Willkischken, Vilkyskiai, Litauen. Hier befindet sich das Arkadien des Dichters Johannes Bobrowski, der Ort seiner Kindheit. Später kehrt er in seinen Gedichten hierher zurück: "Da hab ich/ den Pirol geliebt -/ das Glockenklingen, droben/ aufscholls, niedersanks/ durch das Laubgehäus,/ wenn wir hockten am Waldrand,/ auf einen Grashalm reihten/ rote Beeren; mit seinem/ Wägelchen zog der graue/ Jude vorbei" ("Sarmatische Zeit" 1961). Ein gestreckter Hügel, Gehöfte, Holz und Fachwerk, Gärten, im Hangauslauf Wiesen, Büsche, Moor, flaches Land und weiter Himmel.
Ein paar Häuser scheinen sich seit seinen Schilderungen in den "Litauischen Clavieren" kaum verändert zu haben. Der zweistöckige rote Ziegelbau des Apothekers, das Gehöft der Großeltern Fröhlich, das Gasthaus von Wythe. Etwas weiter das Pfarrhaus und die Kirche, die wieder eine ist, und die Schule. Der Verputz ist anders, auch die Oberleitungen, die Kleider und die Autos.
Auf Willkischken folgen Polompen und Lompönen. In der Nähe befindet sich der Berg Rombinus, ein historischer Sammelplatz. Darunter, auf den Stromwiesen des Nemunas, der Memel, ruft in den "Litauischen Clavieren" Anna Regina am Ende den der Vergangenheit nachsinnenden Lehrer ins Hier und Jetzt: "Potschka, sagt das Mädchen. Potschka, komm wieder. Das von früher, das geht nicht mehr."
Auf den Spuren von Ernst Wichert, Hermann Sudermann, Eva Simonaityte und Johannes Bobrowski führt Dietmar Albrecht, Leiter der Academia Balticum, den Leser auf Wege nach Sarmatien. Mit Freude am Detail skizziert er die Startetappe einer Landschaft, die Bobrowski einmal definiert hat: "Unter Sarmatien verstehe ich nach Ptolemäus das Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Ostsee. Zwischen der Weichsel und der Linie Don - Mittlere Wolga. Ein Gebiet, aus dem ich stamme und in dem ich herumgekommen bin."
Tatsächlich gab es diese Sarmaten, ein freiheitsliebendes Reitervolk, das nordöstlich des Imperium Romanum siedelte. Die Römer bezeichneten die Region zwischen Weichsel, Don, Ostsee und Schwarzem Meer als "Sarmatia". Geblieben ist nur die Bezeichnung der Landschaft, im 16. Jahrhundert erstmals systematisch vom polnischen Gelehrten Miechowita in seinem "Tractatus de duabus Sarmatiis Asiana et Europiana et de contentis in eis" beschrieben. Er unterschied zwischen einem europäischen und einem asiatischen Sarmatien - nichts anderes als die so nachhaltige und historische Trennung in West und Ost.
Der sarmatische Mythos wurde von der polnisch-litauischen Rzeczpospolita, der Adelsrepublik, aufgegriffen. Das "Sarmatentum" wurde, so der ukrainische Historiker Jaroslaw Hrytsak, "mit Ideologie, Kultur und Lebensstil des polyethnischen (polnisch-ruthenisch-litauisch-jüdischen) altpolnischen Adels" in Verbindung gebracht. Es besaß einen orientalischen Charakter, wodurch sich der Adel nicht nur vom Westen unterscheiden, sondern darin auch seine Überlegenheit zum Ausdruck bringen wollte. Denn (West-)Europa war im 17. Jahrhundert von vernichtenden Kriegen gezeichnet, während mit dem Osmanischen Reich im Südosten eine (noch) überlegene Kultur existierte ebenso wie die Erinnerung an frühere große Reiche im Osten. Zudem war die Schlachta, der polnische Landadel (etwa ein Zehntel der Bevölkerung) unter den Bauern und Handwerkern verankert. Bei den "rechtgläubigen" polyethnischen Bauern Litauens, Ostpolens und Galiziens war nicht die Nationalität, sondern die Kirche wichtig.
Die Schlachta war Schutzmacht der katholischen Kirche. Sie wurde in ihrer historischen Mission durch die Rettung Wiens im Jahre 1683, als der polnische König Jan Sobieski mit seinem Einsatzheer die osmanische Belagerung sprengte, enorm bestärkt: Polen, "ante muralis christianitatis", die auserwählte Nation, von Gott beauftragt, das christliche Abendland zu schützen.
Polen schloss über lange Zeit Litauer, Belorussen und Ruthenen (der alte Name für Ukrainer) ein. Doch verschloss sich die Adelsrepublik, auf ihren Charakter als Bollwerk fixiert, gegenüber vielen Entwicklungen im Westen. Den Philosophen der Aufklärung in Mittel- und Westeuropa erschien letztlich ganz Osteuropa, und damit auch das polnische Sarmatentum, als Hort der Rückständigkeit.
Dazu kommt Polens Handikap, gleich von drei feindlichen Großmächten umgeben zu sein, an deren Aufgeklärtheit einige Zweifel anzubringen sind. Die Revolution in Paris flaut ab, während die europäische Reaktion - der Zar, Habsburg und der Preußenkönig - Polen filetiert. Aus dem Sarmatentum als Symbol der Goldenen Freiheit wird eine Chiffre für zivilisatorische Rückständigkeit.
Julia Schneider wurde 1860 in Mykolajiw, einer galizischen Provinzstadt, als Tochter eines österreichischen Beamten geboren; die Mutter stand ruthenischen Kreisen nahe. Sie habe, so Hrytsak, eine Art galizische Madame de Staël werden wollen. Im kakanischen Lemberg, heute Lwiw oder Lwow, besuchte sie das Lehrerseminar, nahm den Namen Uljana Krawtschenko an und wurde, beeinflusst von Iwan Franko, die erste ukrainische Dichterin Galiziens.
Sie heiratete einen polnischen Lehrer, blieb aber ukrainische Patriotin; im polnisch-ukrainischen Krieg 1918-19 kämpfte ihr Sohn in der polnischen Armee, die Tochter hingegen war Krankenschwester bei einer ukrainischen Einheit. Sehr viel später dann, in der Ukrainischen SSR verwendete man sich für sie, die inzwischen in bitterer Armut lebte, für eine bessere Rente, und 1946 bezeugte der "Freundesverein der polnischen Soldaten", dass sich die greise Dichterin während der deutschen Besatzung Verdienste erworben hat.
Krawtschenko verbrachte ihr ganzes Leben in Galizien. Das ist ein multiethnisches Gebiet nördlich des Karpatenbogens mit einem westlichen und einem östlichen Teil, heute auf Polen und die Ukraine aufgeteilt. In seinen Städten - Krakow (Krakau), Przemysl, Lwiw (Lwow, Lemberg), Drohobycz und im benachbarten Czerniwzy (Czernowitz) in der Bukowina - ist viel Ungeheuerliches geschehen. Dennoch haben weder europäische noch asiatische Kriegsmaschinerien und Despotien die feinen Reliefs der Jahrhunderte, die alten Kulturschichtungen gänzlich ausradieren können. Mykolajiw, Lwiw und Przemysl liegen in einem Radius von höchstens 200 Kilometern. Was sich in Krawtschenkos langem Leben häufig änderte, waren die Reiche, Republiken, Imperien und Grenzen.
In Krawtschenkos Biografie hat sich die Geschichte dieser Region mit all ihren Rückständigkeiten und plötzlichen Übergängen tief eingeschrieben. Erstaunlich ist, dass heute eine junge Generation an Historikern und Schriftstellern antritt und diese Geschichten (wieder) ausgräbt: Geschichten, die im Zuge der Mitteleuropa-Debatte der 1970er- und 80er-Jahre gelüftet wurden, als es der Opposition in den sowjetischen Satellitenstaaten darum ging, die Völker Westeuropas daran zu erinnern, dass hier ein "Kontinent gekidnappt" wurde (Milan Kundera), dass hier im "Dazwischen" zwischen West und Ost ein Raum existiert, der sowohl sein Eigenes besitzt als auch dieses Eigene über viele Jahrhunderte in kultureller und sozialer Interaktion mit Europa herausgebildet hat.
Inzwischen ist der "Kidnapper", das Sowjetsystem, implodiert, und Ostmitteleuropa im Mai 2005 in die Europäische Union aufgenommen worden. Die Außengrenzen des Baltikums, Polens, der Slowakei und von Ungarn bilden die neue europäische Schengengrenze gegen den Osten und Südosten. Aber Europa reicht weiter, über diese Grenze hinaus, wie Krawtschenkos Geschichte deutlich macht. Oder auch die des ukrainischen Nationaldichters Iwan Franko aus dem Drohobytscher Kreis, aus dem der "polnische Kafka" - so hat ihn Witold Gombrowicz einmal genannt - Bruno Schulz stammt.
Junge Intellektuelle wie der Lemberger Publizist Jurko Prochasko gehen den einzelnen Zivilisationsschichten nach, orten ihre Charakteristika: Neobarock, Wiener Klassizismus, Kaffeelöfferl, hartnäckig tradierte Redensarten, habsburgisch-kakanische Restspuren; mächtig dann die darauf gepappte sowjetische Schicht. Weiter nördlich finden sich die zaristischen und preußischen Elemente in der Architektur, in Banalitäten und Straßennamen. Dazu gehört aber auch "der Raum ULB", so der im weißrussischen Minsk geborene und nach Paris emigrierte Jerzy Giedroyc vor 50 Jahren, der legendäre Herausgeber der Zeitschrift "Kultura": die Ukraine, Litauen, Belarus, heute um Polen erweitert - zum "Raum PULB". Auch von diesem "Imperium", so Prochasko, blieb mehr, als man denkt. Hier hätte sich ein polyethnischer Zivilisationsprozess abspielen können, doch wurde er jäh abgewürgt durch die Zerschlagung Polens.
So abschätzig manches westliche Urteil über den Osten auch ausfallen mag, in diesem sarmatischen Erinnerungsraum sind bedeutende Quellen der Kultur und Spezifika der politischen Geschichte Europas zu finden. Allerdings gibt es auch nirgendwo in Europa einen Raum, der nachhaltiger von europäischen Kriegen durchpflügt worden ist. Das erschwert das Erinnern. Vielleicht vergisst man solche Regionen der millionenfachen Massaker und Vernichtungslager lieber, in deren Ausläufern Geschichten immer noch nicht begraben sind wie jene, die der belorussisch-polnische Publizist Jan Maksymiuk erzählt.
Von seinem Vater habe er erfahren, dass sich im Winter 1941/42 auf seinem Hof bei Klejniki (Belorus) für ein paar Wochen ein Jude namens Szloma versteckt hatte. Einmal, schon angetrunken, berichtete dieser, habe er "eigenhändig seinen etwa zehnjährigen Sohn in einem Eisloch ertränkt, weil der Junge in den Nächten der Kälte laut weinte und dadurch den Ort ihres Versteckes hätte verraten können".
Man blende diesen Erdenwinkel aus, weil hier die Vergangenheit noch weit näher bei der Gegenwart liege als bei uns, wie es der litauische Autor Sigitas Parulskis in seinem Reisebericht veranschaulicht. Als er etwa 1982 erstmals über die schlechten Straßen des Belarus fuhr, erklärte die Reiseführerin, das Land habe sich vom Krieg noch nicht erholt; auf die Frage, was die roten Sterne auf jedem zweiten Haus bedeuten, erwiderte sie, das seien die Häuser, in die nach dem Krieg jemand nicht zurückgekehrt sei. Aber auch mit den Russen - ob Zar oder Sowjets - verbine man eine schwierige, oft blutige Geschichte, wie es überhaupt für Belorussen ein historisches Problem sei, eine Wahl zu treffen.
Der neue Zar im Kreml, Wladimir Putin, versucht weiterhin, für "Halb-Asien" (Karl Emil Franzos) die einst eroberten Gebiete Europas unter Kontrolle zu halten. Mit ihrer "orangenen Revolution" hat sich die Ukraine aus seinem Machtbereich herausgelöst - und erntete damit in Moskau keine Begeisterung.
Die verstärkte Beschäftigung der jüngeren Intellektuellen mit dem sarmatischen Mythos verkörpert im wesentlichen keine chauvinistische Rückbesinnung auf eine zu spät gekommene Nation. Sie ist weit eher der Versuch eigener Geschichtsdeutung, das Freilegen verschütteter Traditionen, das Sich-Erinnern an die polyethnischen Möglichkeiten einer Region, in der fremde Imperien gerade gegen diese Möglichkeit, die Jahrhunderte lang gelebt wurde, gewütet haben.
Dieses Erinnern vollzieht sich auffällig in einem europäischen Kontext - weit über kulturelle und soziale Aspekte hinaus. "Sarmatien" ist eine Chiffre für die Idee einer europäischen Union der Vielfalt und Differenz, nicht nur eine schöne Erzählung, sondern ein Appell an den Westen zu politischem Weitblick.
Literaturhinweise:
Martin Pollak (Hrsg.) Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2006; 320 S., 28,- Euro
Andrzej Stasiuk: Unterwegs nach Babadag. Erzählungen. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2005; 304 S., 22,80 Euro
Dietmar Albrecht: Wege nach Sarmatien. Zehn Kapitel Preußenland. Orte, Texte, Zeichen. Band 5 der Reihe "Colloquia Baltica". Martin Meidenbauer Verlag, München 2005; 264 S., 19,90 Euro
Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Johannes Bobrowski. edition text & kritik, Nr. 165. München 2005; S., 14,50 Euro
Balduin Winter, aus Österreich stammend, ist Schriftsteller und Journalist. Er beschäftigt sich seit Jahren mit den Kulturen unserer osteuropäischen Nachbarn. Derzeit ist er Redaktionsmitglied der in Frankfurt/M. erscheinenden Zeitschrift "Kommune".