassen Sie sie zu?
Heidi Wright (SPD):
Ja, gut, wunderbar!
Jürgen Koppelin (FDP):
Frau Kollegin, nachdem ich Ihnen aufmerksam zugehört habe, darf ich einmal fragen, warum Sie in der Zeit, als Sie den Bundeskanzler gestellt haben - da war es Herr Schröder -, nicht das gemacht haben, was Sie uns jetzt hier als Weisheit verkünden.
Heidi Wright (SPD):
Das ist ganz wichtig, und ich nehme das auf meine ganz persönliche Kappe. Wir haben damals keinen solchen Antrag gestellt. Es gab im Jahr 2000 einen Antrag - Berichterstatter war damals Albert Schmidt von den Grünen -, den wir damals allerdings abgelehnt haben. Wir hatten argumentiert, wir hätten Sympathie für den Antrag, aber die Bevölkerung würde nicht in Gänze dahinterstehen. Die Zeiten haben sich geändert, und wir haben uns geändert. Wir werden ein Tempolimit bekommen.
Glück auf, Kollegen!
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion.
Uwe Beckmeyer (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben eine engagierte, manchmal ideologische, manchmal auch emotionale Debatte erlebt. Aber ich frage den Deutschen Bundestag: Was wollen Sie denn tun? Es ist keine Mehrheit im Deutschen Bundestag zu erwarten.
- Herr Kuhn, Ihre Initiative hat doch mit Ihrem Parteitag zu tun - das sage ich einmal ganz nüchtern -; das ist nicht nur Eigennutz Ihrer Partei. Das ist doch wahrscheinlich ganz persönlich motiviert. - Aber sei’s drum! Wir haben lange nicht mehr 75 Minuten lang über dieses Thema diskutiert. Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir es aber genossen.
Was tut der Deutsche Bundestag jetzt? Das ist der entscheidende Punkt. Sind wir Manns oder Frau genug, haben wir die Kraft, etwas auf den Weg zu bringen, das sowohl der Verkehrssicherheit dient als auch zu einer Verminderung des CO2-Ausstoßes auf deutschen Autobahnen und deutschen Straßen generell führt? An dieser Stelle möchte ich einmal sagen: Jemand, der auf einer Landstraße oder Bundesstraße zu Tode kam, ist genauso ein Verkehrstoter wie jemand, der auf einer Autobahn zu Tode kam. Manchmal gewinnt man nämlich den Eindruck, die Autobahn sei eine besondere Art von Straße und Unfälle dort seien besondere Unfälle. Ich möchte deutlich in Erinnerung rufen, dass drei Viertel der Unfälle auf Außerortsstraßen nicht auf Bundesautobahnen stattfinden.
Was tun wir? Die Koalition bereitet einen Antrag vor - das kündige ich hier an -, der den Gesichtspunkten der CO2-Reduzierung, aber auch der Reduzierung der Zahl der Unfallschäden und Unfalltoten auf deutschen Straßen gerecht werden soll. Wir wollen eine Reduzierung der Zahl der Unfalltoten und eine Reduzierung der CO2-Emissionen. Das ist eine klare Orientierung.
In der heutigen Debatte haben Sie mitbekommen, dass in der Koalition hinsichtlich eines generellen Tempolimits von 130 km/h auf Autobahnen keine Einigkeit herrscht. Gleichwohl finde ich es angemessen, dass dieses Ziel in der Koalition verfolgt wird.
Wir haben uns vorgenommen, beim Fahrverhalten der Menschen anzusetzen. In absehbarer Zeit wird ein entsprechender Antrag in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages beraten. Wer mit Bleifuß fährt, trägt stark zu dem unangemessen hohen CO2-Ausstoß bei. Wenn wir es erreichen, dass die Menschen in Deutschland ihr Fahrverhalten ändern und selbstbestimmt ein kraftstoffsparendes Fahrverhalten an den Tag legen, kann die CO2-Emission deutlich reduziert werden, was notwendig ist. Wir müssen bei der Schulung von Fahrern ansetzen.
Fahrerinnen und Fahrer von Fahrzeugen mit 2,8 bis 3,5 Tonnen legen ein unangemessenes Fahrverhalten an den Tag. Das ist eine kleine schnelle Einheit, die auf deutschen Autobahnen eine Art Flugersatzverkehr betreibt. Das betrifft auch die Umzugsfahrzeuge auf deutschen Autobahnen. Dies muss uns nachdenklich stimmen und zu der Überlegung bringen, ob wir nicht bei diesen Fahrzeugtypen ansetzen können, um eine Reduzierung der Unfallträchtigkeit zu erreichen.
Wir müssen uns verstärkt um den Einsatz von Fahrassistenztechniken in diesen Fahrzeugen kümmern. Das ist möglich. Die Industrie bietet entsprechende Techniken an: Fahrzeuge mit Bremsverstärkern, die verhindern, dass das Fahrzeug aus der Spur kommt, und Fahrzeuge, bei denen nicht nur Haltepunkte für die Sicherung der Ladung vorgesehen sind, sondern die echte Ladesicherungssysteme an Bord haben. Ich denke, das sind wichtige Punkte. Wir werden Ihnen das in einem Antrag präsentieren.
Wir sind dafür, dass für Kraftfahrzeuge dieser Gewichtsklasse in der Bundesrepublik Deutschland generell ein Tempolimit gilt.
Auch dazu werden wir Ihnen einen Antrag vorlegen.
Bezogen auf die Verkehrssicherheit müssen wir uns angesichts des tatsächlichen Geschehens auf Außerortsstraßen überlegen, ob es nicht sinnvoll ist, mit Unterstützung der Länder gerade auf diesen Straßen die erlaubte Geschwindigkeit stark zu reduzieren.
Es kann nicht sein, dass drei Viertel aller tödlichen Verkehrsunfälle durch unangemessenes Fahrverhalten, unangemessene Geschwindigkeit auf baumbestandenen Alleen - ob es nun eine Landstraße oder eine Bundesstraße ist - verursacht werden.
Zum Schluss ein Appell des Bundestages an die Länder: Das alles ist nichts wert, wenn nicht mehr Verkehrsüberwachung stattfindet. Wir brauchen eine stärkere Verkehrsüberwachung in der Bundesrepublik Deutschland, um der Tendenz zum Rasen bei Einzelnen entgegenwirken zu können. Ich glaube, das ist wichtig.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6894 mit dem Titel ?Tempolimit 130 km/h auf Autobahnen sofort einführen“. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht namentliche Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Überweisung, und zwar federführend an den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und mitberatend an den Innenausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, den Ausschuss für Tourismus sowie an den Haushaltsausschuss.
Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Gegenprobe! - Gibt es Enthaltungen? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksache 16/6894 nicht ab.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/6932 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 124. Sitzung - wird am
Montag, den 12. November 2007,
an dieser Stelle veröffentlicht.]