Als im Herbst 1989 die Spaltung Europas unerwartet endete, gab es Jubel weit und breit. Zu denen, die die neue Situation mit gemischten Gefühlen sahen, gehörten die Verfasser von Spionageromanen, die seit Jahrzehnten an der literarischen Vermarktung des Kalten Krieges gut, wenn nicht glänzend verdient hatten. Mit dem Ende der weltweiten Konfrontation war John le Carré und seinen schreibenden Kollegen ihr ergiebigstes Thema abhanden gekommen - George Smiley und seinen Kollegen Geheimdienstlern schien die Arbeitslosigkeit zu drohen.
Inzwischen hat sich der Verdacht bestätigt, dass die Spionage ewig ist, wenn auch der Spionageroman wenig mehr als 100 Jahre alt ist. Beides hat Hans-Peter Schwarz kenntnisreich und in souveräner Behandlung des Materials dargestellt - der ,verschiedenen Materialien', sollte man richtiger sagen.
Da ist einmal der literarische Fundus, von Erskine Childers' "Das Rätsel der Sandbank" aus dem Jahre 1903, als Großbritannien noch Weltmacht Nr. 1 war, über die wichtigsten Großmeister des Genres (je eigene Kapitel sind John Buchan, Eric Ambler, Graham Greene, Helen MacInnes, Ian Fleming, John le Carré, Paul E. Erdman, Colin Forbes, John Forsyth, Clive Cusslers und Robert Ludlum gewidmet) bis zu Tom Clancy, mit dessen Techno-Thrillern wir im imperialen Amerika des George W. Bush angekommen sind. Zum anderen ist da der zeitgeschichtliche Stoff, vor allem die beiden Weltkriege, der Ost-West-Konflikt, Krisengebiete in Nahost und anderswo, der Aufstieg der amerikanischen Weltmacht und der Terrorismus unserer Tage, durch den Schwarz uns führt.
Es ist ein anspruchsvolles Unterfangen, nicht nur wegen der Fülle des Materials, sondern vor allem auch methodisch. Schwarz, emeritierter Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Bonn, der sich mit zeitgeschichtlichen Arbeiten einen Namen gemacht hat, stellt den Begriff "Polit-Thriller" in den Mittelpunkt. Dieser konzentriert sich auf "die Weiße-Kragen-Kriminalität in den Spitzenetagen der Gesellschaft".
Dabei geht um Spionage, aber auch andere Stoffe kommen hinzu: politische Intrigen, Landesverrat, Hochverrat, Putschversuche und die Gefahr der Auslösung von Weltkriegen, pathologische Machtbesessenheit, sexuelle Obsessionen, kaltblütiger Massenterror. Auch die Verkommenheit der Nachrichtendienste und die Einsamkeit des Spions werden thematisiert.
Und doch würde das alles noch nicht reichen, wenn wir, die Leser, hinter diesen fiktiven Schrecken nicht das wieder erkennen würden, was uns die Medien täglich über die realen Grauen unserer Welt, über kalte und heiße Kriege, über ethnisch motivierten Völkermord und religiös bedingte Schlächtereien und über Terrorismus berichten. "Das tiefere Bewegungsgesetz des Genres ist die Zeitgeschichte selbst", versichert uns der Zeitgeschichtler. Und noch mehr hat der Polit-Thriller zu bieten. Er spiegelt die politischen Ideen, Ideologien und Mentalitäten des 20. Jahrhundert wider. Es ist erklärtes Ziel der Studie, in diesem Spiegel - "Schatzkammern für den Sozialhistoriker" - zu lesen.
Schließlich hat Schwarz auch die Biografien der Autoren im Blick. Viele von ihnen, gerade die bedeutendsten, wollten auch eine eigene politisch-moralische Botschaft transportieren. So stuft Schwarz die Autoren Graham Greene, den frühen Eric Ambler, John le Carré und Robert Ludlum als linke Autoren ein, während er John Buchan, Ian Fleming, Colin Forbes, Frederick Forsyth und Tom Clancy in konservativen Positionen sieht.
Alle zwölf Autoren, denen in der locker chronologisch ablaufenden Darstellung ein eigenes Kapitel eingeräumt wird, sind Briten oder Amerikaner. Schwarz' Begründung dafür befriedigt allerdings nicht ganz. Wenn er festlegt, dass von Interesse für seine Studie nur die Meister des Genres sein konnten, die seit Jahren die Spitze der Bestsellerlisten halten und in viele Sprachen übersetzt sind, so ist dies sein Recht, wirkt aber eher äußerlich. So schiebt er als weiteren Grund nach, der Polit-Thriller sei auch ein imperiales Genre, das als solches nur in Großbritannien und den Vereini-gten Staaten gedeihe. Da hätte man am Beispiel eines deutschen Spannungsromans, etwa von Peter Zeindler oder Peter Schmidt, gern eine Konkretisierung gelesen, und sei es ex negativo.
Aber auch so hat Hans-Peter Schwarz zu vielen Details wie auch in einer abschließenden "Entwicklungsgeschichte" eine Menge zu sagen, woran Literaturwissenschaftler wie Zeithistoriker künftig nicht vorbeikommen und die Liebhaber des Genres nicht vorbeigehen sollten. Dabei verfügt er - nicht von ungefähr ist er 1999 mit dem Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik ausgezeichnet worden - über eine leichtfüßige und zugleich präzise Sprache, die nur an wenigen Stellen umgangssprachliche Wendungen benutzt, die sie gar nicht nötig hat.
Als 1989 die Spaltung Europas in West und Ost plötzlich und unerwartet endete, bedeutete das keineswegs das Ende des Genres, das wir, wie wir nun wissen, am besten als "Polit-Thriller" verstehen. John le Carré hat es vorausgesehen. Er lässt George Smiley über das Ende des Kalten Krieges sagen: "Womöglich haben wir auch gar nicht gewonnen. Vielleicht haben die anderen bloß verloren. Oder vielleicht fangen unsere Schwierigkeiten erst an."
Hans-Peter Schwarz: Phantastische Wirklichkeit. Das 20. Jahrhundert im Spiegel des Polit-Thrillers. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006; 352 S., 22,90 Euro
Werner Boder, freier Journalist in Hannover, hat selbst zahlreiche Kriminal-Hörspiele verfasst.