Eine etwas bizarr anmutende Situation: Teufel selbst führt die Amtsgeschäfte bis zu seinem Rücktritt im April, doch alle Augen richten sich fortan auf den Fraktionsvorsitzenden als die nach dem Triumph beim unionsinternen Basisreferendum unumstrittene neue Führungsfigur. Die Opposition schießt sich bereits auf dieses "Machtvakuum" ein.
Selten stand die Stuttgarter Landespolitik so im bundesweiten Scheinwerferlicht wie beim Kampf zwischen Oettinger und Kultusministerin Annette Schavan um die Nachfolge des seit 1991 regierenden Erwin Teufel. Die Akteure dieses Schauspiels boten auch ein Bühnenstück, das sich gewaschen hatte. Zuerst machten die Frondeure des Dauerkronprinzen Oettinger, der endlich ans Ruder wollte, den populären Ministerpräsidenten monatelang in einem Grabenkrieg mürbe. Die Ohrfeige, die auf dem Höhepunkt dieser Schlammschlacht Staatsminister und Teufel-Freund Christoph Palmer dem CDU-Bundestagsabgeordneten Joachim Pfeiffer verpasste, wird in die bundesrepublikanische Geschichte eingehen. Und die Rededuelle der Kontrahenten Oettinger und Schavan auf sechs Regionalkonferenzen legten erneut tiefe Gräben in der Partei offen, zumal sich die Ministerin unschönen Angriffen wegen ihres Privatlebens ausgesetzt sah.
Immerhin mobilisierte der Clinch um die Macht die ansonsten eher träge Südwest-Union auf unvermutete Weise. Beachtliche 56.000 der knapp 80.000 Christdemokraten beteiligten sich an der Abstimmung, das sind rund 70 Prozent - eine Quote, die kaum noch bei Parlamentswahlen erreicht wird. Oettinger kann sich also auf ein breites basisdemokratisches Votum stützen. Ein Parteitag am 11. Dezember, der den 51-Jährigen als Ministerpräsidenten und als Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2006 formell bestimmt, wird lediglich als Bühne zu Ehren des neuen Stars dienen. Dessen Wahl im Landtag im April dürfte ebenfalls glatt über die Bühne gehen: Hätte Schavan gewonnen, wäre das große Zittern ausgebochen - weil in der CDU-Fraktion, einer Bastion Oettingers, Heckenschützen befürchtet worden wären.
Vorerst wird es in der Union darum gehen, die aufgewühlte Partei wieder zu befrieden. Oettinger sagte denn auch nach seinem Erfolg, er wolle die Gräben überwinden. Schavan rief ebenfalls dazu auf, wieder zu einer "Atmosphäre des Miteinanders zu finden". Einfach dürfte dies nicht werden. Selbst bei der Verkündung des Resultats der Mitgliederbefragung dokumentierte Teufel erneut, wie gespannt das Klima ist und dass er Oettinger nicht als Nachfolger haben wollte: Den Sieger beglückwünschte er knapp, der Ministerin sprach er hingegen "großen Dank für ihren Einsatz für das Land und die CDU" aus.
Schavan hat zwar verloren, aber mit knapp 40 Prozent ein achtbares Ergebnis erzielt, das ihren weiteren Werdegang nicht beschädigt. So wird der 49-Jährigen ein Wechsel nach Berlin im Zuge des Bundestagswahlkampfs 2006 nicht verbaut, worüber immer wieder gemunkelt wird. Zwar betont die Politikerin, auch unter Oettinger als Ministerin arbeiten zu wollen. Nach dem jetzigen Clinch ist es indes kaum vorstellbar, dass sie auf Dauer einfach wieder ins Glied zurücktritt.
Da Erwin Teufel noch bis April in der Villa Reitzenstein logiert, sind Spekulationen über Oettingers künftige Ministerriege verfrüht. Die Kritik der Opposition an dem seltsamen Interregnum der nächsten Monate ist keineswegs aus der Luft gegriffen: Wenn der eine noch im Amt ist, die Macht aber faktisch schon auf den anderen übergegangen ist, dann sind Reibungsverluste unvermeidbar. Die SPD-Vorsitzende Ute Vogt nutzt diese verquere Situation für Attacken auf das "Machtvakuum": Baden-Württemberg habe jetzt einen Regierungschef, "von dem jeder weiß, dass er nichts zu sagen hat". Oettinger solle doch gleich darangehen, seine Versprechungen etwa über einen Ausbau von Ganztagsschulen umzusetzen, stichelt Vogt.
Der Stil in Stuttgart dürfte sich zukünftig schon etwas ändern. Beherrschte bislang der katholisch-konservative "Landespater" Teufel aus der Provinz die Szene, pflegt der großstädtisch geprägte Schnellredner Oettinger einen anderen Habitus: Der Protestant besucht gern Rockkonzerte und bleibt bei Feten schon mal bis zum Schluss. Politisch wird sich aber wohl kaum etwas Neues tun: Oettinger, der keinerlei bundespolitische Ambitionen erkennen lässt, will die Linie Teufels fortsetzen. So plädiert der künftige Regent wie der Altvordere für die Atomkraftnutzung oder verficht einen strikten Law-and-order-Kurs, weswegen etwa die Polizei von Einsparungen im verschuldeten Etat ausgenommen werden soll. Zudem betont Oettinger: "Die Wirtschaft muss im Vordergrund der Landespolitik stehen" - im Schwabenland ist ein solches Bekenntnis einfach unabdingbar.